Wie die Corona-Welle Länder unterschiedlich erfasst (und woran das liegen könnte)
Eine Typologie der Gebiete, die das Virus am stärksten getroffen hat, eine Einordnung der Ausnahmen – und ein paar wichtige Anmerkungen zur Auswahl der Daten.
Von Marie-José Kolly, 04.05.2020
In der Schweiz können Sie seit einer Woche Blumensträusse kaufen, in Italien dürfen Kinder wieder draussen spielen – mitteleuropäische Staaten wagen erste Schritte aus dem Ausnahmezustand heraus. Anderswo wollen die Kurven partout nicht abflachen.
Nach welchem Muster verläuft die Pandemie in unterschiedlichen Staaten? Und was können wir aus deren verschiedenen Reaktionen lernen?
Das sind Fragen, die sich viele Menschen im Moment stellen. Doch sie sind nicht so einfach zu beantworten. Denn das wissen Sie: Die Daten zur Corona-Krise kommen mit besonders vielen Unsicherheiten und Unvollständigkeiten. Die eine, einzig richtige Messzahl gibt es nicht.
Bevor wir uns also anschauen, wie die Covid-Welle verschiedene Länder erfasst, möchten wir ein paar Überlegungen zur Datenauswahl mit Ihnen teilen, die wir für essenziell halten. Wenn wir schon ständig von «Kurven» sprechen, sollten wir erst genau klären, welche Kurven wir meinen, welche Kurven sinnvolle Kurven sind – gerade wenn wir auch noch verschiedene Länder betrachten. (Wenn Sie das nicht interessiert, klicken Sie sich hier direkt zum Teil «Eine kleine Typologie der Covid-19-Wellen».)
Welche Kurve?
Vielleicht gehört der tägliche Blick auf eine Grafik neu auch zu Ihrem Morgenritual. Die Chance ist gross, dass Sie dabei jeweils aufsummierte Covid-19-Fälle über die Zeit sehen – vielleicht als klassische exponentielle Kurve auf einer linearen Skala, vielleicht auch auf einer logarithmischen Achse. So sehen die kumulierten Fälle für die Schweiz mittlerweile aus:
Im Fokus von Epidemiologen stehen inzwischen aber weniger die Gesamtzahlen als die neuen Covid-19-Fälle pro Tag. Denn wenn diese in den zweistelligen Bereich fallen, wird ein landesweites Contact Tracing langsam, aber sicher machbar. Wie steht es also um die Neuinfektionen?
Diese Kurve ist ziemlich nervös. Grundsätzlich ist solche Variabilität in Daten etwas Spannendes: Zu wissen und visuell zu erfahren, wie stark ein Phänomen variiert, ist in vielen Fällen wichtig und wertvoll. In diesem Fall aber gibt es mindestens zwei gute Gründe dafür, die Linie etwas zu glätten:
Die Variabilität kommt unter anderem durch eine Verzerrung in den Daten zustande: Die Fallzahlen hängen vom Wochentag ab, am Wochenende etwa werden jeweils weniger Tests durchgeführt und so auch weniger Fälle gemeldet.
Weil die Kurve so stark schwankt, geht das übergeordnete Muster unter. Glättet man sie, wird es leichter lesbar.
Wir bilden also für jeden Tag einen sogenannten «gleitenden» Mittelwert über die eben vergangene Woche.
Das sieht ganz nützlich und lesbar aus. Aber jetzt kommt der Moment, wo wir über die grosse Schwierigkeit sprechen müssen: wie diese Daten zustande kommen und was sie dementsprechend aussagen können.
Die Kurven zu den Infektionen zeigen nicht die tatsächliche Verbreitung des Virus, sondern lediglich die Anzahl der positiv getesteten Personen. Sie hängen also stark davon ab, wie viel überhaupt getestet wird. (In einer grösseren Stichprobe findet man automatisch mehr Fälle. Umgekehrt gilt: Wo es keine Tests gibt, gibt es auch keine bestätigten Fälle.)
Bislang hat man Infizierte mit milden oder keinen Symptomen selten oder gar nicht getestet – alle obigen Kurven unterschätzen also die tatsächliche Zahl der Infizierten. Hinzu kommt, dass verschiedene Länder unterschiedlich intensiv und nach unterschiedlichen Kriterien testen. Bei Husten und Fieber? Oder nur, wenn Komplikationen wie eine Lungenentzündung vorliegen? Nur, wenn die Patientin zu einer Risikogruppe oder zum Gesundheitspersonal gehört? Auch innerhalb eines Landes variieren die Zahl der Tests und die Testkriterien je nach Phase der Pandemie.
Kurz: Die Zahl der bestätigten Fälle ist zwischen Ländern nicht ohne weiteres vergleichbar.* Wir müssen uns auf eine andere Angabe stützen: die Zahl der Todesfälle.
* Das Problem der Testhäufigkeit könnte man lösen, indem man statt absoluter Zahlen einfach den Anteil der positiven Tests pro Tag und Land berechnete. Diese Daten sind aber lückenhaft – für viele Länder und viele Tage sind nur die positiv ausgefallenen Tests bekannt. Jene, die negativ ausfielen, nicht. Und auch das Problem der sich ändernden Testkriterien innerhalb von Ländern hätte man mit dieser Messzahl nicht gelöst.
Auch Todesfälle nehmen ab
Tote sind schwerer zu übersehen als Kranke mit milden Symptomen. Betrachtet man die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19, so kann man die Unterschiede verringern, die durch verschiedene Testverfahren zustande kommen.
Bei einem Todesfall aufgrund von Covid-19 fand die Infektion Tage, wenn nicht Wochen vorher statt. Der Nachteil bei dieser Kurve ist also, dass sie den Neuinfektionen hinterherhinkt. Für unser Vorhaben – den Ländervergleich – spielt das aber keine Rolle. Uns interessieren mögliche Muster der Pandemie, nicht die aktuellsten absoluten Zahlen.
Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 wird in der Regel ebenfalls unterschätzt. Die meisten Staaten zählen nur Personen dazu, die im Spital sterben. Ausserdem werden die Todesfälle auch nicht immer und überall nach der gleichen Methode erfasst. Es gibt Staaten, die auch Personen mitzählen, die zu Hause sterben. Und manche Länder haben die Methode im Laufe der Zeit verändert – so zählt man in Frankreich erst seit Anfang April nicht nur Todesfälle in Spitälern, sondern auch die in Altersheimen zu den offiziellen Covid-19-Toten.
Sie sehen schon: Die perfekte Metrik gibt es nicht. Ermutigend ist aber, dass alle obigen Grafiken dasselbe grobe Muster zeichnen. Das Muster einer Schweiz, welche die aktuelle Covid-19-Welle stark bremsen (aber nicht komplett stoppen) konnte. Diese Übereinstimmung fanden wir auch bei allen anderen Ländern, die wir gleich betrachten werden. Die Chancen stehen also gut, dass die Todesfall-Kurven den tatsächlichen (wenn auch nicht vollständig bekannten) Verlauf der Pandemie einigermassen wiedergeben.
Eine kleine Typologie der Covid-19-Wellen
Der Schweizer «Lockdown light» hat also die Kurven gedrückt. Denselben Zwischenerfolg konnte man in vielen weiteren europäischen Ländern beobachten, nachdem der Kontinent im März zum Brennpunkt der Pandemie geworden war.
Staaten haben Schulen, Läden, Restaurants oder Grenzen geschlossen, Veranstaltungen verboten, Versammlungen eingeschränkt, Arbeitsverbote erteilt oder Ausgangssperren verhängt. Was wirkt? Was weniger? Das ist nach wie vor schwer zu ermitteln, aber Forschende arbeiten an Antworten.
Die Staaten unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt in ihrer geografischen Lage. Entsprechend unterschieden sich die Zeitpunkte, zu denen die Covid-Welle sie erfasste. Die Schweiz zum Beispiel konnte von Italien, das als erstes Land vom Virus überrollt wurde, lernen und sich vorbereiten.
1. Wo die Todesfälle pro Tag deutlich zurückgehen
Die Lage in Italien, vor einem Monat noch eine Drohkulisse für andere Staaten, hat sich mit einer strengen Lockdown-Phase deutlich verbessert:
Italienerinnen und Italiener durften lange nur in Ausnahmefällen nach draussen. Nun scheint die Kurve der Todesfälle schneller zu fallen als jene für die Schweiz. Liegt das daran, dass Schweizer lediglich auf Appell der Behörden hin daheim bleiben?
«Der striktere Lockdown in Italien spielt bei der Form der Kurve vermutlich eine Rolle», sagt Emma Hodcroft, Epidemiologin an der Universität Basel. Möglicherweise liege ein weiterer Grund für die rapiden Rückgänge auch darin, dass in Italien sehr viele Menschen an Covid-19 gestorben sind. «Dem Virus sind teilweise die Menschen ausgegangen, die es hätte töten können.»
Bisher sehe es so aus, als ob wir in der Schweiz ohne eine strikte Ausgangssperre gut gefahren seien, sagt Hodcroft. Es sei aber schwer vorstellbar, dass eine solche Strategie auch in Italien geklappt hätte – dort habe es einfach zu viele Infektionen gegeben.
Ebenfalls deutlich zurück gehen die Todesfälle in Spanien, in Frankreich, in Deutschland. Und überall fallen die Kurven langsamer, als sie gestiegen sind. So ist es auch in Österreich, wo ebenfalls eine strengere Ausgangssperre verhängt wurde als in der Schweiz.
«Wen die Welle später erfasst, wer weniger Ansteckungen zählt, der kann die Pandemie tendenziell mit weniger strikten Massnahmen eindämmen – vorausgesetzt, er greift früh genug ein. Aber das muss nicht überall funktionieren: die Staaten unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht», sagt Epidemiologin Hodcroft.
Auch in kulturellen Faktoren: Für die Übertragung eines Virus spielt eine Rolle, ob ältere und jüngere Familienmitglieder im selben Haushalt leben, wie nahe die Menschen bei einem Gespräch beieinanderstehen oder wie häufig sie sich in grösseren Gruppen treffen.
2. Wo sich Hoffnung abzeichnet
In den USA hat sich die Regierung besonders viel Zeit gelassen mit einer Reaktion auf die nahende Pandemie. Sars-CoV-2 konnte sich dort lange ungehindert und weitgehend unbemerkt verbreiten, bevor man die Testbatterie hochfuhr und einzelne Staaten das öffentliche Leben einzuschränken begannen.
Die Kurve der Todesfälle zeigt nun endlich einen leichten Knick – und in mehreren US-Staaten geht die Zahl der besetzten Spitalbetten zurück. Das sind vorerst gute Neuigkeiten.
Ähnlich sieht die Lage in Grossbritannien aus, wo die Regierung ebenfalls lange gezögert hatte, bevor sie das öffentliche Leben einschneidend einschränkte:
Rückblickend weiss man immer mehr – das sagt auch Emma Hodcroft. Am Anfang der Pandemie habe niemand genau gewusst, welche Massnahmen am besten wirken würden. Man habe aber gewusst, dass sich die Pandemie exponentiell ausbreite und mit jedem Tag schwieriger einzudämmen sein würde. «In solchen Fällen ist es besser, schnell zu agieren und später allenfalls zurückzukrebsen. Viele Todesfälle hätte man so vermeiden können.»
3. Wo man den Sonderfall versucht
Was noch zu wenig diskutiert werde, sagt Hodcroft, sei das hohe Mass an Zufälligkeit, das den Beginn einer Pandemie mitbestimme. Wie viele Fälle in ein Land importiert würden, wie schnell und zu welchem Zeitpunkt – das könne grosse Unterschiede im künftigen Verlauf bewirken.
Das hat Schweden einen Vorteil verschaffen können. Fernab vom europäischen Brennpunkt der Pandemie kam das Coronavirus vergleichsweise spät an. Schwedische Expertinnen und Einwohner konnten zunächst beobachten, was anderswo geschah, wie die Menschen ihr Verhalten anpassten. Und dann Massnahmen ergreifen, als die Fallzahlen noch niedrig waren.
Sie versuchen bisher, mehrheitlich mit Appellen an Vernunft und Verantwortung durchzukommen: Die niedrigeren Schulstufen, Geschäfte, Restaurants blieben bisher offen. Und trotz der Freiwilligkeit der Massnahmen gingen die Bewegungen der Menschen stark zurück. Viele arbeiten daheim, essen daheim, schauen Filme daheim – obwohl sie ins Büro, Restaurant oder Kino dürften.
Das Land bezahlt diese Freiheiten aber mit bedeutend mehr Todesfällen als Nachbarstaaten mit vergleichbaren Bevölkerungsdichten – in Norwegen und Finnland sind (absolut und pro Kopf) viel weniger Menschen an Covid-19 gestorben. Und die Kurve der schwedischen Todesfälle steigt nach wie vor:
4. Wo die Kurve steigt und steigt
Auch in vielen Schwellenländern will die Kurve partout nicht abflachen. In Russland zum Beispiel. Wie sein amerikanischer Amtskollege hat auch Wladimir Putin lange verkündet, man habe alles unter Kontrolle. Die Fallzahlen nahmen trotzdem zu, ebenso die Todesfälle:
Ein ähnliches Muster lässt sich in Indien oder in Mexiko beobachten. Und in Brasilien, dessen Präsident die Bedeutung des Virus nach wie vor herunterspielt und gegen die Lockdown-Massnahmen wettert, die manche seiner Gouverneure installiert haben.
«Auch hier sieht man: Je länger ein Staat mit Massnahmen wartet, desto schwieriger wird es, die Pandemie wieder einzudämmen», sagt Epidemiologin Emma Hodcroft.
5. Wo die Kurve ein zweites Mal steigt
Mehrere asiatische Länder haben die Pandemie anfangs gut eindämmen können – oft durch rigoroses Testing und Contact Tracing. Nun erleben sie aber eine zweite Welle der Pandemie. Das ist in Singapur und Taiwan der Fall, aber auch in Südkorea, wo die Todesfälle Anfang April ein neues Maximum erreicht haben.
In Südkorea gab es nie einen strikten Lockdown. Mit Testing und Contact Tracing habe man dort aber ein System für eine offenere Gesellschaft, sagt Emma Hodcroft. Ein gewisses Auf und Ab in den Kurven sei zu erwarten: Solange das Virus irgendwo auf der Welt im Umlauf sei, könne es auch anderswo immer wieder zu lokalen Ausbrüchen kommen. Mit der Testing-und-Tracing-Methode könne man diese Ausbrüche rasch wieder unter Kontrolle bringen.
Auch Japan schien die Verbreitung lange unter Kontrolle zu haben, aber nun häufen sich die Todesfälle.
Auf der nördlichen Insel Hokkaido hat man den Lockdown nach nur drei Wochen gelockert: Schulen, Lokale, Firmen gingen wieder auf. Es folgte eine zweite, stärkere Covid-Welle. Das einstige Vorbild für den Umgang mit dem Virus hat nun erneut den Ausnahmezustand verhängt.
Die zweite Welle in asiatischen Staaten zeigt, wie schwer das Virus unter Kontrolle zu bringen ist. In China derweil sehen die Daten fast schon rosig aus. Das Land meldet kaum mehr Todesfälle. Nur – in China sind die Daten nicht nur wegen der oben erwähnten Schwierigkeiten mit Vorsicht zu geniessen. Auch die Redlichkeit der Regierung, was die Zahlen zur Pandemie angeht, wird stark angezweifelt.
Wer hätte wo und wann was genau tun müssen?
Das ist nach wie vor schwer zu sagen. Aber wir können festhalten: Es lohnt sich, früh auf eine Pandemie zu reagieren. Es hilft auch, wenn man als Staat von den Erfahrungen anderer Teile der Welt mit der Covid-Welle lernen kann, bevor sie einen selbst trifft. Und manchen hilft der Zufall.
«Im frühen Stadium einer Epidemie wissen wir nie, was genau die angemessene Antwort auf sie wäre», sagt Hodcroft. «Wenn wir es wüssten, hätten wir wahrscheinlich auch keine Epidemien.»
Die Zahlen der bestätigten Covid-19-Infizierten sowie der Todesfälle stammen vom European Centre for Disease Prevention and Control. Das ECDC publiziert täglich aufdatierte, weltweite Daten zur Pandemie, die es aus Statistiken von Gesundheitsbehörden zusammenträgt.
China hat am 17. April 1290 neue Todesfälle angegeben, die für die vorangehenden Wochen und Monate gelten sollen. Wir haben sie anteilsmässig auf alle vorangehenden Tage verteilt, an denen China Todesfälle verzeichnet hat.