Covid-19-Uhr-Newsletter

Überraschend überrascht

21.10.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Wer zu spät kommt, dem beschränkts das Leben. Wir waren für den Covid-Herbst – wie erwähnt – lange vorsichtig optimistisch. Die Zahlen bewegten sich zwar in die falsche Richtung – nach oben. Aber immerhin schlenderten sie eher, als dass sie schon rannten.

Offenbar waren wir damit nicht allein. Vor einer Woche sagte der Gesundheitsminister, was da gerade geschehe, so stark und so schnell, das habe man nicht erwartet. Zumindest nicht schon im Oktober. «Ein Rätsel» sei das, für das man keine Erklärung habe.

Nur: Stimmt das?

Wir haben Emma Hodcroft, Molekular-Epidemiologin an der Universität Basel, gefragt.

Es seien «crazy times», schreibt sie uns vor dem Telefontermin. Die steigenden Fallzahlen in der Schweiz und in anderen europäischen Ländern heissen: lange Tage für Epidemiologen. Forschung, Monitoring, Austausch mit Kolleginnen, virtuelle Konferenzen. Und: Wir sind nicht die Einzigen, die bei ihr Antworten, Erklärungen, Good News suchen.

Hello, Frau Hodcroft, what the *£**ç* happened?
Yeah, so … wir haben es mit exponentiellem Wachstum zu tun. Ein schneller Anstieg kommt also für die meisten Wissenschaftlerinnen nicht überraschend. Und doch waren manche etwas verblüfft darüber, just how rapid dieser Anstieg war. Aber nichts davon kommt aus heiterem Himmel: Die Zahlen sind innerhalb dessen, was zu erwarten war. Nur hoffen auch wir Wissenschaftler jeweils auf einen besseren Ausgang als in unseren Worst-Case-Szenarien.

In Schwyz gab es vor ein paar Wochen ein Jodlerfest, wo sich offenbar viele angesteckt haben. Hatten wir einfach Pech? Oder anders: Reichen ein paar solche Ereignisse, um das Feuer so stark anzufachen? Oder waren kleinere Ausbrüche schon so stark gestreut, dass sie zwingend in einen Flächenbrand münden mussten?
Mit Sicherheit kann ich das nicht beantworten. Ich vermute aber, dass beides eine Rolle gespielt hat. Dann auch das kühlere Wetter nach einem langen, trockenen Sommer: Nun treffen wir uns drinnen statt am Grill, wir schliessen Fenster und Türen, das Virus kann sich leichter verbreiten. Und vielleicht gibt es Dinge, die uns im Spätsommer noch geholfen haben und die nun nicht mehr greifen, von denen wir aber gar nicht wissen. Hinzu kommt: Wir waren schlecht vorbereitet. Wenn man mit 50 Fällen in einen rapiden Anstieg startet, ist er viel leichter einzudämmen. Unsere Startposition waren Fallzahlen im mittleren dreistelligen Bereich.

Das sei ein bisschen wie mit einem Velo, sagt Emma Hodcroft. Sind die Bremsen langsam abgenutzt, merkt man das natürlich: Es dauert etwas länger, bis das Velo anhält. Aber eben: Es hält. Dann, etwas später, dauert es nochmals länger. Es funktioniert nicht ganz so, wie es sollte, aber die Bremsen reagieren irgendwann. Also ist es leicht, das Problem aufzuschieben. Bremsklötze austauschen? Lästig. «Aber nun verlassen Sie sich auf eine ganz dünne übrig gebliebene Schicht. Und Sie wären nicht überrascht, wenn Sie eines Tages auf die Bremsen drückten und Ihr Velo einfach weiterführe.»

Egal, welche Statistik man betrachtet: Seit Juli verschlechterte sich die Covid-19-Situation in der Schweiz. Dabei habe sich das Virus in allen Regionen, Altersgruppen und sozialen Konstellationen ausgebreitet, schreibt uns der Epidemiologe Christian Althaus von der Universität Bern. So komme es nun zu Ansteckungen in Situationen, die man bisher zu wenig im Auge gehabt habe.

Die Massnahmen gegen die generelle Verschlechterung waren nur knapp und nur mittelfristig genug, um mit dem Contact-Tracing nachzukommen. Und es war nie genug, um die Verbreitung einzudämmen.

«So brauchte es nur wenig, um uns über die Klippe zu schubsen», sagt Hodcroft. Und das Velo gleich hinterher – denken wir. Und hoffen – wie sie es tut –, dass die neuen Massnahmen wirken werden.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Termin für mögliche weitere nationale Massnahmen. An einer Medienkonferenz sagte Gesundheitsminister Alain Berset heute Nachmittag: «Vor drei Wochen hatten wir eine der besten Situationen europaweit. Jetzt haben wir eine der schlechtesten.» Wenn sich bis kommenden Mittwoch die Dynamik nicht ändere, dann werde der Bundesrat neue Massnahmen beschliessen. Diese würden dann mindestens «Veranstaltungen, Ansammlungen und öffentliche Gebäude» betreffen. Wenn auch das nicht reichen würde, wäre ein Mini-Lockdown eine der diskutierten Optionen.

Wallis beschliesst massive neue Einschränkungen. Der Kanton sei «derzeit [schweizweit] der am meisten von der Covid-19-Pandemie betroffene», schreibt der Staatsrat am Mittwoch in einer Mitteilung. Ab sofort dürfen öffentlich und privat nur noch 10 Personen zusammenkommen. Besuche in Spitälern und Alters- und Pflegeheimen sind ausgesetzt. Restaurants müssen um 22 Uhr schliessen. Unterhaltungs- und Freizeiteinrichtungen wie Kinos und Fitnesszentren sind zu. Und es gilt eine Maskenpflicht in den meisten Gebäuden. Die neuen Regeln gelten voraussichtlich bis Ende November.

Das Personal für die Kontaktverfolgung fehlt. Der Kanton Bern hat zu knapp gerechnet, das sagte Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg gestern Abend in der SRF-Sendung «Club». Das Team sei bei täglich 200 bis 400 neuen Positivbefunden im Kanton nicht gross genug. Innert der letzten 24 Stunden waren es über 500. «Deshalb engagieren wir nun weitere Leute.» Das sei auf dem Arbeitsmarkt aber schwierig.

Lockdowns 2.0 in Europa. Ab morgen gelten in Tschechien und in Irland Massnahmen, die einem landesweiten Lockdown gleichkommen. In Tschechien müssen fast alle Geschäfte schliessen. Ausserdem sollen alle Bürgerinnen ihren Kontakt mit anderen auf das Nötigste einschränken – Familienbesuche und Arbeit sind ausgenommen. Und in Irland dürfen sich ab heute Mitternacht die Menschen nur noch im Umkreis von fünf Kilometern bewegen. Hausbesuche sind weitgehend verboten. Der irische Lockdown soll sechs Wochen dauern.

Neue hochwertige Studie zur Gefährlichkeit von Sars-CoV-2. Die US-Gesundheitsbehörde CDC hat eine Studie veröffentlicht, in der sie den Krankheitsverlauf von Covid-19-Patienten mit jenem von Grippepatienten in Veteranen-Spitälern vergleicht. Fazit: Das Risiko für gängige Komplikationen am Herzen oder im Gehirn ist bei Covid-19 erhöht – und das Risiko, im Spital zu sterben, fünfmal höher als bei der Infektion mit dem Influenzavirus.

Und zum Schluss: Wie läuft es eigentlich in China so?

Seit Montagabend haben wir über 300 Nachrichten von Ihnen bekommen. Selten hat eine volle Mailbox mehr Spass gemacht – merci! Wir werden versuchen, viele Ihrer Fragen aufzunehmen, und beginnen mit derjenigen, die wir am häufigsten gelesen haben: Wie sieht es eigentlich unterdessen dort aus, wo die Pandemie ihren Anfang nahm?

The good: In China erinnert das öffentliche Leben an die Zeit vor der Pandemie. Es gibt (auch wenn nicht alle davon publik werden) nur sehr wenige Neuansteckungen. Auch nach dem Gründungsfeiertag der Volksrepublik Anfang Oktober, wo Millionen Menschen im ganzen Land unterwegs waren, gab es nirgends grössere Ausbrüche. Das Land reagiert auch auf kleine Infektionsherde massiv. Unlängst wurden in der Hafenstadt Qingdao nach einem Ausbruch um ein Spital in einer Woche fast 10 Millionen Menschen getestet.

The bad: China ist eine Diktatur. Es lässt Kritiker der Pandemiebekämpfung verschwinden, fährt eine globale Propagandakampagne, um sich ins beste Licht zu rücken – und behindert kritische Journalistinnen und unabhängige Beobachter, wo es nur kann.

And the really, really ugly: China erprobt Impfstoffe an der eigenen Bevölkerung. Der staatliche Pharmakonzern Sinopharm verteilt Impfdosen ausserhalb von klinischen Studien – nun auch an Studenten, die ins Ausland gehen möchten. Das ist brandgefährlich, einerseits riskieren diese Menschen Nebenwirkungen, andererseits könnte es weltweit das Vertrauen in Impfungen untergraben. Tempo vor Sicherheit – hier eine schlechte Idee.

So viel für heute. Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs und Marie-José Kolly

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Quelle horreur! Gestern wünschten wir unseren Nachbarländern auf Französisch «Merde alors!», weil man mit «merde» eben auch Glück wünschen kann. Leider sind wir da über eine sprachliche Finesse gestolpert – und postwendend in besagter merde gelandet. Korrekt wäre «Je te dis merde!» gewesen. Merci an Eva D. für den Hinweis.