Es ist Krise, und an der Börse profitieren nur die Reichen. Was tun?

Zwei schlechte und vier gute Vorschläge, wie die Politik die Schere zwischen Finanz- und Realwirtschaft schliessen kann.

Von Fabio Canetg (Text) und Christina Baeriswyl (Illustration), 02.03.2021

Jeff Bezos hat seinen Rücktritt angekündigt. Für seine Pension hat der heute 57-jährige Gründer und CEO von Amazon 113 Milliarden Dollar zur Seite gelegt. Er war bereits vor der Pandemie der reichste Mann der Welt. Seither sind nochmals 80 Milliarden Dollar dazugekommen.

Der Grund dafür ist der Börsen­boom. Zwar sind die Kurse zu Beginn der Pandemie kurz in den Keller gerasselt. Doch bald ging es wieder aufwärts. Inzwischen steht die US-Börse bereits 20 Prozent höher als vor der Pandemie.

Jubelstimmung an der Börse

Aktien in den USA

Logarithmische Skala200020052010201520203914100020004000

Abgebildet ist der Aktien­index S&P 500. Quelle: Yahoo Finance.

Im Rückblick zeigt sich: Das ist keine neue Entwicklung. Seit gut einem Jahrzehnt kennen die Finanz­märkte fast nur noch eine Richtung: nach oben. Und zwar praktisch überall auf der Welt. Auch in der Schweiz hat die Börse gegenüber dem Krisenjahr 2009 um sagenhafte 155 Prozent zugelegt.

Das ist erstaunlich. Denn im Gegensatz dazu ist die hiesige Wirtschaft nur um 20 Prozent gewachsen. Die Löhne stiegen im selben Zeitraum gar nur um 7 Prozent. Erst die Eurokrise, dann die Franken­stärke und zuletzt die Corona-Pandemie: All das hat die Realwirtschaft zurückgehalten.

Woher kommt dieser Gegensatz?

Muss man etwas dagegen tun?

Und wenn ja, was?

Was Konservative dazu sagen

Eine Sichtweise dazu ist in der Finanz­presse häufig zu lesen. Vertreten wird sie in der Schweiz etwa von Aymo Brunetti, Wirtschafts­professor an der Universität Bern. Gemäss dieser Sicht tragen die Zentral­banken die Hauptschuld dafür, dass die Immobilien- und Aktien­preise unablässig steigen und dabei scheinbar den Bezug zur realen Wirtschaft verlieren.

«Der geldpolitische Ausnahme­zustand trägt zu blasen­artigen Übertreibungen bei», schrieb Brunetti schon vor Ausbruch der Pandemie in einem längeren Aufsatz zum Thema. Er erachtet es zwar als richtig, dass Zentral­banken in einer Krise beherzt agieren – so, wie sie es während der Finanzkrise und auch in der Corona-Krise taten. Allerdings hätte sich Brunetti im Nachgang zur Finanzkrise eine raschere «Normalisierung» der Geldpolitik gewünscht.

In allen wichtigen Währungs­räumen ausser den Vereinigten Staaten blieben die Zinsen nach der Krise nahe bei null. Der Leitzins der Schweizerischen Nationalbank (SNB) ist seit 2015 sogar negativ. Das heisst: Wer zu viel Geld auf dem Konto hat, muss darauf einen Zins bezahlen. Damit versucht die National­bank, den Franken vor einer zu starken Aufwertung zu bewahren.

Die Nebenwirkungen dieser Geldpolitik seien, so die konservative Ansicht, dass Vermögens­werte übermässig an Wert zulegen würden. Anleger würden auf der Suche nach Rendite jedem die Türe einrennen, der eine Aktie zu verkaufen habe. Das treibe die Preise nach oben – auch dann, wenn es dafür keinen wirklichen Grund gäbe – und sei eine Gefahr für die Finanzstabilität.

Die Folgen davon: eine Finanzblase, die irgendwann platzen werde, sinkende Börsen­kurse, kollabierende Banken – kurz: eine erneute Wirtschafts­krise. Nur höhere Zinsen könnten uns vor diesem Schreckens­szenario bewahren, so die Schluss­folgerung von Brunetti.

Mit dieser Einschätzung ist der ehemalige Chefökonom des Bundes nicht alleine. Und sein Wort hat zu Recht Gewicht: Die Zentral­banken sind nämlich nicht nur der Preisstabilität, sondern auch der Finanz­stabilität verpflichtet.

Trotzdem wäre es problematisch, jetzt die Zinsen anzuheben.

Für die Schweiz liegt auf der Hand warum: Würde die SNB ihre Negativ­zinsen abschaffen, wäre es für Investorinnen noch attraktiver, Geld auf Schweizer Bankkonten zu lagern. Der Franken würde stärker, die Exporte teurer. Zum Skifahren nach Adelboden oder Zermatt kämen nur noch die superreichen Ausländer; Schweizerinnen würden derweil in Scharen ins billige Ausland fahren. Eine neuerliche Rezession wäre unausweichlich.

Brunetti und Co. schieben den Schwarzen Peter deshalb gerne an die Europäische Zentralbank (EZB) weiter: Sie hätte früher aus der Tiefzins­politik aussteigen sollen.

Das ist aber eine seltsame Kritik. Denn die Europäische Zentralbank hat ebenso wie die Schweizerische Nationalbank den Auftrag, die Preise stabil zu halten. Das gelingt ihr aber nicht: Die Teuerung rutscht immer wieder ab. Da spielt es auch keine Rolle, dass die Börsen­kurse steigen. Der Auftrag ist über die Konsumenten­preise definiert, nicht über die Preise von Anlagen.

Die Konsumentenpreise sinken

Inflation im Euroraum

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Quelle: Eurostat.

Was wäre passiert, wenn die EZB die Zinsen im Anschluss an die Eurokrise erhöht hätte? Die Antwort ist einfach: Die Teuerung wäre noch tiefer gefallen. Das ist so, weil höhere Zinsen Investitionen verteuern und damit den Wirtschafts­gang bremsen. Das verunmöglicht es dem Metzger oder der Floristin, höhere Preise durch­zusetzen. Auch Brunetti bestreitet das nicht.

Die Zentral­banken sollten sich deshalb mit einer tieferen Teuerung zufriedengeben, wird oft gesagt. Das hätte allerdings weitreichende Folgen: Ein tieferes Teuerungs­ziel reduziert die Zinsen nämlich zusätzlich.

Zins­erhöhungen wären deshalb nur eine kurze Freude. Rasch wäre die Konjunktur abgewürgt, und die Geldpolitik müsste wiederum gelockert werden – das Gegenteil dessen, was konservativen Ökonomen vorschwebt.

Die Ideen der Linken

Doch nicht nur von konservativer Seite werden die Zentral­banken kritisiert. Auch von links: Die Geldpolitik käme nicht bei den «gewöhnlichen» Leuten an, schreibt Frances Coppola, eine bekannte Wirtschafts­kommentatorin, in ihrem Buch «The Case For People’s Quantitative Easing».

Coppola sagt: Das Geld, das die Zentralbanken bereitstellen, fliesse nur in die Finanz­märkte. Die Lokführerin und der Klavier­lehrer würden von den milliarden­schweren Kauf­programmen kaum etwas merken.

Zur Erinnerung: In der Finanzkrise setzte die Federal Reserve in den USA erstmals auf ein solches «Quantitative Easing»-Programm. Dabei kauft eine Zentralbank Wertpapiere, um das Finanz­system mit Liquidität zu versorgen und die langfristigen Zinsen tief zu halten. Die Europäische Zentral­bank wandte dieses Mittel erstmals während der Eurokrise an. Aktuell greifen beide Zentral­banken erneut auf das Instrument zurück.

Auch Coppola hat nicht ganz unrecht. Das Zentral­banken­geld bleibt tatsächlich im Finanz­system. So stehen den Schweizer Banken heute rund 19-mal mehr elektronische Franken zur Verfügung als vor zehn Jahren. Der Geldumlauf in der Realwirtschaft hat sich derweil nicht einmal verdoppelt.

Der Börsenboom sei also nicht primär auf die tiefen Zinsen zurückzuführen, so Coppola. Sondern darauf, dass die Geldpolitik nicht dort ankomme, wo sie traditioneller­weise ihre Wirkung entfalte: bei den Firmen und Haushalten.

Entsprechend setzt ihr Rezept gegen die Börsen­ausschweifungen auch an diesem Punkt an: Die Zentral­banken sollen Geld direkt an die Bevölkerung verschenken. In der Fachliteratur heisst dieses Helikoptergeld.

Ähnliches fordern Vertreterinnen der Modern Monetary Theory. Dazu gehören Stephanie Kelton von der Stony Brook University in New York und die US-Kongress­abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Sie fordern: Die Zentralbank soll neues Geld drucken, um das Staatsdefizit zu finanzieren, sprich, um grosszügige Konjunktur- und Sozial­programme zu ermöglichen.

Solche Programme würden die Wirtschaft zweifellos in Schwung bringen. Doch auch dieser Vorschlag hat einen Haken: Verschenktes Geld kann nicht zurückgefordert werden, ein geldpolitisches Brems­manöver wird unmöglich. Die Zentralbank käme unter politischen Druck, ihre Geld­geschenke an die Bevölkerung oder an den Staat auch bei hoher Inflation weiterzuführen.

Das ist gefährlich. Kommt zu viel Geld in Umlauf, so verliert es an Wert. Der Klavier­lehrer und die Lokführerin hätten zwar mehr Zwanziger­noten in der Tasche. Doch das würde nichts bringen: Statt für ein Mittags­menü würde eine Zwanziger­note nur noch für einen kleinen Salat reichen.

So weit ist es zwar noch nicht. Doch die Kritik der unheiligen Allianz von Konservativen und Linken wird lauter. Dabei sind sie sich einig: Die Börsen sind ausser Rand und Band – die Zentral­banken machen etwas falsch.

Aber stimmt diese Erzählung überhaupt?

Die halbfertige Diagnose

Um die Antwort vorwegzunehmen: Sie stimmt nur zum Teil. Wer auf die Börse blickt und sogleich «Blase!» ruft, übersieht zwei wichtige Dinge.

Einerseits, dass Finanzmärkte vorausschauend sind.

Die Preise von Aktien spiegeln nicht die aktuelle Wirtschafts­lage. Sondern die Erwartungen der Anleger über die zukünftigen Gewinne von Unternehmen. Egal wie schlecht die Lage während einer Krise auch ist: Sobald sich die Aussichten aufhellen, steigen die Aktienpreise.

Aus dieser Perspektive ist die Börsenrally mitten in der Corona-Pandemie keine Überraschung. Der wirtschaftliche Ausblick hat sich im Verlauf des vergangenen Jahres nämlich kontinuierlich verbessert. In einem ersten Schritt haben die Zentral­banken verhindert, dass der Börsen­crash in eine Finanzkrise eskaliert ist. Kurze Zeit später wurde plausibel, dass ein Impfstoff dem Virus in nicht allzu ferner Zukunft den Schrecken nehmen wird.

Deshalb macht es Sinn, wenn die Börsen den Aufschwung, auch wenn dieser erst in ein oder zwei Jahren einsetzen wird, heute schon vorwegnehmen.

Andererseits spielen langfristige Trends in die Börsen­entwicklung hinein.

Sinkende Zinsen, über die sich die Finanz­gemeinde so gerne beklagt, sind nämlich kein Phänomen der letzten zehn Jahre. Sondern eines der letzten Jahrzehnte. Also viel länger als die Zentral­banken ihre Tiefzins­politik betreiben.

Gründe dafür gibt es mehrere. Prominent unter ihnen, so glaubt die Fachwelt, figurieren der demografische Wandel, das nachlassende Wirtschafts­wachstum und die Globalisierung. Diese Trends haben das Zinsniveau über die Jahrzehnte auf natürliche Weise sinken lassen.

30 Jahre Sinkflug

Anleiherenditen in der Schweiz

1990200020102020−0,5 %0,02,04,06,0 %

Renditen auf Eidgenössische Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit. Quelle: SNB.

Die langfristigen Trends haben im Umkehr­schluss dazu geführt, dass die Preise von Finanz­anlagen gestiegen sind. Denn wenn die Zinsen von Natur aus fallen und tief bleiben, so ist es auch gerechtfertigt, für eine Aktie oder Immobilie einen hohen Preis zu bezahlen.

Ein Teil des Börsenbooms ist also auch ohne Geldpolitik gut erklärbar.

Doch die Zentral­banken tragen auch ihren Teil dazu bei, dass an der Wall Street fast wöchentlich neue Rekorde geschrieben werden. Zum einen mit ihren Wertpapier­käufen, dem «Quantitative Easing»: Die Zentral­banken treten direkt am Markt in Erscheinung und kaufen Aktien und Obligationen.

Und zum anderen mit ihren Versprechen. Als Reaktion auf die Krisen haben die Zentral­banken nämlich nicht nur grosszügig Geld zur Verfügung gestellt. Sie haben sich auch verpflichtet, die Zinsen noch jahrelang tief zu halten.

So ging man in der Eurozone noch im Januar letzten Jahres davon aus, dass die Zinsen ab 2021 wieder steigen würden. Heute erwartet niemand mehr eine Zins­erhöhung vor 2024. Und auch die amerikanische Federal Reserve hat signalisiert, dass die Zinsen mindestens bis 2023 nahe null bleiben. Geld auf dem Bankkonto liegen zu lassen, wird dadurch noch unattraktiver.

Wer sich dereinst frühpensionieren lassen möchte – und noch nicht 193 Milliarden Dollar auf der Seite hat wie Señor Bezos – muss also umsatteln, um sein Sparziel zu erreichen. Beispiels­weise auf Aktien. Als Folge davon steigen die Kurse. Der Börsen­boom nährt sich also nicht nur aus langfristigen Trends und besseren Zukunfts­aussichten. Die Aktien­kurse steigen auch, weil die Zentral­banken die anderen Anlage­formen aktuell unattraktiver machen.

Das bedeutet: Man darf die Geldpolitik angesichts der zunehmenden Vermögens­ungleichheit durchaus hinterfragen. Doch es ist nicht die einzige Einfluss­grösse, der einzige politische Hebel, den man sich anschauen sollte.

Die besseren Lösungen

Mit anderen Worten: Man muss von der engen Sichtweise wegkommen, die im konservativen und linken Diskurs rund um Zentral­banken momentan propagiert wird. Und vier alternative Optionen ins Auge fassen, um dem Auseinander­driften von Finanz- und Realwirtschaft entgegenzuwirken.

Erstens: steuerliche Umverteilung. Wer sich daran stört, dass Vermögende riesige Gewinne auf ihre Aktien einfahren, kann eine Steuer auf Kursgewinne fordern. Theoretisch denkbar wäre ein Satz von 100 Prozent: Anlegerinnen müssten dann ihren ganzen Börsen­gewinn an den Staat abliefern.

Dieser könnte das Geld gleichmässig an die Einwohner verteilen. So würden alle vom Börsen­boom profitieren. Höhere Steuern wären auch auf Dividenden, auf Erbschaften oder generell auf Vermögen denkbar. Das wäre ganz im Sinne Coppolas: Eine stärkere Umverteilung würde die zunehmende Vermögens­ungleichheit zwischen Anlegern und Arbeiterinnen reduzieren. Indirekt käme die Geldpolitik so allen zugute.

Was damit noch nicht adressiert wäre, ist die Finanz­stabilität. Die Gewinne wären zwar fairer verteilt – doch die Börsen wären immer noch im Hoch.

Zweitens könnten Staaten deshalb ihre Finanz­markt­regulierung verschärfen. Momentan müssen etwa die Schweizer Banken nur rund 5 Prozent hartes Eigen­kapital halten (dazu kommt ein kleiner Zusatz­puffer, der zur Deckung von Verlusten herangezogen werden kann). Das bedeutet: Die Banken kommen bereits in die Bredouille, wenn ihre Anlagen mehr als 5 Prozent an Wert verlieren.

Dass ein solches Eigenkapital­polster äusserst dünn ist, beweist ausgerechnet die Schweizerische National­bank. Ihre Eigenmittel belaufen sich auf satte 18 Prozent des Anlage­vermögens. Würden die Banken mit ähnlich hohem Eigenkapital operieren wie die SNB, wäre das Finanz­system deutlich stabiler.

Wer vor Übertreibungen am Aktien­markt warnt, sollte also eine schärfere Banken­regulierung fordern. Das würde den Börsen­boom zwar nicht aufhalten. Die Banken könnten dadurch aber grössere Verluste tragen.

Drittens könnte eine spendablere Fiskal­politik die Börsen­kurse wieder in ein Gleichgewicht mit der Realwirtschaft bringen. Das bedeutet: Staaten verzichten auf Spar­programme und machen stattdessen mehr Schulden.

Dass die Zinsen überhaupt so tief sind, hängt mit dem harten Sparkurs während der Eurokrise zusammen. Die europäischen Staaten und ihre Finanz­minister würgten damals die Konjunktur richtiggehend ab. Anders als in den USA liessen sie keine hohen Defizite zu. In der Folge musste die Europäische Zentral­bank ihre Geldpolitik umso expansiver gestalten.

Europa macht weniger Schulden

Staatsdefizit, in Prozent des BIP

Eurozone
USA
2007201020152020+0+10+20 %

Quelle: IWF.

Höhere Staats­ausgaben würden die Zinsen dagegen nach oben treiben. Das zeigt sich aktuell in den USA: Seit so gut wie klar ist, dass Präsident Joe Biden sein Stimulierungs­paket über 1,9 Billionen Dollar im Kongress durchbringen wird, steigen die Anleihe­renditen und die erwartete Teuerung. Das wird der Federal Reserve erlauben, früher aus ihrer Nullzins­politik auszusteigen.

Viertens – und hier schliesst sich der Kreis – sollten die Zentral­banken ihre geldpolitischen Strategien überarbeiten. Und zwar mit dem Fokus aufs Inflations­ziel. Dieses liegt in der Schweiz zwischen 0 und 2 Prozent, in Europa nahe bei 2 Prozent und in den Vereinigten Staaten bei 2 Prozent.

Das ist problematisch. Die tiefe Teuerung hat nämlich einen unangenehmen Begleiter: den tiefen Zins. Das bestätigt auch SNB-Präsident Jordan: «Wenn das Geld auf dem Sparkonto dank geringerer Inflation seinen Wert behält, braucht der Zins darauf nicht für eine Geld­entwertung zu entschädigen.»

Dass die Zinsen heute nahe bei null oder sogar negativ sind, liegt also auch daran, dass Zentral­banken wie die SNB ein tiefes Inflations­ziel verfolgen.

Wäre die Inflation höher, so hätten Zentral­banken mehr Spielraum, um in Krisen zu reagieren. Sie würden seltener an die Nullzins­grenze stossen und müssten weniger häufig auf unkonventionelle Methoden zurückgreifen. Das würde der Finanz­stabilität helfen und die Vermögens­ungleichheit mindern.

Fazit

Dass die Börsen­kurse in astronomische Höhen steigen, während sich viele Menschen fragen, wie sie bis Ende Monat über die Runden kommen sollen, ist ein echtes Problem. Es befeuert gesellschaftliche Spannungen und führt dazu, dass sich ein Grossteil der Bevölkerung zunehmend abgehängt fühlt.

Zinserhöhungen oder Helikopter­geld sind jedoch dazu nicht geeignet, das Problem zu beheben – geldpolitische Schnell­schüsse sind der falsche Weg.

Stattdessen braucht es andere Massnahmen. Am schnellsten wirkt die Fiskal­politik: Wenn sich die Regierungen dazu durchringen, in der jetzigen Krise nicht zu sparen, sondern tüchtig Geld auszugeben, profitiert davon nicht nur die arbeitende Bevölkerung – sondern es ermöglicht den Zentral­banken auch, früher aus ihrer expansiven Geldpolitik auszusteigen.

Ganz wegzaubern lassen sich die hohen Kurse aber nicht: Zu einem Teil sind sie auch das Resultat weltweiter Trends, die sich kaum beeinflussen lassen. Mittelfristig entschärfen lassen sich die Begleit­erscheinungen des Börsen­booms mit mehr Umverteilung und strengeren Finanzregulierungen.

Die Zentralbanken schliesslich sind langfristig gefordert. Sie sollten eine höhere Inflation anstreben und so dafür sorgen, dass sie seltener auf unkonventionelle Instrumente zurückgreifen müssen. Das spielt besonders dann eine grosse Rolle, wenn es die Politik verpasst, selbst aktiv zu werden.

Zum Autor

Fabio Canetg hat an der Universität Bern und an der Toulouse School of Economics zum Thema Geld­politik doktoriert. Heute ist er Dozent an der Universität Neuenburg. Als freischaffender Journalist schreibt er für die Republik und «Swissinfo», wo er auch den Geldpolitik-Podcast «Geldcast» moderiert.