Halt, stopp, Long Covid!
Der Bundesrat gehe mit seinen Öffnungen ein «kalkuliertes Risiko» ein, sagt er. Wissenschaftler und Betroffene fragen sich: Hat er die Langzeitfolgen miteinkalkuliert?
Von Elia Blülle, 23.04.2021
Frühjahr 2020. Wissenschaftler schlagen Alarm: Was da auf uns zurollt, könnte das Schweizer Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen oder darüber hinaus. In Bern gibt man sich entspannt. Zu viel sei noch unsicher, das gesellschaftliche Leben und die Wirtschaft könnten nicht einfach auf Vorrat runtergefahren werden. Dann überrollt Covid die Schweiz.
Frühjahr 2021. Wissenschaftler schlagen Alarm: Was da auf uns zurollt, könnte das Schweizer Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen oder darüber hinaus. In Bern gibt man sich lange entspannt. Zu viel sei noch unsicher, man könne … Sie wissen schon.
Macht die Schweiz gerade dieselben Fehler wie vor einem Jahr – diesmal mit Long Covid?
Der Bundesrat will mit seiner «Strategie einer vorsichtigen, schrittweisen Öffnung» die Bevölkerung und die Wirtschaft in den nächsten Monaten von den Einschränkungen befreien – trotz steigender Infektionszahlen. Ein vertretbares Risiko, findet die Regierung, da die «Durchimpfung der Risikogruppen» voranschreite und die Teststrategie ausgeweitet werde.
Nebst dem öffentlichen Leben hat der Bundesrat mit den jüngsten Lockerungen aber auch neue Begehrlichkeiten geweckt. Je weniger Menschen an den Folgen der Infektion sterben und auf den Intensivstationen landen, desto mehr wird nun der politische Druck wachsen, hohe Infektionszahlen in Kauf zu nehmen.
Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbands, weissagte jüngst, die Schweiz könne täglich bis zu 30’000 Infektionen riskieren, sobald alle Risikogruppen hinreichend immun seien. Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Gewerbeverbands, forderte aus denselben Überlegungen «umgehend» weitere Öffnungsschritte. Wie auch der Mitte-Nationalrat und Gastro-Suisse-Lobbyist Alois Gmür, der am Wochenende sagte: «Solange gar weniger ältere Menschen sterben als vor Corona, sind Einschränkungen nicht haltbar.»
Die Appelle der Wirtschaftsvertreter Bigler, Vogt und Gmür verbindet derselbe Irrtum: Sie gehen davon aus, dass junge Menschen eine Ansteckung mit dem Coronavirus mehrheitlich schadlos überstehen – also an den Folgen einer Infektion nicht sterben oder im Spital landen. Sie rechnen damit, dass Covid-19 bei gesunden Menschen nach kurzer Krankheit vorbeizieht. Fieber, Husten, Kopfschmerzen. Fertig.
Doch nicht alle haben das Glück, nach einer Infektion sofort wieder zu genesen. In einer Stellungnahme rechnet der Bundesrat vor, dass in der Schweiz bis zu mehrere hunderttausend Personen von Long Covid betroffen sein könnten, also nach einer Infektion an medizinischen Folgeerscheinungen leiden und selbst noch Monate später stark eingeschränkt sind.
Das ist vor allem deshalb besorgniserregend, weil gemäss derzeitigem Wissensstand Menschen aus allen Altersgruppen von Langzeitfolgen betroffen sind – auch Kinder, Jugendliche und Personen, die nur mild am Coronavirus erkrankt sind. Da die Durchimpfung – entgegen der bundesrätlichen Kommunikation – immer noch stockt und Risikogruppen priorisiert werden, dürfte sich das Pandemiegeschehen immer mehr hin zu den jüngeren Altersgruppen verschieben. Bis sie die Spritze erhalten, wird es realistischerweise Spätsommer, wenn nicht Herbst werden. So lange sind sie ungeschützt.
Darauf angesprochen, rät die Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Bern mit Blick auf die kommenden Monate allen dringend zur Vorsicht. Es bestehe ansonsten die Gefahr, dass ganze Generationen mit Lebensjahren und Produktivität für unüberlegte Entscheidungen bezahlten: «Long Covid ist die grosse Unbekannte – und damit ein grosses Risiko.»
Wir wissen, dass wir fast nichts wissen
Heute sei ein guter Tag, sagt Martina Huber. Die 33-Jährige hat endlich einen Termin in einer neu aufgezogenen Long-Covid-Sprechstunde erhalten. Seit Monaten hat sie sich unterschiedlichen diagnostischen Untersuchungen unterzogen, ohne therapeutische Hilfe zu erhalten. Nun hofft sie endlich auf Unterstützung.
Huber, die in Wahrheit anders heisst, hat sich im Frühling 2020 mutmasslich mit Corona infiziert. Zu einer Zeit, als sich junge Personen nicht testen konnten, fast niemand Maske trug und auch sie selber noch davon ausging, Corona funktioniere wie eine gewöhnliche Grippe und könne nur alten, kranken Menschen etwas anhaben.
Ein Jahr später leidet die junge Frau noch immer an den Folgen der Erkrankung.
Sie, die gerne Sport treibt und vor ihrer Infektion wöchentlich trainiert hat, sagt: «Ich bewege mich heute so langsam wie eine Ömi.»
Eine universelle Diagnose für Long Covid gibt es noch nicht. Die zugeschriebenen Beschwerden reichen von Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Atemnot bis zu Haarausfall und starken Gliederschmerzen. Im neuesten «Policy Brief» der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes identifizieren die Autorinnen über 50 Symptome.
Infektionskrankheiten, auch eine Grippe, können langfristige Beschwerden auslösen – das ist kein neues Phänomen. Durch die riesige Anzahl von gleichzeitig auftretenden Corona-Infektionen erhalten die Langzeitfolgen nun aber eine viel grössere Sichtbarkeit. Welche medizinischen Ursachen diese Symptome hervorrufen, ist umstritten und Gegenstand von vielen Forschungsarbeiten.
Bei Long Covid gibt es unterschiedliche Hypothesen.
Eine Möglichkeit wäre, dass sich das Virus wie ein Geist im Körper versteckt, über längere Zeit das Immunsystem stimuliert und so eine Art chronische Infektion auslöst. Eine andere These besagt, dass sonstige im Körper eingenistete Krankheitserreger, zum Beispiel Herpesviren, plötzlich ausbrechen, weil das Immunsystem durch Covid-19 geschwächt ist. Diverse Studien weisen auch darauf hin, dass Sars-CoV-2 eine Autoimmunerkrankung auslösen könnte. Dabei kämpft der Körper gegen sich selber: Antikörper schützen nicht mehr, sondern greifen entweder andere Teile der körpereigenen Immunabwehr an – oder bestimmte Proteine in Organen.
«Bis wir ein vollständiges Bild davon haben, welche Konsequenzen das Virus auf den Menschen hat, werden noch Jahre vergehen», sagt der Epidemiologe Marcel Salathé von der EPF in Lausanne. Er wolle keine Panik schüren, aber wir erlebten gerade die Einführung eines neuen Virus in die Population: «Es werden möglicherweise noch einige Überraschungen auftreten, die wir heute nicht vorausahnen können und die sich erst viel später manifestieren.»
Wissenschaftler und Medizinerinnen rätseln aber nicht nur über die Ursachen, sondern auch über die Häufigkeit der auftretenden Langzeitfolgen. Denn je nachdem, was und wie sie messen, erhalten die Forscher ganz unterschiedliche Resultate.
In einer umfangreichen Untersuchung des britischen Statistikamtes gaben gut 13 Prozent von rund 20’000 befragten Personen an, auch 12 Wochen nach dem positiven Test noch an Symptomen zu leiden, die mit Long Covid in Verbindung gebracht werden. Eine Schweizer Kohortenstudie schätzt, dass sich 39 Prozent der hospitalisierten Personen 6 Monate nach der Infektion noch nicht vollständig erholt haben. Das Gleiche gilt für rund ein Viertel der nicht hospitalisierten Personen.
Milo Puhan, treibende Kraft hinter der Studie und Leiter des Instituts für Epidemiologie an der Universität Zürich, geht davon aus, dass etwa 2 bis 3 Prozent aller Infizierten an wirklich gravierenden medizinischen Langzeitproblemen leiden. Das möge nach einem kleinen Teil klingen, sagt er: «Aber bei Millionen von Infizierten bedeutet eine tiefe einstellige Prozentzahl dennoch, dass Zehntausende Personen betroffen sind.»
Bei allen statistischen Auswertungen zu den Langzeitfolgen ist Vorsicht angebracht. Die Untersuchungen konzentrieren sich selten auf die Frage, inwiefern gewisse Symptome bei den befragten Patientinnen schon vor der Infektion aufgetreten sind, und die meisten statistischen Berechnungen beruhen nicht auf zufällig ausgewählten Stichproben. Zudem erfolgten die meisten bisherigen Studien ohne Kontrollgruppe mit negativ getesteten Patienten. Das kann zu Verzerrungseffekten führen, die ein Resultat beeinflussen.
Dessen ungeachtet: Die Existenz von Covid-Langzeitfolgen ist unbestritten.
Das Bundesamt für Gesundheit, das BAG, schreibt auf Anfrage, dass von offizieller Stelle derzeit noch keine genauen Daten zur Anzahl von Patientinnen mit Spät- und Langzeitfolgen vorlägen – und es bestünden noch grosse Wissenslücken, insbesondere zu den Risikofaktoren für Langzeitfolgen. Studien deuteten aber darauf hin, dass das Geschlecht (weiblich), das Alter (fortgeschritten), Vorerkrankungen und Fettleibigkeit mit Long Covid in Verbindung stünden.
Trotz der Unsicherheiten findet Epidemiologe Marcel Salathé, dass die Regierung bei der Überwachung des Pandemiegeschehens so viele Faktoren wie möglich miteinbeziehen müsse – unbedingt auch das Auftreten von Langzeitfolgen. Gerade weil wir zu Long Covid noch so wenig wüssten, wäre es wichtig, die Infektionen zu reduzieren.
Das Parlament greift ein
Martina Huber brauchte lange, bis sie begriff, dass etwas mit ihr nicht stimmt.
In den Sommerferien nach ihrer Infektion kam sie beim Wandern schnell ausser Atem, keuchte und dachte, es müsse am fehlenden Training liegen. Später, im Herbst, war sie nach einem Saunagang völlig erschlagen und lag während Tagen im Bett. Ihr Zustand verschlimmerte sich: Die Muskeln schmerzten, die Augen litten und die Konzentration schwand immer öfter.
«Meine grösste Herausforderung in den letzten Monaten war das enorme Informationsvakuum», sagt Huber. Ihre Hausärztin sei überfordert gewesen, und in der Schweiz finde im Vergleich zu anderen Ländern wie Grossbritannien, Frankreich oder Schweden kein breiter Diskurs zu den Langzeitfolgen statt – nützliche Fachinformationen habe sie ausserhalb von Facebook-Selbsthilfegruppen praktisch nirgends gefunden. Huber hat ihre Beschwerden auch aufgrund der Einschätzung ihrer Ärzte lange psychologisiert, gemeint, sie würden mit der aktuellen Situation zusammenhängen. Vielleicht eine Depression?
Erst als sie begann, die Websites ausländischer Gesundheitsorganisationen und Forschungsnetzwerke zu durchforsten, wo sie medizinisch informierte Unterlagen fand, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Heute sagt Huber: «Ich fühlte mich oft extrem alleingelassen.»
Ein Gefühl, das auch Che Wagner kennt. Seine 26-jährige Partnerin sass nach ihrer Corona-Infektion während Wochen im Rollstuhl – so stark litt sie an den Beschwerden. Der Basler Aktivist und Campaigner hat nach negativen Erfahrungen mit Behörden, Krankenkassen und Ärzten gemeinsam mit anderen Betroffenen die «Allianz Long Covid» gegründet. Wagner sagt: «Die Langzeitfolgen wurden in der Schweiz viel zu lange ignoriert. Sie sind eine reale Gefahr, die jeden und jede treffen kann.»
Seine Organisation fordert nun vom Bund eine nationale Long-Covid-Strategie: Die Regierung soll sich an den Empfehlungen der wissenschaftlichen Taskforce orientieren und systematische Nachkontrollen von positiv Getesteten sowie Beobachtungsstudien finanziell unterstützen. Daneben müsse der Bund die gesundheitliche Versorgung sicherstellen, damit die Folgeerkrankung frühzeitig behandelt werden könne, sagt Wagner. «Die Dringlichkeit ist gross.»
Die Gesundheitskommission des Nationalrats hat nun die Anliegen der Allianz aufgenommen und verlangt in einer Motion, die voraussichtlich in der Sommersession behandelt wird, dass die Regierung ausreichend finanzielle Mittel für die Wissenschaft bereitstellt und eine Anlaufstelle für Betroffene ausbaut.
Zudem hat der Ständerat beim Bund einen Bericht über die Situation von Long-Covid-Erkrankten in der Schweiz in Auftrag gegeben. Dieser werde allerdings frühestens 2022 erscheinen, teilt das BAG auf Anfrage der Republik mit.
«Im Vergleich zum Ausland bewegt sich die Schweiz im Schneckentempo», sagt Che Wagner und verweist auf Grossbritannien. Das dortige Gesundheitsministerium hat unlängst 24 Millionen Pfund (30,5 Millionen Franken) für die Behandlung von Covid-Erkrankten gesprochen. «In der Schweiz aber gibt es weder Investments in die Behandlungsforschung noch eine zweckgebundene Unterstützung für die ohnehin geschwächten Gesundheitsorganisationen. Eine Informationskampagne, die Betroffene und Ärztinnen erreicht, wäre unerlässlich.»
In der Schweiz bieten mittlerweile diverse Spitäler auf eigene Initiative hin Post-Covid-Sprechstunden an. Zudem rief die Organisation «Lunge Zürich» vor einer Woche die Long-Covid-Plattform Altea ins Leben, über die sich Betroffene informieren und vernetzen können.
Der Epidemiologe und Gesundheitsexperte Milo Puhan von der Universität Zürich hält solche Ansätze für vielversprechend. Die Schweiz sei kein zentralistisches Land, da müssten alle ihren Teil beitragen, sagt er: «Es wäre natürlich wünschenswert, wenn wir in einer solchen Situation eine kantonsübergreifende Koordination hätten. Aber so funktioniert die Schweiz nicht. Deshalb ist es nun wichtig, dass die Forschung, Therapieangebote und Betroffene eng zusammenarbeiten und Lösungen entwickeln.»
Während der Pandemie ist nach der Pandemie
Schnell vorüberziehen wird das Problem nicht. «Long Covid wird mit dem Ende der Pandemie nicht verschwinden», sagt der Luzerner Jurist Christian Haag voraus. Versicherungsanwälte wie Haag haben in Krisen oft ein gutes Gespür dafür, wie stark uns die Folgen im Nachgang einer Katastrophe noch beschäftigen werden; sie kehren die Scherben zusammen, wenn sich andere nicht mehr kümmern müssen.
Haag hat gemeinsam mit anderen Juristen den Verband Covid Langzeitfolgen gegründet. Die Patientenvertreter wollen Betroffenen helfen. Jemand, der sich den Fuss gebrochen habe, könne sich gut selber wehren, sagt er. Wer aber müde und erschöpft sei, brauche Unterstützung. Hinzu komme: Bei den noch diffusen Corona-Langzeitfolgen und der gegenwärtigen Schweizer Rechtsprechung würden die Fälle schnell sehr komplex. «Es rollt eine Welle auf die Schweizer Versicherungsanwälte zu.»
Eine Welle, die viel Geld verschlingen wird.
Long-Covid-Betroffene können teilweise nicht mehr oder nur eingeschränkt arbeiten, brauchen teure Therapien und fallen schlimmstenfalls in die Sozialsysteme. Das Problem: Im Gegensatz zu den Ausgaben, die durch Kurzarbeitsentschädigung und Härtefallzahlungen anfallen, fehlen die Zahlen für die finanziellen Belastungen, die durch Long Covid entstehen.
Aufgrund der Datenlage sei es schwierig abzuschätzen, welche sozioökonomischen Auswirkungen die Langzeitfolgen haben würden, schreibt das BAG. Erste verlässliche Antworten zu den Kostenfragen wird es Ende Mai geben. Dann will das Bundesamt für Sozialversicherung kommunizieren, wie viele Personen sich aufgrund einer Corona-Erkrankung bei der Invalidenversicherung angemeldet haben.
Kranke Menschen kosten den Staat auf die Dauer viel Geld – nicht nur geschlossene Restaurants und abgesagte Konzerte. Würden die Fallzahlen nun wieder ansteigen, sind sich alle von der Republik angefragten Expertinnen einig, sollte Long Covid bei den nächsten möglichen Öffnungsschritten unbedingt in die wirtschaftlichen Abwägungen miteinbezogen werden.
Aber Long Covid ist nicht nur eine finanzielle Belastung. Viel einschneidender sind die Folgen für die Familien, die Angehörigen und natürlich die Erkrankten selbst, die mit Ängsten und Ungewissheiten umgehen müssen. Martina Huber verzweifelt an manchen Tagen fast daran, nicht zu wissen, woher genau ihre Beschwerden kommen und warum sie sich nach einem Spaziergang erholen muss, als wäre sie die ganze Strecke gerannt.
Sie trauert um das verschwundene Leben und fürchtet sich, dass es für immer so bleiben wird. Und trotzdem ist sie zuversichtlich: «Wenn die Medizin und die Rehabilitation Halbtote zurück ins Leben begleiten können, werde ich es mit der richtigen Therapie hoffentlich auch wieder zurückbekommen.»
Rückblickend wünscht Huber sich, dass die Behörden mehr auf die Risiken von Langzeitfolgen gepocht, die Bedrohung transparent mit allen damit verbundenen Unsicherheiten kommuniziert hätten. «Auch junge Menschen müssen wissen, dass sie durch eine Ansteckung gefährdet sind.»
Das Bundesamt für Gesundheit will diese Informationslücke nun schliessen.
Es schreibt auf Anfrage: «Zur Information der Bevölkerung werden auf unserer Homepage demnächst weitere FAQs aufgeschaltet.»