Coronamüde? Wir auch. Was uns im Herbst, Winter und Frühling erwartet.
Sie sitzen daheim, haben die Schnauze voll und sehnen sich zum ersten Mal in Ihrem Leben nach einer Impfnadel? Wir haben ein paar Neuigkeiten. (Auch gute.)
Von Marie-José Kolly (Text) und Martin Fengel (Illustrationen), 16.09.2020
Es ist Dienstag, es ist September, für die Velofahrt zu den Redaktionsräumen wären Handschuhe gar nicht so schlecht gewesen. Der bange Gedanke: Bald werden die Temperaturen noch virusfreundlicher. Der nächste Gedanke: Es ist wieder einmal Zeit für einen Anruf bei Epidemiologe Marcel Salathé. Um Punkt 10 Uhr geht er ran.
Hallo, Herr Salathé, sind Sie auch coronamüde?
«Ja. Wer ist das nicht? Lassen Sie sich davon nicht ablenken!», sagt Salathé. «Wir haben so vieles geschafft. Jetzt gilt es noch, den Winter gut herumzubringen, und dann bin ich zuversichtlich.»
Auf was genau?
«Zuversichtlich, dass die Pandemie unser Leben bald nicht mehr dominieren wird, unseren Alltag weniger stark einschränkt.» Dazu brauche es noch etwas Arbeit – von Forschern, Logistikerinnen, Kantonen.
Mehr dazu: später.
Tags darauf holt das Videotelefon Zoom das Arbeitszimmer des Immunologen Daniel Speiser auf den Redaktionsbildschirm. Er ist auch coronamüde.
Herr Speiser, mit welchen – evidenzgetriebenen – Gefühlen blicken Sie auf die kommenden Monate?
«Mit gemischten Gefühlen.»
Warum?
«Wir wissen einfach noch nicht, ob wir die Infektionszahlen im Griff behalten können. Nimmt die Krankheit überhand, fällt das öffentliche Leben auseinander. Viele Leute ziehen sich von allein zurück, die Wirtschaft lahmt.»
Was können wir dagegen tun? Worauf hoffen? Mehr dazu: später.
Speiser ist zuversichtlich: «Wir müssen einfach noch ein bisschen auf die Zähne beissen», sagt er, «und ich glaube, das geht besser, wenn wir das Problem sachlich anschauen können. Wenn alle wissen, worum es geht.»
Dieses Wissen ist zentral. Marcel Salathé betont das Wort public in public health. «Am besten funktioniert health, das zeigt uns die Geschichte der Epidemiologie, wenn the public die Strategien gegen die Pandemie erstens kennt und zweitens mitträgt. Sonst sind wir zum Scheitern verurteilt.»
Darüber haben wir mit Salathé und Speiser gesprochen. Über die Strategien, die bereits bekannten und die künftig möglichen. Aus ihrem Wissen, ihren Einschätzungen, ihren Unsicherheiten und dem, was die weitere Forschungslandschaft hervorgebracht hat, ist entstanden: ein Realitätscheck für Herbst, Winter und Frühling.
Von Corona-Müden für Corona-Müde.
Seit dem Frühling wartet gefühlt die ganze Welt auf einen Impfstoff. Wann ist er bereit?
Es kommt darauf an, wen Sie fragen. Und – wir kommen noch dazu – es kommt auch darauf an, wie Sie fragen.
Zuerst dazu, wer was sagt.
Die amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC): Die Behörde hat Ende August alle US-Bundesstaaten zur Bereitschaft aufgerufen: für den Fall, dass zwei Impfstoffe, die zurzeit noch in klinischen Versuchen getestet werden, auf den späten Oktober oder frühen November schon zugelassen würden. (Die beiden Impfstoffe werden zwar nicht explizit mit Namen genannt, die Beschreibungen passen aber auf die Projekte der Firmen Pfizer und Moderna.) Das wäre – vielleicht nicht ganz zufällig – eine Punktlandung auf die Präsidentenwahl vom 3. November hin.
Kurz darauf haben mehrere Pharmaunternehmen gemeinsam öffentlich Stellung genommen. Sie geloben, die Zulassungsgesuche für ihre Stoffe erst einzureichen, falls und nachdem die letzte Phase des jeweiligen klinischen Versuchs die Wirksamkeit und die Sicherheit demonstriert haben wird. Implizit heisst das: Sie wollen sich von der Trump-Administration, die eine Beschleunigung der Prozesse in Aussicht gestellt hat, nicht unter Druck setzen lassen. Einzelne Wissenschaftler und Mitglieder der amerikanischen Zulassungsstelle, der Food and Drug Administration, versprachen, eher zu kündigen, als zuzulassen, dass der Regulierungsprozess abgekürzt wird.
Die Firma Moderna, die der Schweiz 4,5 Millionen Impfdosen zugesichert hat: Blieb der Republik bis Redaktionsschluss eine Antwort schuldig. Ebenso die Eidgenössische Kommission für Impffragen.
Die Firma Pfizer, die ihren Stoff wie Moderna in der letzten von drei Versuchsphasen testet: Will in den Vereinigten Staaten schon im Oktober ein Zulassungsgesuch einreichen. Andere Firmen planen, bis Ende Jahr parat zu sein.
Die schweizerische Zulassungsstelle Swissmedic: «Das kann ich nicht prophezeien», sagt Jörg Schläpfer, Mitglied der Geschäftsleitung, am Telefon zur Republik. «Die Firmen entscheiden, wann sie ein Zulassungsgesuch einreichen.»
Wissen Sie denn, wann Moderna so weit sein will?
«Dazu dürfen wir nichts sagen, Informationen aus Firmengesprächen sind nicht öffentlich.»
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG): Kann auch noch nichts sagen. «Es hängt davon ab, wann der Moderna-Impfstoff die klinischen Tests durchlaufen haben wird und anschliessend zugelassen werden kann», schreibt die Medienstelle. Es könne immer zu Verzögerungen kommen. Und: «Parallel sind wir im Gespräch mit anderen Unternehmen.» Da heute noch nicht klar sei, wer sich durchsetzen werde, erhöhe ein diversifiziertes Vorgehen die Chancen auf einen schnellen und sicheren Zugang zu einem zukünftigen Impfstoff.
Der Epidemiologe Marcel Salathé: «Das ist eine Frage für einen Immunologen.»
Der Immunologe Daniel Speiser: «Genaue Zeitangaben wie ‹Ende November› kann man nicht machen – das grenzt an Unfug. Solche Angaben, etwa in den USA oder Russland, sind machtpolitisch motiviert.»
Okay, zum Glück hat die Republik kein Problem mit ungenauen Zeitangaben – im Gegenteil.
Nochmals Speiser: «Wenn es richtig gut läuft, sehen wir vielleicht schon vor Ende 2020 eine Zulassung in den USA. Und dann, auch wenn alles gut läuft, vermutlich einige Wochen später eine in der Schweiz.»
Und wenn es schiefläuft?
Speiser: «Dann vielleicht sogar erst nach Ende 2021.»
Warum ist die Spanne zwischen all diesen Terminangaben so breit? Das lässt sich am Fall der Firma Astra Zeneca erklären, die zusammen mit Forschenden der Universität Oxford einen Impfstoff entwickelt:
Anfang September hat sie ihre klinischen Versuche auf Eis gelegt, weil eine Testperson eine möglicherweise gefährliche Entzündung entwickelte. Es war unklar, ob diese als Nebenwirkung des Impfstoffs auftrat oder unabhängig davon. Eine knappe Woche später konnte man Teile der Studie wieder aufnehmen.
Es ist durchaus üblich, dass ein klinischer Versuch aus Sicherheitsgründen unterbrochen wird. Und Astra Zeneca hat damit bisher nur wenig Zeit verloren. «Aber in anderen Fällen kann es mehrere Wochen kosten, einen solchen Zwischenfall zu untersuchen», sagt Immunologe Speiser. Ob und wie es dann weitergehe, wisse jeweils niemand: «Das kann, wie bei Astra Zeneca, eine kurze Episode sein – oder gar das Ende dieses Projekts.» So oder so verzögert sich damit der Termin, an dem das Mittel auf den Markt kommen könnte.
So kann es jedem Projekt ergehen. Aber die Welt hat ja mehrere Pferde im Rennen (oder Velos, wenn Sie das vorziehen). «Vermutlich werden viele davon auf der Strecke bleiben – weil sie sich als zu wenig sicher oder zu wenig wirksam herausstellen», sagt Speiser.
Ich will es genauer wissen: Wie wird der Moderna-Impfstoff entwickelt?
Die Impfstoffe, die zurzeit in verschiedenen klinischen Phasen stecken, basieren auf unterschiedlichen Technologien. Die Firmen Moderna und Pfizer entwickeln neuartige, sogenannte mRNA-Impfstoffe. Das Botenmolekül mRNA trägt Erbinformation als eine Art Bauanleitung für das Stachelprotein, mit dem Sars-CoV-2 an menschliche Zellen andockt, in den Körper. So können die Zellen das Protein selber herstellen und das Immunsystem darauf trainieren, es zu erkennen und Antikörper dagegen zu produzieren.
Bisher hat es zwar noch nie ein Impfstoff auf mRNA-Basis auf den Markt geschafft, aber die Resultate der klinischen Versuche sind vielversprechend. Der grösste Vorteil dieser Technologie: Sie ist schnell. Man kann mRNA direkt von der Virussequenz ableiten. Und man kann in kurzer Zeit sehr viel Impfstoff herstellen, sogar noch vergleichsweise günstig. (Viel aufwendiger ist es zum Beispiel, jeweils den Grippeimpfstoff in Hühnereiern zu züchten.)
«Viele Fachleute sind der Meinung, dass das einen guten Impfstoff abgeben könnte», sagt Daniel Speiser über den mRNA-Ansatz. Diese Firmen hätten zwar einen Rückstand in Sachen Erfahrung, dafür seien sie spezialisiert auf Tempo. Bei Entwicklungen mit den bewährten Impfstoff-Technologien gebe es dafür vielleicht weniger ungünstige Überraschungen. Aber das seien «Wahrscheinlichkeitsüberlegungen». Genaue Voraussagen sind nicht möglich.
Generell arbeiten mehrere Forschungsteams an mehreren Standorten mit Pharmafirmen zusammen, insgesamt sind zurzeit über 30 Projekte so weit, dass sie schon an Menschen getestet werden. Der Geschwindigkeit halber haben Firmen die Produktionsmaschinen schon angeworfen, als sich die Impfstoffe noch in den ersten Testphasen befanden.
In standardisierten klinischen Studien testet man Heilmittel in drei Phasen an Menschen:
Man testet das Mittel auf Sicherheit und Verträglichkeit hin.
Man ermittelt seine optimale Dosierung.
Man prüft in einer grossen Stichprobe von Testpersonen, ob sich seine Wirkung von der eines Placebos statistisch signifikant unterscheidet und welche Nebenwirkungen dabei auftreten.
Die Mittel der Firmen Moderna und Pfizer sowie 7 weitere Projekte befinden sich zurzeit in der dritten Phase ihrer klinischen Versuche. Moderna etwa hat Ende Juli damit begonnen, 30’000 Erwachsene in verschiedenen amerikanischen Gliedstaaten zu rekrutieren. Testpersonen sollen bis zu zwei Jahre lang beobachtet werden.
Klingt zwar etwas langwierig, aber super. Kann sonst noch etwas schiefgehen?
Ehm – ja. Denn durch Forschung allein gelangt kein Impfstoff in Ihren Körper. Damit wären wir jetzt bei der Frage, wie «Impfstoff bereit» gemeint ist. Das kann nämlich heissen:
Ein Mittel hat alle Phasen des klinischen Versuchs durchlaufen und wurde für sicher und wirksam befunden.
Oder: Es ist in der Schweiz zur Zulassung eingereicht worden.
Oder: Es ist zugelassen (das heisst: Die Zulassungsstelle hat die Dokumentation aus den klinischen Versuchen geprüft und für gut befunden).
Oder: Es ist in so grossen Mengen produziert und abgepackt worden, dass es auch für die Schweiz reicht. Es steht bereit für den Transport.
Oder: Ihre Hausärztin hat es erhalten und hat Zeit für Sie. Sie hat das Mittel in die Spritze gezogen und Ihren Oberarm desinfiziert. Es kann losgehen.
Es gibt noch erhebliche Unsicherheiten, was die Wirksamkeit der Impfstoffe, den Zulassungsprozess und all die kleinen und grossen logistischen Hürden angeht. Klingt ziemlich abstrakt, ist aber hoch spannend, denn über die Forschungsergebnisse hinaus spielen verdammt viele Faktoren eine Rolle dabei, ob und wann diese Nadel Sie endlich sticht.
Wenn Sie nun denken, damit wären die grössten Hürden abgehakt, dann liegen Sie vermutlich falsch. Die allergrösste Hürde, sagt Immunologe Daniel Speiser, werde vermutlich sein, dass sich viele Menschen nicht impfen lassen werden wollen. Auch deshalb seien saubere Standards bei Entwicklung und Zulassung so wichtig: Alles andere schüre auch Misstrauen bei den Personen, die Impfungen grundsätzlich positiv gegenüberstünden.
Also, etwas ausführlicher und der Reihe nach.
Die Hürden bei der Wirksamkeit: Es kann gut sein, dass zumindest manche der entwickelten Impfstoffe nicht einen kompletten, sondern nur einen partiellen Schutz bieten werden. Zum Beispiel Schutz vor schwerer Lungenkrankheit – aber nicht vor Symptomen im oberen Atemtrakt. Erfahrene Forschende fürchten, dass die Wirkstoffe enttäuschen werden und dass so das Vertrauen in die Impfstoffe erodiert. Virologe Christian Drosten hält dem in der «Zeit» entgegen: «Selbst wenn sie keinen vollständigen Schutz böten, würden sie die Verbreitung des Virus deutlich verlangsamen und die Krankheit weniger schwer verlaufen lassen. Das sollten wir nicht zerreden.»
Möglich ist auch, dass ein Impfstoff für bestimmte Bevölkerungsgruppen – sagen wir jüngere Menschen – wirksamer ist, ein anderer für ältere (dafür hätte er vielleicht mehr Nebenwirkungen). Solche Resultate werden vermutlich erst Schritt für Schritt eintreffen. Sobald es dann ein breiteres Bild der verschiedenen, sicheren, wirksamen und zugelassenen Mittel gibt, kann man sie entsprechend kombinieren.
Die Hürden bei der Zulassung: Ein sicherer, wirksamer Impfstoff muss von einer staatlichen Stelle zugelassen werden – dann erst kommt er auf den Markt. In den Vereinigten Staaten ist dafür die Food and Drug Administration zuständig, in der Schweiz ist das die Swissmedic. Dort prüfen interdisziplinäre Teams die Resultate aus den klinischen Studien, sie klären mögliche immunologische Probleme und die Qualität der Herstellung ab. Vielleicht stellen sie auch Rückfragen an das Pharmaunternehmen, formulieren Bedenken, warten auf Antworten. Das braucht alles Zeit.
Da es gerade eilt, gibt es die Möglichkeit, vor Abschluss der Forschung ein Gesuch für ein beschleunigtes oder befristetes Zulassungsverfahren einzureichen. Das Schweizer Heilmittelgesetz sieht dies zum Beispiel bei lebensbedrohenden Krankheiten vor, wenn das Arzneimittel vereinbar ist mit dem «Schutz der Gesundheit», man von ihm einen «grossen therapeutischen Nutzen» erwartet und in der Schweiz kein zugelassenes, anwendbares, «gleichwertiges Arzneimittel verfügbar ist». Kurz: wenn der erwartete Nutzen grösser ist als die potenziellen Risiken.
Der Ruf nach Beschleunigung birgt die Gefahr, dass Beteiligte vom üblichen Qualitätsstandard abweichen und unsichere oder wenig wirksame Stoffe zugelassen werden. Und: Ist ein Stoff einmal auf dem Markt, wird es schwierig, Testpersonen zu finden für andere Medikamente oder Impfstoffe. Viele wollen sich dann nicht mehr auf eine Studie einlassen, bei der sie zufallsmässig Placebo statt Wirkstoff erhalten könnten.
Um Sicherheitsrisiken, die sich aus der Beschleunigung ergeben könnten, auszuschliessen, tauschten sich «alle Beteiligten bereits in einer frühen Phase der mehrstufigen Verfahren aus», schreibt uns Lukas Jaggi, Mediensprecher bei Swissmedic. Man halte Ressourcen bereit und plane zurzeit etwa Prozesse parallel, die sonst nacheinander abliefen. Gesuche im Zusammenhang mit Covid-19 behandle man «prioritär, ohne die wissenschaftliche Prüfung ‹abzukürzen›, denn die Arzneimittelsicherheit geht vor».
Geht es schneller, wenn ein Impfstoff anderswo, etwa in den USA, schon zugelassen wurde?
«Wir sind im Austausch mit vielen Zulassungsbehörden und kennen jeweils die Schlüsse, die andere aus ihrer Begutachtung ziehen», sagt Jörg Schläpfer von Swissmedic. «Aber wir prüfen unabhängig davon jedes Gesuch selber auf Sicherheit, Wirksamkeit und hohe Qualität des Impfstoffs.»
Die Hürden für die Logistik: Ein zugelassener Impfstoff muss in grossen Mengen hergestellt und dann zum Beispiel in spezielle Glasampullen – bei denen es Engpässe gibt – abgepackt werden. Manchmal liegt zwischen diesen beiden Schritten noch ein Transport. Sind die abgepackten Impfdosen einmal bereit, geht es an den weltweiten Vertrieb.
Dazwischen muss man das Zeug irgendwo lagern. Den von der Schweiz bestellten Moderna-Impfstoff bei minus 20 Grad, den von Pfizer sogar bei noch tieferen Temperaturen. Das heisst, dass eine sogenannte Kühlkette bereitstehen muss: für den gesamten Transport, für Lagerungsphasen sowie in den Spitälern und Praxen, die Patienten mit dem Mittel impfen. Viele Ärzte seien für solche Minustemperaturen gar nicht ausgerüstet, sagt Immunologe Daniel Speiser.
Ausserdem kann es bei jedem Transportschritt zu Verzögerungen kommen: Ein Flug fällt aus, ein Lastwagen fährt in einen Graben, die Kühlkette wird unterbrochen, eine Verpackung geht kaputt, das Gesundheitspersonal kommt mit dem Impfen nicht nach.
So viel bis zum ersten Nadelstich.
Die meisten Impfstoffe, die sich zurzeit in fortgeschrittenen Testphasen befinden, werden in zwei Dosen verabreicht, um ausreichenden Schutz zu bieten. Sie müssen also ein paar Wochen nach der ersten Spritze für eine zweite zurück zu Ihrer Hausärztin. Damit werden viele der logistischen Hürden gleich doppelt so hoch. Und damit verlängert sich auch die Zeit, bis Sie gegen Sars-CoV-2 (teilweise) immun sein werden.
«The Atlantic» und die «Washington Post» schrieben darum schon im Sommer: Ein wirksamer Impfstoff ist erst der Anfang vom Ende.
Frage an Immunologe Speiser: Wie lange wird es dauern, bis auf der ganzen Welt breite Bevölkerungsschichten geimpft sind?
«Wenn alles richtig gut läuft: vielleicht zwei bis drei Jahre. Aber das ist ein Sunshine-Szenario.» Ein grosser Fortschritt wäre bereits, wenn man Risikogruppen und besonders exponierte Personen schützen könnte.
Moment kurz, Sie haben vorhin von «Nebenwirkungen» geschrieben. Welche Nebenwirkungen?
Gehen wir für einmal vom Schlimmsten aus.
Manche Impfungen wirken – in wenigen Personen – wie ein Katalysator: Sie machen den Krankheitsverlauf schwerer. Dahinter können verschiedene Mechanismen stecken. Zum Beispiel: Das Immunsystem bildet Antikörper, die die Viren nur scheinbar neutralisieren, ihnen in Realität aber den Weg in die menschlichen Zellen erleichtern.
Frage an Immunologe Daniel Speiser: Wie wahrscheinlich ist dieses Phänomen?
«Nach den jetzigen Erkenntnissen: sehr unwahrscheinlich. Aber Experten werden das Phänomen sehr nahe beobachten, und es wird lange dauern, bis man diese Nebenwirkung ausschliessen kann. Gerade weil sie so selten ist und man sie unter Umständen erst spät entdeckt.»
Deshalb testet man so rigoros und an so vielen Testpersonen, ob die Impfstoffe tatsächlich nur den schützenden Teil des Immunsystems aktivieren.
Viel häufigere Nebenwirkungen sind Fieber oder Schmerzen an der Injektionsstelle, welche die Sicherheit aber kaum beeinträchtigen. Laut Immunologe Daniel Speiser kommt das gerade beim mRNA-Impfstoff von Moderna etwas häufiger vor als üblich. Bei ungefährlichen Nebenwirkungen verschiebt sich die Sorge von Expertinnen auf die Frage, ob die Bevölkerung sie akzeptiert.
Was, wenn das Virus mutiert – war dann die bisherige Impfstoff-Forschung für die Tonne?
Die eher gute Nachricht: Viren, auch Sars-CoV-2, verändern sich ständig. Sie vervielfältigen sich, und dabei entstehen kleine Fehler im Erbgut. Die bisherigen Daten dazu lassen aber lediglich auf Mutationen schliessen, die dem erwartbaren Grundrauschen entsprechen. Vermutlich sind zurzeit keine Veränderungen dabei, welche das Virus tödlicher – oder weniger tödlich – machen könnten.
Viel Aufmerksamkeit hat im Sommer die Mutation D614G erhalten, die schon seit dem Winter zirkuliert und vermutlich die am weitesten verbreitete Version von Sars-CoV-2 ist. Umstritten ist, ob sie ansteckender ist als andere Versionen – die Datenlage ist noch zu dünn für eine abschliessende Antwort. Die Befürchtung basiert unter anderem darauf, dass die Mutation an der Stelle des Genoms auftritt, die das Stachelprotein betrifft. Über dieses dringt das Virus in die menschlichen Zellen ein.
Die nur wenig schlechtere Nachricht: Vielleicht müssten Sie eine künftige Impfung nicht nur wegen der abklingenden Immunität alle paar Jahre erneuern, sondern auch, weil sie dem sich verändernden Virus angepasst werden muss. «Aber ich gehe nicht davon aus, dass das kurzfristig ein Problem sein wird», sagt die Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft.
Die vorliegenden Varianten von Sars-CoV-2 seien nach wie vor sehr ähnlich wie die Version, die man Ende 2019 entdeckt habe. Mit so kleinen Unterschieden könne ein Impfstoff umgehen: Er bringe dem Körper bei, mehrere Teile des Virus zu erkennen. «Entsteht dann in einem Teil eine Mutation, wird der Impfstoff höchstwahrscheinlich trotzdem funktionieren», sagt Hodcroft.
Viren, die schon lange unter Menschen leben, sind viel diverser – bei der Grippe zirkulieren von Jahr zu Jahr andere Familien, weshalb in der Regel jedes Jahr eine neue Impfung ansteht. Von Sars-CoV-2 gibt es bisher erst eine solche Familie. «In fünf bis zehn Jahren werden wir aber nach Mutationen schauen müssen, die einen Impfstoff beeinflussen könnten», sagt Hodcroft. Bis dahin wären Wissenschaftlerinnen auch gut ausgerüstet, um darauf zu reagieren. «Vielleicht wird es aber auch gar nie so weit kommen.»
Ich bleibe mal optimistisch. Wird die Pandemie mit einem wirksamen und verfügbaren Impfstoff nur noch eine böse Erinnerung sein?
So einfach ist es leider nicht. Vielleicht haben Sie gelesen oder gehört, dass manche Genesene sich erneut mit dem Virus infiziert haben.
Das ist per se noch kein Grund zur Panik: Erstens wurde über diese vereinzelten Fälle intensiv berichtet, das Phänomen wirkt also vermutlich grösser, als es ist. Zweitens passen mehrere dieser Fälle in bekannte immunologische Muster: eine erste milde Infektion – zu mild, um langfristige Immunität zu generieren – und eine zweite, dann ganz ohne Beschwerden. Oder: eine zweite Infektion mit Symptomen, aber milderen. Das illustriert zwar, dass die Immunität bei manchen Genesenen rasch zurückgeht, was man auch an ihren Antikörpern im Blut sieht. Es zeigt aber auch, dass das Immunsystem ein Gedächtnis hat und bei einem zweiten Aufeinandertreffen mit Sars-CoV-2 anders reagieren kann.
Wenn der Körper erstmals mit einem Krankheitserreger in Berührung kommt und ihn bemerkt, ruft er weisse Blutkörperchen zu Hilfe, die auf den Erreger losgehen. Speziell an Sars-CoV-2 ist, dass das Virus «ein talentierter Cheib» ist, wie Immunologe Daniel Speiser sagt, und das Immunsystem austrickst. Es erkennt das Virus erst relativ spät, reagiert dementsprechend spät – und inzwischen hat sich das Virus heimlich vermehren und Schaden anrichten können.
Ich will es genauer wissen: Wie funktioniert die Immunabwehr?
Vorweg: Was hier folgt, sind nur die allergröbsten Grundzüge. Denn, wie der US-Wissenschaftsjournalist Ed Yong neulich schrieb: «Immunologie ist, wo die Intuition hingeht, um zu sterben.»
Die weissen Blutkörperchen sind zwar schnell, aber sie sind Generalisten: Egal, was die Infektion hervorgerufen hat, sie bekämpfen es. Wenn das nicht reicht, holen sie Verstärkung bei den Spezialistinnen: sogenannten T-Zellen, die speziell auf verschiedene Erreger zugeschnitten sind.
Ist erst einmal die richtige T-Zelle gefunden und aktiviert, so vermehrt sie sich, ihre Klone gehen auf virusbefallene Zellen los und zerstören sie.
Zusätzlich aktivieren sie sogenannte B-Zellen, die Antikörper produzieren. (Diese gehen nicht in den Zellen, sondern ausserhalb davon auf das Virus los.)
Das Gute an den T-Zellen: Sie werden sich künftig an diesen spezifischen Erreger erinnern. Kommt der Körper erneut mit Sars-CoV-2 in Kontakt, werden sie schneller reagieren. Sie werden ihn nicht vor einer Ansteckung schützen – ihre Aufgabe ist es ja, erst virusbefallene Zellen zu zerstören –, aber sie könnten dafür sorgen, dass die Infektion schneller erkannt und bekämpft wird und so milder verläuft.
Das Gute an den B-Zellen: Im besten Fall erkennen sie das Virus ebenfalls künftig wieder und legen direkt mit der Produktion von Antikörpern los.
Auf den sogenannten T-Zellen, die zum Gedächtnis des Immunsystems gehören, ruhen die Hoffnungen für das Problem, dass die Antikörper im Blut mancher genesener Covid-19-Patientinnen schnell abnehmen. Verschiedene Experten gehen davon aus, dass Reinfektionen erstens selten bleiben und zweitens meist nur zu milden Erkrankungen führen werden.
Heisst diese eher schwache Immunität bei Genesenen, dass auch eine Impfung nur kurzfristig Schutz bieten wird, Herr Speiser?
«Es sieht so aus, als könnten manche Impfstoffe eine länger anhaltende Immunität induzieren als die Krankheit selbst», sagt der Immunologe. Wenn alles richtig gut gehe, könnte man damit mehrere Jahre immun werden.
Okay, das mit der Impfung ist noch unsicher. Gibt es andere Strategien, mit denen wir eine grössere Herbstwelle abfangen könnten?
Dazu sagt das Bundesamt für Gesundheit: «In der besonderen Lage liegt die Zuständigkeit bei den Kantonen. Sie haben die Kompetenz und kennen Situation und Terrain von nah, um Massnahmen zu beschliessen.»
Frage also an den Epidemiologen Marcel Salathé: Was können die Kantone im Herbst tun, solange kein Impfstoff verfügbar ist?
«Wir müssen gar nicht so viel anderes machen als bisher. Aber wir können das Bisherige noch effizienter machen.» Heisst: Schneller testen. Kontakte schneller ermitteln. Sie schneller isolieren.
Und dafür, sagt Salathé, sei es gar nicht so schlecht, dass die Kantone unterschiedlich vorgingen. Jeder entwickle seine Lösungsansätze. So könnten sie voneinander lernen – etwa von denen, die lokale Ausbrüche besonders effizient unter Kontrolle brächten. Und Massnahmen würden besser akzeptiert, wenn sie auf die lokale oder regionale Lage zugeschnitten seien – und sinnvoll wirkten. Sie erinnern sich: In public health steht das Wort public.
Wir haben also noch Spielraum, bevor es wieder «Shutdown» heisst.
Unbedingt. Mehr noch. Wenn es nochmals zum Shutdown kommt, dann wäre das ein ganz schlechtes Zeichen.
Es würde bedeuten, dass wir die Kontrolle über die Infektionszahlen erneut verloren hätten. Und das, obwohl wir nun sehr viel besser aufgestellt sind als damals, im März. Denken Sie an Testkapazitäten, Contact-Tracing, Quarantänebestimmungen, Masken. Und an das Wissen und die Erfahrung, die wir in der Zwischenzeit ansammeln konnten.
Statt in «Shutdown» versus «Offen» könnten wir aber vermehrt in Zwischenlösungen denken, sagt Epidemiologin Emma Hodcroft: «In welcher Situation sind lokale Öffnungen und Schliessungen spezifischer Einrichtungen sinnvoll?» Das müsse man sich aus verschiedenen Perspektiven anschauen: Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft. Idealerweise: vor dem Winter.
Epidemiologe Marcel Salathé geht ebenfalls nicht davon aus, dass es wieder zu einem nationalen Shutdown kommen wird: «In der Regel macht dieses Giesskannenprinzip auch nicht viel Sinn – ausser, wenn man schon zu spät dran ist.» Nur wenn es an so vielen Orten so stark brenne wie im März, sei eine totale Notbremse nötig.
Testen, Quarantäne, Kontaktverfolgung, Masken … Gibt es denn auch irgendwelche neuen Ideen?
Die gibt es. Die Frage ist nur, was sie taugen. Wir gehen hier auf zwei mögliche Strategien ein: eine, die erwiesenermassen taugt. Und eine, die, O-Ton Marcel Salathé, «vielleicht nicht superrealistisch ist».
Der Gedanke, der taugt: Zielt auf die Effizienz des Contact-Tracings ab, wie zum Beispiel Virologe Christian Drosten in der «Zeit» erklärt. Wenn die Fallzahlen steigen und Contact-Tracerinnen stärker beansprucht werden, ohne viel mehr Ressourcen zu haben, dann werden sie sich auf die wichtigsten Fälle beschränken müssen. Welche? Sie erinnern sich vermutlich daran, dass die Übertragungen nicht gleich verteilt sind: Manche Infizierte stecken niemanden oder nur eine weitere Person an. Andere sehr viele mehr. Geht man Ersteren nach, schickt man Einzelpersonen in Quarantäne. Geht man Letzteren nach, findet man ganze Cluster von möglichen Infizierten.
Nehmen wir an, eine Person hat an einer Geburtstagsparty mehrere andere angesteckt. Hier startet, noch unbemerkt, ein Cluster. Entwickelt nun einer der Geburtstagsgäste ein paar Tage später Symptome, wäre es doch sinnvoll, so Drosten, als Erstes alle anderen Gäste zu informieren und in Quarantäne zu schicken – damit dieses Cluster kein weiteres verursacht. Dafür muss man den einen Gast nicht prioritär danach befragen, wen er in den letzten zwei Wochen alles angesteckt haben könnte. Sondern nach besuchten Veranstaltungen, bei denen er sich angesteckt haben könnte – und bei denen gleichzeitig ein solches Quell-Cluster entstanden sein könnte.
Es lohnt sich, und das zeigen die Erfahrungen von Japan, nicht nur vorwärts in der Übertragungskette zu schauen, sondern auch rückwärts. Japan hat es so geschafft, während der ersten Covid-Welle ohne Shutdown auszukommen.
Die vielleicht nicht superrealistische Idee: Dafür plädiert der Harvard-Epidemiologe Michael Mina in der «New York Times». Sie geht so:
Wir entwickeln die sogenannten Antigen-Schnelltests weiter, lassen sie im Schnellverfahren zu, und dann testen sich alle Menschen jeden Tag selber auf Sars-CoV-2. Ihr Test ist positiv? Bleiben Sie zu Hause, lassen Sie das Resultat mit einem sogenannten PCR-Test – dem Goldstandard, den nur das Gesundheitspersonal ausführen kann – bestätigen. Sobald der Papierstreifen des Antigen-Schnelltests «negativ» anzeigt, dürfen Sie aus dem Haus.
«Wir brauchen die besten Mittel, um das Virus zu finden und einzudämmen, nicht einen perfekten Test, den niemand anwenden kann», schreibt Mina. Das klingt an sich vernünftig, die Sache hat aber ein paar Haken – finden nebst Epidemiologe Salathé auch viele andere Experten.
Der Haken: In der Theorie klingt die Strategie attraktiv, praktisch ist sie kaum umsetzbar.
Denn:
Die schnellen, günstigen Antigen-Tests sind bedeutend weniger präzise als PCR-Tests. Das Risiko, dass eine infizierte und ansteckende Person nicht als solche erkannt wird, ist hoch und vermutlich noch höher, wenn Laien statt Labors die Tests durchführen. In Regionen, wo das Virus wenig verbreitet ist, könnte man sogar mehr falsche als richtige positive Resultate erhalten (die Mathematik hinter diesem Phänomen haben wir hier erklärt).
Der Schnelltest soll zeigen, ob man noch ansteckend ist. Aber im Moment weiss schlicht niemand, wie viele Viren jemand im Körper haben muss, um sie auf andere zu übertragen. Möglicherweise unterscheidet sich diese Menge sogar von Person zu Person. Virologe Drosten schlägt vor, hierfür erst einmal Schwellenwerte für PCR-Tests zu definieren und anhand deren zu validieren.
Ein Nasen-Rachen-Abstrich, wie er für PCR-Tests benötigt wird, ist zwar sehr unangenehm, aber auch sehr sensitiv – wenn ihn Gesundheitsexpertinnen durchführen. Tests, die man daheim selber ausführt, müssten mit anderen Abstrichmethoden auskommen (etwa ein Abstrich aus der Nase oder Spucke).
Man kann nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass jeder und jede die Disziplin hat, sich selber regelmässig zu testen. Und sich bei einem positiven Ergebnis auch freiwillig in Quarantäne zu begeben – das zeigen zum Beispiel die Erfahrungen mit Studierenden der Universität Illinois. «Wir müssen damit rechnen, dass niemand sich perfekt verhält», sagt Epidemiologin Emma Hodcroft.
All das könnte dazu führen, dass das Vertrauen in die Tests erodiert. Das würde die Umsetzung dieser Idee, die stark auf Eigenverantwortung basiert, zusätzlich erschweren.
Bisher hat niemand untersucht, ob die Idee auch in der Realität taugt. Also ob man eine Pandemie mit einer schnellen, günstigen und weniger präzisen Teststrategie (Antigen-Tests) wirklich ebenso gut oder gar besser kontrollieren kann als mit einer langsamen, teuren und präziseren (PCR-Tests).
Die aktuell zugelassenen Antigen-Tests wurden nicht für die öffentliche Verwendung entwickelt, zurzeit wenden sie Mitarbeitende im Gesundheitswesen an. Schnelltests für eine breitere Öffentlichkeit müssten in den USA erst einmal die Standards der Zulassungsstelle und in Europa eine Konformitätsbewertung erfüllen. Und dann in sehr grosser Menge produziert und vertrieben werden, wenn jeder und jede sich jeden Tag testen soll. Die logistischen Hürden wären enorm.
Realistischer wäre es, Schnelltests vermehrt in Spitälern und Arztpraxen einzusetzen, etwa für vorläufige Resultate zur Infektiosität einer Patientin, bevor aus dem PCR-Test ein genaueres Resultat vorliegt. Oder um einen Genesenen aus der Isolation «freizutesten», sofern ein künftiger Schnelltest anzeigte, er sei nicht mehr ansteckend.
Solange Impfstoffe und Schnelltests noch keine Lösung sind: Wie schütze ich mich und andere am besten?
Grundsätzlich gilt: Je näher Sie bei infizierten Person sind und je länger dieser Kontakt anhält, desto wahrscheinlicher, dass Sie sich anstecken.
Zudem verfestigt sich die Annahme, dass sogenannte Aerosole – kontaminierte Kleinstpartikel, die in der Luft hängen – bei der Verbreitung von Sars-CoV-2 eine grössere Rolle spielen als ursprünglich angenommen (Schmierinfektionen via Oberflächen dafür eine kleinere). In einem überfüllten oder schlecht gelüfteten Raum ist eine Ansteckung gemäss einem noch nicht peer-reviewten wissenschaftlichen Artikel viel wahrscheinlicher als draussen an der frischen Luft, wo sich die Aerosole schnell zerstreuen.
Stellen nun alle Innenräume eine Gefahr dar, Herr Salathé?
«Davon gehe ich nicht aus», sagt der Epidemiologe, «denn sonst hätten wir viel höhere Fallzahlen.» Bei der Frage nach Ansteckungen über Aerosole sei aber vieles noch ungeklärt; hier würden Wissenschaftlerinnen laufend mehr herausfinden.
Daraus ergeben sich folgende Empfehlungen:
Bleiben Sie auf Abstand. Auch zu Menschen, die nicht husten oder niesen – ansteckend sind Infizierte auch, bevor sie Symptome zeigen.
Waschen Sie sich die Hände. Auch wenn es mittlerweile einen breiten Konsens gibt, dass Schmierinfektionen nicht die hauptsächliche Infektionsroute sind, können Sie sich über kontaminierte Flächen anstecken.
Halten Sie Ihre Maske griffbereit. Sie reduziert die Zahl der Viruspartikel, die Sie in die Luft atmen, sprechen, husten oder niesen, falls Sie infiziert sind. Und sie schützt Ihre Mitmenschen übrigens nicht nur vor Tröpfcheninfektionen, schreibt Virologe Christian Drosten: «Masken verringern Aerosole auch durch das Abfangen von grösseren Tröpfchen, bevor diese in der Luft eintrocknen und zu leichten Aerosolpartikeln werden.»
Wenn Sie sich mit mehreren Mitmenschen in Innenräumen aufhalten: Lüften Sie regelmässig. Mehr Luft bedeutet mehr Luftmoleküle, welche die potenziellen Viruspartikel zerstreuen und verdünnen. Lüften Sie häufiger, sobald das Wetter herbstlicher wird: In warmer, trockener Luft verdunsten diese Partikel schneller als in kühler, feuchter Luft.
Lüften Sie besonders häufig, wenn solche Aufenthalte Sprechen, Singen, Schreien oder heftiges Atmen beinhalten (denken Sie an ein langes Meeting auf engem Raum, Karaoke, Clubbing und Fitnesscenter). Denn mehr Luftausstoss bedeutet mehr Virusausstoss.
Führen Sie ein Cluster- und Kontakttagebuch, in dem Sie für jeden Tag Ihre Situationen mit Cluster-Potenzial sowie sonstige Kontakte notieren (Sie nahmen an einer grossen Sitzung teil, standen an einem Geburtstagsapéro herum, trafen eine Freundin zum Tee). Falls Sie krank werden, helfen Sie damit den Contact-Tracern, weitere mögliche Infizierte zu finden. Falls Ihnen das zu kompliziert ist: Installieren Sie die Swiss-Covid-App oder das entsprechende Pendant an Ihrem Wohnort. Sie übernimmt manche der Tagebuch-Aufgaben.
Und wenn mich Sars-CoV-2 trotzdem erwischt – habe ich mehr Behandlungsmöglichkeiten als im Frühling?
Ja.
Für Remdesivir etwa, das erste Medikament, das in der Schweiz (befristet) für die Behandlung von Covid-19 in Spitälern zugelassen wurde, konnte nachgewiesen werden: Schwer kranke Patientinnen, die mit diesem antiviralen Stoff behandelt werden, können schneller aus dem Spital entlassen werden.
Für Dexamethason – ein Steroidhormon, das Überreaktionen des Immunsystems dämpft – gibt es erst vorläufige Resultate aus der Forschung. Sie legen aber nahe, dass das Mittel bei hospitalisierten Patienten die Sterberate senkt, wenn man es zum richtigen Zeitpunkt einsetzt.
Auch Blutplasma von genesenen Covid-19-Patienten wird als Behandlung eingesetzt. Es enthält Antikörper, die der Körper von neuen Patienten braucht, um sich gegen Sars-CoV-2 zur Wehr zu setzen. Plasma hat wegen einer Notfallzulassung in den USA viel Aufmerksamkeit erhalten, seine Wirksamkeit gegen Covid-19 konnte bisher aber nicht nachgewiesen werden.
Alle drei Mittel werden in der Schweiz verwendet, und weitere Behandlungsmöglichkeiten werden in klinischen Studien erforscht. «Je mehr wir forschen und lernen, desto besser wird es aussehen», sagt Immunologe Daniel Speiser.
Es gibt zwar immer wieder Engpässe, etwa wenn ein anderes Land grosse Bestände kauft. Dies ist bei Remdesivir, auf welches das Pharmaunternehmen Gilead ein Patent hat, problematischer als bei Dexamethason, einem älteren und günstig erhältlichen Mittel. Gilead vergibt seit Mai aber auch Lizenzen an Generika-Hersteller.
Von Corona-Müden an Corona-Müde: Lassen Sie uns nochmals auf die Zähne beissen.
Wir machen uns vorsichtshalber auf einen langen, ziemlich harten Winter gefasst. Tun Sie das auch. Aber mit der Zuversicht, dass die Strategien, die uns durch die dunkleren Jahreszeiten bringen sollen, greifen – und sogar noch effizienter greifen könnten. Und mit vorsichtigem Optimismus, dass eine Zeit naht, in der wir die grössten Ängste und Einschränkungen hinter uns lassen können.
Eine der besten Aussagen, die wir bisher zur Pandemie gelesen haben, geht so:
Die Länder, die gegen Covid-19 besser gefahren sind [als die USA], sind keinem einheitlichen Rezept gefolgt. Viele haben Masken breit eingesetzt; Neuseeland hat das nicht getan. Viele haben extensiv getestet; Japan hat das nicht getan. Viele hatten wissenschaftsorientierte Regierungen, die früh handelten; Hongkong hatte das nicht – stattdessen kompensierte eine Graswurzelbewegung für die nachlässige Regierung. Viele Länder waren kleine Inseln; nicht so das grosse, kontinentale Deutschland.
Jede dieser Nationen hatte Erfolg, weil sie genügend Dinge richtig gemacht hat.
Wir brauchen nicht die perfekte Strategie, um ohne Shutdown oder überlastete Spitäler durch den Winter zu kommen – und darüber hinaus. Wir brauchen lediglich genügend Dinge richtig zu machen.
Davon sind Epidemiologe Marcel Salathé und Immunologe Daniel Speiser überzeugt:
Je mehr Zeit verstreicht, desto stärker festigt sich das bisher aufgebaute Wissen und desto mehr finden wir heraus über Sars-CoV-2.
Je mehr wir wissen, desto effizienter können wir den tricksenden Cheib und die Krankheit, die er auslöst, bekämpfen.
Desto weniger Menschen erkranken schwer am Coronavirus.
Desto weniger Menschen sterben daran.
Desto weniger kostet es uns, solidarisch mit den Schwächsten unter uns zu sein.
Desto mehr werden die Dinge wieder genau so wie vorher.
Wenn wir das wollen, versteht sich.