Als gäbe es kein Corona: Alltag in Taiwans Hauptstadt Taipeh im Juni 2020.

Lernen von den Besten: Was sich ändern muss vor der nächsten Virus-Katastrophe

Wenn die Corona-Pandemie überstanden ist, muss sich die Schweiz besser für die nächste Krise rüsten. Taiwan könnte einige Ideen liefern, wie das geht.

Von Katharin Tai (Text) und Sean Marc Lee (Bilder), 16.04.2021

Im Moment ist Taiwan das vielleicht normalste Land der Welt. Clubs, Cafés, Geschäfte und Schulen sind offen, junge Menschen tanzen am Wochen­ende dicht an dicht in den Clubs der Hauptstadt Taipeh. Vor kurzem fand im Süden der Insel ein gigantisches Musik­festival statt. Man könnte glauben, in Taiwan gebe es keine Pandemie – und läge damit richtig.

Seit April 2020 verzeichnete der Inselstaat unter seinen 23 Millionen Einwohnerinnen nur 22 im Inland übertragene Covid-19-Fälle. Taiwan verhängte, anders als etwa Australien oder Neuseeland, nie einen landes­weiten Shutdown. Stattdessen herrscht seit Juni 2020 Normalität, abgesehen von den Masken im öffentlichen Verkehr. (Und eines der strengsten Quarantäne-Regimes der Welt.)

Viele Menschen in Europa stellt das vor ein Rätsel: Warum haben die das so rasch geschafft und wir nicht? Die Ursachen finden sie jeweils vage in Taiwans Insel­status, dem milden Wetter oder gar in der irgendwie besser zur Pandemie­bekämpfung geeigneten, weil hierarchischen «asiatischen Kultur». Doch keiner dieser Faktoren schützte Taiwan 2003 vor der ebenfalls durch ein Corona­virus ausgelösten Lungen­krankheit Sars. Im Gegenteil.

Taiwan hatte damals nach China und Hongkong mit 346 Fällen und 37 Toten den drittgrössten Sars-Ausbruch weltweit. Das Land kämpfte mit sehr ähnlichen Problemen wie viele europäische Länder heute. Daher ist es auch für die Schweiz interessant, zu schauen, was Taiwan seither anders macht.

1. Die Einstellung: Nie wieder

Zunächst ist wichtig zu wissen: Die Sars-Epidemie war und ist bis heute für Taiwan ein kollektives Trauma. Unter anderem wegen einer grauenvollen Episode in einem Spital: Nach einem Sars-Ausbruch im Heping-Klinikum isolierte die Stadt­regierung von Taipeh in ihrer Hilflosigkeit das ganze Kranken­haus. Patientinnen und Angestellte durften die Gebäude nicht verlassen, obwohl sie kaum Schutz­material hatten. Gesunde und erkrankte Menschen blieben ohne Unterstützung von aussen sich selbst überlassen und steckten einander an. Insgesamt infizierten sich 57 Angestellte und 97 Patienten. 31 Menschen starben, eine Person beging aus Verzweiflung Suizid.

Hinzu kamen die alltäglicheren Schwierigkeiten der Sars-Zeit, mit denen jetzt während der Covid-Pandemie auch europäische Länder zu kämpfen haben: Uneinigkeit zwischen den Regierungen auf lokaler und nationaler Ebene, «wahllose» und «unkoordinierte» Massnahmen, wie 2006 zwei Soziologen attestierten, ein Kommunikations­chaos, Menschen, die shoppen oder zur Schule gingen, statt in Quarantäne zu bleiben – von der angeblichen Regierungs­hörigkeit, die asiatischen Gesellschaften in Europa oft pauschal attestiert wird, war wenig zu sehen.

All dies sorgte für eine glasklare Haltung bei den Bürgerinnen Taiwans: So etwas wollen wir nie mehr erleben.

Die Regierung hatte ihre Bürger nicht geschützt und gleichzeitig auch noch durch die fatale Quarantäne im Heping-Krankenhaus ihrer Freiheit beraubt. «Es ist nicht die Erfahrung mit Sars an sich, sondern was die taiwanische Zivil­gesellschaft aus dieser Erfahrung gemacht hat», stellen die Soziologinnen Ming-Cheng Lo und Hsin‐Yi Hsieh rückblickend fest.

Die angebliche «asiatische Kultur» wirkt sich in Taiwan keineswegs so hilfreich aus, wie man das in Europa manchmal annimmt. Im Gegenteil: Die Herausforderung an das Pandemie­management sei gerade in Taiwan gross, halten der Politik­wissenschaftler Jonathan Schwartz und der Mediziner Muh-Yong Yen fest. Taiwanerinnen hätten einerseits sehr hohe Erwartungen an ihre Regierung, brächten ihr gleichzeitig aber viel Misstrauen entgegen – ein Misstrauen, das nach Heping nicht kleiner wurde.

Die Reaktion der Zivil­gesellschaft war heftig und eindeutig: Etwas musste sich ändern, damit eine ähnliche Katastrophe in Zukunft verhindert würde. Darüber herrschte Einigkeit – auch über die Partei­grenzen des politisch polarisierten Landes hinweg.

Taiwan hatte als junge Demokratie erst 1996, keine zehn Jahre vor Sars, seine ersten freien Präsidenten­wahlen abgehalten und war stark in ein prochinesisches und protaiwanisches Lager gespalten. Das taiwanische Parlament war für Hand­greiflichkeiten zwischen den Abgeordneten bekannt – nicht gerade ein Zeichen für eine besonders sachliche Diskussion. In der Sars-Krise waren sich aber alle einig, und es gab starken öffentlichen Druck auf die Behörden. Der Gesundheits­minister musste noch während der Epidemie abtreten. An seine Stelle trat der Epidemiologe Chen Chien-jen. Und an die Stelle anfänglicher Selbst­zufriedenheit in der Regierung Demut.

Chen erinnert sich im Gespräch mit der Republik an das Jahr 2003. «Der letzte Sars-Fall in Taiwan wurde im Mai diagnostiziert, aber wir hatten unheimlich Angst, dass das Virus im Winter wieder ausbrechen könnte», sagt der frühere Gesundheits­minister. Bereits 2004 verabschiedete das Parlament daher erste Änderungen des Infektionsschutz­gesetzes, um unter anderem eine gesetzliche Basis für die Quarantäne zu schaffen.

Wichtig war aber vor allem das Dranbleiben danach: In den folgenden Jahren kamen die Erfahrungen mit Mers, Vogel­grippe und Schweine­grippe hinzu – immer wieder wurde das taiwanische System zur Epidemie­bekämpfung erprobt und nachjustiert. Es herrschte ein grosses Bewusstsein für das reale Risiko einer nächsten Epidemie. 2013, sechs Jahre bevor Covid-19 erstmals in Wuhan auftauchte, hielt die Seuchen­bekämpfungs­behörde CDC in einem Bericht fest: «Viren, die von Tieren auf Menschen überspringen, sind schon längst eine neue Bedrohung geworden.»

Die Erfahrung mit dem Sars-Virus hat die Bevölkerung geprägt.
Die Furcht vor Viren, die von Tieren auf Menschen übertragen werden, ist gross.
Die Schutzmassnahmen werden selbstverständlich umgesetzt …
… obwohl Taiwaner gegenüber der Regierung kritisch eingestellt sind.

Diese kompromisslose Haltung, kombiniert mit einer Offenheit für neue Ideen, ermöglichte Taiwan institutionelle Innovation – wie das Zentrale Gesundheits­kommandozentrum, das laut Ex-Gesundheits­minister Chen von seinen Erfahrungen in den USA inspiriert worden war. (Mehr dazu später.)

Diese Habachtstellung hat sich Taiwan bis heute erhalten: «2003 waren wir selbstbewusst und dachten, wir hätten alles im Griff», erinnert sich Chen Chien-jen. «2020 waren wir viel vorsichtiger und haben uns nie in Sicherheit gewähnt.» Zusammen mit der Regierung blickte die Gesellschaft 2020 auf die Sars-Katastrophe zurück, und Medien warnten rundherum, dass es jetzt an Taiwans Gesellschaft sei, die Fehler der Geschichte nicht zu wiederholen.

Auch die Schweiz erkannte nach ihren Erfahrungen mit der Schweine­grippe (H1N1) ab 2009, dass sie für künftige Pandemien schlecht gerüstet wäre. Sowohl im Innen­departement EDI wie auch im Parlament zog man Bilanz zu den eigenen Schwächen – etwa bezüglich einer potenziell ungenügenden Impfstoff­versorgung, der Effizienz von internen Abläufen im Bundesamt für Gesundheit (BAG) oder Koordinations­schwierigkeiten verschiedener Ämter. Das Gefühl der Dringlichkeit allerdings griff nie ausreichend um sich, und viele Empfehlungen blieben liegen – möglicherweise weil die Erfahrungen der Schweiz mit der Schweine­grippe in der öffentlichen Wahrnehmung nicht gleich traumatisch waren, wie es Sars für Taiwan war.

2. Gesetzliche Reformen

Ein grosses Problem während der Sars-Pandemie in Taiwan beschäftigt heute auch viele europäische Staaten: Für viele Massnahmen fehlte damals schlicht die gesetzliche Grundlage. In einer Gesellschaft, die sich ihre Demokratie erst in den 1990er-Jahren hart erkämpft hatte, wurden daher schnell Vorwürfe des Autoritarismus laut.

In den gesetzlichen Reformen der folgenden Jahre versuchten die taiwanischen Regierungen daher auch auf Anregung des Verfassungs­gerichts, eine demokratisch legitimierte Grundlage für Pandemie­bekämpfung zu schaffen, die individuelle Freiheits­rechte respektiert.

Unter anderem schrieb sich Taiwan ins Gesetz, dass «Menschen­würde und Rechte» der Patientinnen zu respektieren seien und unter anderem niemand – auch nicht Personen in Quarantäne – ohne seine Einwilligung fotografiert oder gefilmt werden dürfe. Gleichzeitig schuf Taiwan die Grundlage, dass der Staat bei Bedarf unter anderem öffentliche Plätze oder private Spital­abteilungen zu Quarantäne­stationen umfunktionieren darf – mit einer ebenfalls gesetzlich festgehaltenen Pflicht der Entschädigung an Private.

Dabei nahmen einige Paragrafen auch die Schlaufe über den Verfassungs­gerichts­hof, der die Gesetz­geber beispiels­weise zur zeitlichen Begrenzung der Quarantäne und zu einer finanziellen Entschädigung für die Betroffenen verpflichtete. Das Gesetz wurde zuletzt im Juni 2020 noch einmal erneuert.

Die Schweiz hat diesen Teil der Haus­aufgaben ebenfalls gemacht, zumindest teilweise. Die wichtigste politische Folge von Sars war das Epidemien­gesetz, das der Bundesrat 2010 ins Parlament schickte. Es erlaubte dem Bundesrat unter anderem, in einer «besonderen» oder «ausser­ordentlichen» Lage schnell und koordiniert zu handeln – ohne diese Möglichkeit wäre er in den letzten zwölf Monaten noch mehr im Föderalismus­chaos versunken.

Zeit, das Gesetz zu überarbeiten oder zu verbessern, blieb allerdings keine: Es trat erst 2016 nach einer Abstimmung in Kraft – für Schweizer Verhältnisse ein durchaus zügiger Prozess.

3. Institutionen stärken

Eine der wichtigsten Erkenntnisse von 2003 war jene, dass die ordentliche Seuchen­bekämpfungs­behörde CDC – von der thematischen Aufgabe her eine mit der Abteilung übertragbare Krankheiten innerhalb des Schweizer BAG vergleichbare Einrichtung – einer handfesten Epidemie nicht gewachsen war. Taiwan organisierte darum nach Sars sowohl die CDC als auch das Gesundheits­ministerium neu und stockte sie auf.

Man stellte Fachleute für Infektions­krankheiten ein, die das nötige Fachwissen in die Institution bringen sollten. Unter anderem gibt es seitdem ein Beratungs­gremium von medizinischen Experten, die untereinander durchaus heiss diskutieren – so berichtet es zumindest der Epidemiologe und ehemalige Gesundheits­minister Chen Chien-jen.

Die Balance zwischen Expertise und Politik ist auch in Taiwan umstritten: Der aktuelle Gesundheits­minister Chen Shih-chung war Zahnarzt und nicht Epidemiologe. In der Pandemie wurde er vor allem für sein Arbeits­ethos berühmt. Shih Fu-yuan, einer der Ärzte, die 2003 im Heping-Spital feststeckten, lobte kürzlich in den Medien, dass die Antwort auf die Covid-19-Pandemie von Menschen bestimmt werde, die eine gesamt­gesellschaftliche Perspektive hätten anstatt eines medizinischen Tunnel­blicks. Andere Gesprächs­partner der Republik wie der ehemalige Minister Chen hingegen betonten mehrfach die zentrale Rolle von Expertinnen.

Eine besonders prominente Neuerung nach Sars war das Central Epidemic Command Center (CECC), das die Regierung im Falle einer Epidemie aktivieren kann. Das CECC untersteht offiziell nur der Präsidentin und dem Vizepräsidenten, während andere Ministerien verpflichtet sind, mit dem CECC zu kooperieren. Das Kommando­zentrum, das im Pandemie­fall für einen festen Zeitraum aktiviert wird, institutionalisiert auch die Zusammen­arbeit aller Ministerien im Pandemie­fall, da das Gesundheits­ministerium sie nicht allein bewältigen könnte.

«Das Gesundheits­ministerium kann sagen, wie viele Masken da sind und wie viele wir brauchen, doch es kann das Problem nicht allein lösen. Aber bei der gemeinsamen Tagung der Ministerien kann dann quasi direkt der Wirtschafts­minister damit beauftragt werden, sich darum zu kümmern, die Produktion hochzufahren», erklärt Chen Chien-jen, der im Januar 2020 noch Vize­präsident war, gegenüber der Republik.

Aus seiner Sicht ist die Pandemie­bekämpfung eine Aufgabe für das gesamte Kabinett – und die gesamte Gesellschaft.

Das ist einer der wichtigsten Punkte, in denen die Schweiz dazulernen kann. Zwar hat auch der Bundesrat – zuständig ist hier der EDI-Vorsteher – eine wissenschaftliche Taskforce einberufen. Doch diese bildete stets eine Art Parallel­struktur zu den BAG-internen Experten.

Als der Bundesrat im Sommer 2020 von der ausser­ordentlichen zurück in die besondere Lage wechselte – und viele Kompetenzen wieder an das BAG und die Kantone abgab –, schwebte die Taskforce kurzzeitig in der Luft. Überhaupt: Die Zusammen­arbeit zwischen Wissenschaftlerinnen und Politikern in der Schweiz muss auf vielen Ebenen besser werden; die Republik hat hier aufzuzeigen versucht, wie das gehen könnte.

Und ja: Auch das BAG, ähnlich wie die taiwanischen Kolleginnen im dortigen Gesundheits­ministerium, war mit einer Jahrhundert­aufgabe wie dieser Pandemie überfordert. Am besten funktionierte die Bekämpfung der Pandemie letztes Jahr, solange der Bundesrat – einem taiwanischen CECC ähnlich, in dem alle Minister zusammenarbeiten – das Krisen­management selbst steuerte. Er holte denn auch im Herbst einige Aufgaben, insbesondere die Kommunikation, wieder näher zu sich. Denn die Kommunikation ist für einen guten Umgang mit der Pandemie entscheidend. Auch hier ist Taiwan im Lernprozess bereits weiter.

4. Öffentliche Kommunikation

Ein besonders grosses Problem während der Sars-Pandemie waren die politische Kommunikation und überhaupt die Zusammen­arbeit der Regierung mit der Gesellschaft: Massnahmen wie die Quarantäne des Heping-Spitals waren nicht nur überstürzt und oft unüberlegt, sie wirkten auch so.

Seither hat die Seuchen­bekämpfungs­behörde stark in ihre Öffentlichkeits­arbeit investiert: Auch ausserhalb von Krisen­zeiten gibt es eine wöchentliche Presse­konferenz, bei der die Behörde ihre Beziehungen zu den Medien pflegt. Seit Beginn der Pandemie gibt es eine tägliche Presse­konferenz um 14 Uhr, in der Gesundheits­minister Chen Shih-chung über aktuelle Massnahmen und neue Fälle informiert.

«Das ist quasi ein positiver Kreislauf», erklärt sein Vorgänger Chen Chien-jen. «Wenn die Öffentlichkeit die Presse­konferenzen sieht, den Massnahmen folgt und es deswegen klare, sichtbare Erfolge gibt, stärkt das wiederum das Vertrauen in die Behörden für die nahe Zukunft.»

Im Gespräch mit der Republik betont Chen, der aktuelle Gesundheits­minister mache als Gesicht der Pandemie­bekämpfung eine gute Arbeit. Nicht jede Person würde sich für so eine Rolle eignen: «Es ist wichtig, jemanden zu finden, der professionell über das Thema sprechen kann und politisch möglichst neutral ist», so Chen. In der Schweiz erschütterte der Abgang des früheren BAG-Vertreters Daniel Koch im Sommer die Bürger nachhaltig. Auch wenn viele seiner Aussagen genauso inkohärent und umstritten waren wie seine Rolle im BAG: Er war für viele Bürgerinnen das vertraute Gesicht der Pandemiebekämpfung.

2003 war in Taiwan auch die Zusammen­arbeit mit betroffenen Angestellten des Gesundheits­systems ein Problem. Nach der Sars-Krise heuerte die CDC daher Ärztinnen mit Erfahrung in der klinischen Praxis an, die die Beziehungen mit den Medizinern in den Kranken­häusern verbessern sollten.

Eine dieser neuen Amts­ärztinnen ist Huang Song-en, die 2003 in einem Spital ihr Praxis­jahr absolvierte. Huang erinnert sich noch, wie sie 2003 aus Schwämmen und Projektor­folien behelfsmässige Gesichts­schilde bauten, um sich vor dem Virus zu schützen.

Seitdem hat sie an der CDC unter anderem für das Feld-Epidemiologie-Programm gearbeitet, in dem die CDC Medizinerinnen in Grundlagen der Epidemiologie ausbildet: «Nicht nur die Ärzte, sondern alle Krankenhaus­angestellten bis hin zur Person an der Rezeption müssen wissen, wie sie reagieren, wenn ihnen jemand mit Verdacht auf eine gefährliche Infektions­krankheit begegnet», sagt sie.

5. Ständig Schwächen identifizieren

Die verstärkten Institutionen arbeiten bis heute daran, immer wieder neue Schwächen in der taiwanischen Pandemie­bekämpfung zu korrigieren. So hat Taiwan beispiels­weise staatliche Labor­kapazitäten aufgebaut, um das Testen und die Diagnostik im Land zu beschleunigen.

Auch die Infektions­kontrolle in taiwanischen Spitälern wurde verbessert, sowohl durch Hygiene­massnahmen, in denen Angestellte regelmässig trainiert werden, als auch durch Massnahmen, die verhindern sollen, dass sich das Virus bei einem Ausbruch aus den Kranken­häusern in der Gesamtbevölkerung verbreitet. In Taipeh wurden zudem auch die Arbeits­bedingungen von Kranken­pflegern leicht verbessert.

Doch Taiwan hat noch längst nicht alle Probleme gelöst: insbesondere jenes der oft privatisierten und kommerzialisierten Spitäler, die an allen Ecken Geld sparen müssen und darum 2003 Sars-Symptome wohl lange ignorierten, um Kosten und Mehraufwand zu vermeiden. An anderer Stelle hat die Regierung vielleicht auch überreagiert – so kritisieren manche das Infektionsschutz­gesetz dafür, dass es dem CECC zu viel Macht ohne ausreichende Kontroll­möglichkeiten geben würde.

T. H. Schee, ein Vertreter der Nichtregierungs­organisation Open Knowledge Taiwan, bereiten vor allem einige neue technische Massnahmen und ihre intransparente Implementierung Sorgen: «Der Special Act gibt dem CECC fast uneingeschränkte Macht, es ist quasi eine Umgehung bestehender Regeln.» So habe sich das CECC erst im Juni 2020, mehrere Monate nach Beginn der Pandemie, mit möglichen Verletzungen der Privat­sphäre auseinander­gesetzt, sagt er gegenüber der Republik. Schee macht sich Sorgen, dass Taiwanerinnen gerade wegen der Erfahrung durch Sars und andere Natur­katastrophen wie Erdbeben zu schnell bereit sind, der Regierung mehr Macht zu geben, damit sie Leben retten kann.

Und jetzt?

Insgesamt ist es angesichts der vielen Verbesserungen seit 2003 schwer zu sagen, welche Massnahmen genau zum taiwanischen Erfolg bei der Pandemie­bekämpfung beigetragen haben. «Es gab nicht die eine oder zwei Massnahmen, sondern eine Kombination. Taiwan hat versucht, Probleme in allen Bereichen zu beheben», sagt Jason Wang von der Stanford University zur Republik. Vermutlich hat auch Glück eine Rolle gespielt. Das wohl Entscheidendste war jedoch ein Bewusstseins­wandel: ein Wissen um die Gefahr, die von neuen Viren und Infektions­krankheiten ausgeht – und die daraus resultierende Entschlossenheit, trotz Unannehmlichkeiten oder Kosten zu handeln.

Die Haltung der Zivilgesellschaft spielt eine wichtige Rolle …
… in der Pandemiebekämpfung: Nie wieder eine Krise wie damals mit Sars.

Langfristig schätzt der Politik­wissenschaftler Schwartz, dass Staaten nach einer Pandemie jeweils ein Zeit­fenster von ein paar Jahren haben, um bestehende Probleme zu beheben: «Grundsätzlich denken Politiker kurzfristig und ziehen konkrete Investitionen vor, deren Ergebnisse vor der nächsten Wahl sichtbar werden. Die Pandemie kann langfristigere Projekte wie Pandemie­bekämpfung für kurze Zeit auf die Agenda bringen.»

Wie und ob auch europäische Länder wie die Schweiz diesen wertvollen Zeitraum nutzen, ist ihre Entscheidung. Das betonen die Gesprächs­partnerinnen in Taiwan immer wieder. Die Erfahrung Taiwans könnte aber zumindest ein paar Hinweise dafür geben, wie diese Zeit produktiv genutzt werden kann – von Politik, Zivil­gesellschaft und staatlichen Institutionen.

In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass das Epidemiengesetz in der Schweiz als Folge der Schweinegrippe (2009) ausgearbeitet worden sei. Richtig ist, dass es aufgrund der Sars-Epidemie (2003/2004) ausgearbeitet wurde. Wir entschuldigen uns für das Versehen.

Zur Autorin

Katharin Tai promoviert seit 2018 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) zu chinesischer Internet- und Aussenpolitik. Sie studierte internationale Beziehungen in China, Frankreich und England und lebte anschliessend in Taiwan. Sie schreibt als freie Autorin für verschiedene Zeitungen und Magazine. Zurzeit lebt und arbeitet sie für mehrere Wochen in Taiwan.