Die Nationalbank muss ihre Milliarden verteilen
Die Schweiz steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten – und die SNB behält riesige Summen zurück, die sie mit ihren Anlagen erwirtschaftet. Zeit, dass sie Bund und Kantone stärker am Gewinn beteiligt.
Ein Kommentar von Fabio Canetg, 11.01.2021
21 Milliarden Franken. So viel Gewinn hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) im Corona-Jahr 2020 gemäss ihren vorläufigen Zahlen erzielt. Nur 4 Milliarden Franken sollen an den Bund und die Kantone fliessen. Mehr Unterstützung für die darbende Wirtschaft gibt es von der Notenbank nicht.
Derweil fragt sich die Tontechnikerin, die seit Monaten auf einen Auftrag wartet, wie sie ihre Firma über Wasser halten soll. Die gleiche Frage stellt sich der Finanzchef des Hockey-Clubs Davos, der ohne die Spengler-Cup-Einnahmen auskommen muss. Und auch die Restaurantbesitzerin ist geplagt von Zukunftsängsten, weil sie wohl noch über Wochen keine Gäste bewirten darf.
Für sie alle muss der Milliardengewinn der SNB wie ein Hohn klingen.
Das muss nicht so sein. Die Nationalbank ist eine mächtige Institution, weil sie dem Bund und den Kantonen Geld auszahlen kann. Die Regierungen könnten dieses Geld wiederum einsetzen, um grosszügige Zahlungen zu leisten an Betriebe, die pandemiebedingt geschlossen sind. Doch stattdessen bunkert die SNB ihre Gewinne in den Tresoren – um sie später irgendwann auszuschütten.
Warum diese Knauserei?
Der wichtigste Grund für die Zurückhaltung ist das Verhältnis zwischen Währungsbehörden und Regierungen. Dieses ist seit je kompliziert – besonders belastend waren die 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahre.
Damals waren die Teuerungsraten weltweit hoch. Um sie zu bekämpfen, wurden viele Notenbanken – auch die Schweizerische Nationalbank – mit umfassender Unabhängigkeit ausgestattet. Auf keinen Fall sollten sie von den Regierungen dazu gezwungen werden können, deren Ausgaben mit der Notenpresse zu finanzieren. Priorität hatte die Stabilisierung der Preise.
In dieser Zeit entstand das Idealbild des konservativen Notenbankers. Perfekt verkörpert wurde es durch Paul Volcker, der als Vorsitzender die Geschicke der US-Notenbank Federal Reserve von 1979 bis 1987 bestimmte.
Heute sind konservative Notenbanker jedoch nicht mehr gefragt. Gefeiert werden im Gegenteil die freigebigen Notenbanker: Fed-Chef Jerome Powell und Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank. Sie wollen die Wirtschaft stützen und mit allen Mitteln verhindern, dass die Preise fallen.
Wo die SNB-Milliarden landen
Ein mögliches Mittel, zu tiefe Teuerungsraten zu bekämpfen, sind hohe Gewinnausschüttungen: Die Notenbank überweist dem Staat mehr Geld.
Die Zahlen der vergangenen Jahre zeigen: Für die SNB wäre das eine Option.
Allein seit 2011 hat die Nationalbank einen Gewinn von fast 160 Milliarden Franken erwirtschaftet. Dieser Gewinn ist entstanden, weil die SNB zur Bekämpfung des starken Frankens Fremdwährungen eingekauft und diese wiederum in Anleihen und Aktien investiert hat. Gleichzeitig hat die SNB davon profitiert, dass die Banken ihr einen Negativzins abliefern mussten.
An Bund und Kantone hat die Nationalbank in der letzten Dekade aber nur einen kleinen Teil des Gewinns ausbezahlt: 18,7 Milliarden Franken.
Warum nur so wenig?
Die SNB sagt: aus Vorsicht. Seit 2011 hat sich die Bilanzsumme der Nationalbank verdreifacht – das Anlagevolumen ist regelrecht explodiert. Damit nimmt auch das Verlustrisiko zu. Um mögliche Verluste zu absorbieren, behält die SNB deshalb einen Teil ihrer Gewinne. SNB-Präsident Thomas Jordan spricht von einer «Bilanzstärkung», er will das Eigenkapital erhöhen.
Aus geldtheoretischer Sicht ist das eigentlich unnötig. Denn die SNB kann nicht in Konkurs gehen: Notenbanken bleiben handlungsfähig, auch wenn ihr Eigenkapital wegen Verlusten unter null fällt.
Aus politökonomischer Perspektive ist der Aufbau eines Puffers allerdings sinnvoll: Würde das Eigenkapital negativ, stünde nämlich die Frage im Raum, ob Bund und Kantone Geld in die Nationalbank einschiessen müssten. Es ist verständlich, dass SNB-Präsident Jordan diese Diskussion vermeiden will.
Doch die SNB stärkt ihr Eigenkapital in extremem Ausmass. Ihr Polster ist inzwischen über 180 Milliarden Franken dick. Das entspricht 18 Prozent der Bilanzsumme. Damit könnte die SNB ein Worst-Case-Jahr wie 2015, als sie einen Verlust von 23 Milliarden Franken hinnehmen musste, gleich siebenmal in Folge verkraften, ohne dass ihr Eigenkapital negativ würde.
Darüber hinaus hat die Nationalbank dafür gesorgt, dass ein grosser Teil ihres Eigenkapitals auch künftig nicht an Bund und Kantone ausbezahlt wird. Sie teilt nämlich den Gewinn in einem ersten Schritt einer SNB-eigenen Position zu: den sogenannten «Rückstellungen für Währungsreserven», eine Art spezielles SNB-Kässeli. Nur was nach der Befüllung dieses Kässelis vom Gewinn übrig bleibt, fliesst in die eigentliche Ausschüttungsreserve – also in den Topf, der früher oder später an den Staat ausbezahlt werden kann.
Nicht ausbezahlt wird das SNB-Kässeli. Dieses Geld bleibt bis zum Ende der Zeit bei der Nationalbank. In diesem Topf liegt viel Geld: Nach der Verbuchung des Jahresergebnisses von 2020 werden es 85 Milliarden Franken sein.
Diese Eigenkapitalposition könnte die Nationalbank theoretisch nutzen, um künftige Verluste zu absorbieren. Das tut sie aber nicht. Sie belastet Verluste nämlich nicht dem SNB-Kässeli, sondern den Ausschüttungsreserven. Macht die Nationalbank also einen Verlust, geht dieser zulasten der künftigen Gewinnausschüttungen an den Staat – und nicht zulasten des SNB-Reservekontos, das ökonomisch eigentlich dafür vorgesehen ist.
Doch damit nicht genug. Das Aufsichtsgremium der Nationalbank – der Bankrat – hat im Dezember 2016 entschieden, dass der Betrag im SNB-Kässeli um jährlich mindestens 8 Prozent zunehmen soll. Diese Regelung ist in SNB-nahen Kreisen nicht unumstritten. Denn sie führt unweigerlich dazu, dass mittelfristig der ganze Gewinn der Nationalbank ins SNB-Kässeli fliesst. Das lässt sich rechnerisch belegen. Irgendwann muss das System also sowieso geändert werden, sonst ist Schluss mit SNB-Gewinnauszahlungen.
Noch fliesst aber Geld in die Ausschüttungsreserve. Dort werden bald 95 Milliarden Franken bereitliegen zur Auszahlung an Bund und Kantone.
Ein ökonomisches Missverständnis
Die Corona-Pandemie hat zur schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten geführt. Um die Folgen zu lindern, könnte die Nationalbank die prallvollen Ausschüttungsreserven jetzt anzapfen. Statt nur 4 Milliarden Franken könnte sie beispielsweise 8 Milliarden Franken pro Jahr an Bund und Kantone überweisen. Dem gesetzlichen Gebot, die Gewinnausschüttungen über die Zeit zu «verstetigen», würde auch mit dieser Politik Genüge getan.
Doch würde dies als Krisenhilfe überhaupt etwas bringen?
Makroökonominnen beantworten diese Frage aus theoretischen Überlegungen gerne mit «Nein». Die Ausschüttungsreserve würde früher oder später sowieso in den Kassen der Finanzminister landen, argumentieren sie: Implizit gehöre die Ausschüttungsreserve bereits jetzt dem Staat. Es spiele darum schlicht keine Rolle, ob die Nationalbank ihre Gewinne bereits heute, im Jahr 2030 oder erst kurz vor dem fatalen Kometeneinschlag auszahle: Wenn der Staat die Wirtschaft mit zusätzlichen Ausgaben stützen wolle, könne er dies so oder so tun – einfach mit geborgtem Geld, mit Schulden.
Diese Argumentation unterschlägt jedoch den entscheidenden Punkt: Die Schweizer Politik ist von einem starken Finanzkonservatismus geprägt. Er propagiert die irreführende Vorstellung, dass Staatsschulden in jedem Fall zurückbezahlt werden müssen. «Ja, ja, Ökonomen, die ein festes Einkommen haben und bei der Universität fest angestellt sind, können gut sagen, wir sollen mehr Schulden machen», sagte etwa Finanzminister Ueli Maurer im November in einem Interview. «Man muss es aber wieder zurückzahlen.»
Das ist falsch. Wenn die Zinsen tiefer sind als das Wirtschaftswachstum – so wie es seit einigen Jahren der Fall ist –, verringert sich die Schuldenquote eines Landes automatisch, ohne dass die Schulden zurückbezahlt werden. Das heisst: Bund und Kantone können dank der rekordtiefen Zinsen so einfach wie nie zuvor aus den Schulden herauswachsen.
Im Klartext heisst das: Wenn Ueli Maurer den Bundesrat davon überzeugen kann, die Schweiz könne sich zusätzliche Ausgaben nicht leisten, dann liegt Staatsversagen vor. Und die SNB könnte dazu beitragen, es zu korrigieren.
Diese Formulierung ist weniger abstrus, als sie vielleicht klingen mag. Denn bis in die 1990er-Jahre hinein waren Notenbanken stolz darauf, genau diese Aufgabe wahrzunehmen: wirtschaftspolitische Fehler zu berichtigen, welche die Regierungen gemacht hatten. Die Notenbanken sahen es als ihren Job an, eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern, egal, was die Politik sagte.
Inzwischen ist die Wirtschaft nicht mehr überhitzt – sondern unterkühlt. Und es sind nicht mehr die Regierungen, die im Verdacht stehen, den Notenbanken ins Geschäft reden zu wollen: Es sind die Notenbanken, die versuchen, geldpolitische Anreize dafür zu geben, dass die Regierungen mit gezielten Staatsausgaben der Wirtschaft stärker unter die Arme greifen.
Die Nationalbank muss aktiver werden
Die Nationalbank hält ihre Leitzinsen auf sehr tiefem Niveau. Zurzeit liegen sie bei –0,75 Prozent. Dies hat während der letzten Jahre aber nicht zu deutlich höheren Staatsausgaben geführt. Und selbst heute traut sich die Schweizer Politik nicht, grosszügig Geld zu verteilen. Man meint, noch nicht alles Pulver verschiessen zu dürfen – es könnte ja wieder eine Krise kommen.
Auch das ist richtig. Es verkennt aber, dass höhere Staatsausgaben während einer Wirtschaftskrise den Spielraum für künftige Staatsausgaben nicht verkleinern, sondern im Gegenteil sogar vergrössern. Das ist so, weil die Finanzhilfen des Staats funktionierende Geschäftsmodelle über die Krise retten. Das führt zu einer rascheren wirtschaftlichen Erholung, zu höheren Steuereinnahmen und dadurch zu mehr Raum für künftige Finanzhilfen.
Eine expansive Fiskalpolitik ist besonders in jenen Momenten essenziell, wenn die Geldpolitik selbst kaum mehr über die Zinsen auf die Wirtschaft einwirken kann. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hat eine solche Situation bereits in den 1930er-Jahren beschrieben. Heute ist es wieder so weit: Wenn die Zinsen bei null oder negativ sind, verliert die Geldpolitik an Wirkung – und der Staat muss aktiv werden. Aktuelle Forschungsarbeiten bestätigen dies.
Auch die Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank und der Federal Reserve sehen das so. Christine Lagarde und Jerome Powell haben wiederholt und explizit darauf hingewiesen, dass höhere Staatsausgaben einen positiven Effekt hätten. Ohne grosszügige Staatshilfen, so die Sorge der Notenbanken, würde die Teuerung über Jahre hinaus unter dem Zielwert von 2 Prozent verharren. Das verschlechtere die Ertragsaussichten der Unternehmen und verschleppe so die wirtschaftliche Erholung.
Doch nicht nur in Europa und in den Vereinigten Staaten ist die Teuerung zu tief, sondern auch in der Schweiz. Die Preise in der Schweiz fallen gar, und das seit mehreren Monaten. Die Teuerung liegt damit ausserhalb des Zielbereichs, den sich die SNB selbst gesetzt hat: zwischen 0 und 2 Prozent. Explizit vermeiden möchte sie Phasen von anhaltend fallenden Preisen.
Das klappt momentan nicht, weil die SNB an der Zins- und Währungsfront kaum mehr Möglichkeiten hat, eine noch expansivere Politik zu betreiben.
Abhilfe schaffen könnte eine spendierfreudigere Fiskalpolitik. Wenn der Staat nämlich mehr Geld ausgäbe, würden auch die Teuerungsraten steigen. Eine expansive Fiskalpolitik hätte damit gleich zwei Vorteile: Sie würde die Wirtschaftslage verbessern und die Teuerung zurück ins Zielband führen. Ähnlich wie Christine Lagarde und Jerome Powell sollte Thomas Jordan höhere Staatsausgaben also nicht nur begrüssen, sondern sogar einfordern.
Das gilt im Speziellen jetzt, wo beim Bund und in den Kantonen bereits über das Sparen nachgedacht wird. So hat beispielsweise der Regierungsrat des Kantons St. Gallen letzte Woche ein Sparpaket in Aussicht gestellt. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass andere Kantone im Verlauf des Jahres nachziehen – wenn sich abzeichnet, dass sie rote Zahlen schreiben werden.
Die SNB muss sich daher überlegen, wie sie den Staat dazu bringen kann, Geld auszugeben. Genau hier kommen die Gewinnausschüttungen ins Spiel.
Ein neues geldpolitisches Instrument
Bereits vor einem Jahr hat die SNB ihre jährlichen Ausschüttungen befristet auf zwei Jahre erhöht: von 2 auf 4 Milliarden Franken. Das entspricht einem Zustupf von mehreren Prozentpunkten in den kantonalen Budgets – die SNB-Ausschüttungen sind eine nicht zu unterschätzende Finanzspritze.
Eine weitere Erhöhung wäre deshalb ein starkes Druckmittel: Die Argumentation der Finanzminister und -direktorinnen («Das können wir uns nicht leisten») würde nicht mehr verfangen. Der politische Druck, mehr Unterstützungsbeiträge auszuzahlen – etwa in Form von A-fonds-perdu-Zahlungen an geschlossene Kulturbetriebe –, würde unweigerlich zunehmen.
Ob und wie fest Notenbanken den Regierungen reinreden dürfen, darüber lässt sich streiten. Offensichtlich ist indessen, dass sich die Nationalbank mit dieser politischen Rolle schwertut. Das hängt auch damit zusammen, dass Präsident Jordan einer der letzten konservativen Notenbanker der Welt ist.
Dies zeigt sich beispielhaft in seiner Rede vom Oktober 2020: Inmitten der Corona-Wirtschaftskrise sprach Jordan nicht über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Restaurantbesitzerin, sondern über die Gefahren einer grosszügigen Geldpolitik. In den Worten des Nationalbankpräsidenten:
[Mit] hohen Staatsdefiziten wächst erfahrungsgemäss auch der politische Druck auf die Zentralbank, und bei einer politisierten Geldpolitik ist die Gefahr gross, dass das Geld über kurz oder lang markant an Wert verliert.
Ausserhalb der Schweizerischen Nationalbank reift derweil die Einsicht, dass die Notenbanken weiterhin in der Pflicht stehen, die Wirtschaft zu stützen.
Genau das könnte die Nationalbank mit höheren Gewinnauszahlungen tun. Vorgezogene Ausschüttungen sind nämlich nur in der makroökonomischen Theorie wirkungslos. In der Praxis führen sie dazu, dass umfangreichere Staatshilfen politisch mehrheitsfähig werden. Man kann es auch so betrachten: Die Gewinnauszahlungen sind – neben der klassischen Zins- und Währungspolitik – ein geldpolitisches Instrument der SNB.
Sie sollte nicht zögern, es in der Corona-Krise zu benutzen.
Fabio Canetg hat an der Universität Bern und an der Toulouse School of Economics zum Thema Geldpolitik doktoriert. Heute ist er Dozent an der Universität Neuenburg. Als freischaffender Journalist schreibt er für die Republik und «SWI Swissinfo.ch». Er moderiert den Geldpolitik-Podcast «Geldcast».