Warum sind die Zinsen so tief?
Das grosse Missverständnis um die Politik der Zentralbanken: Teil 2 unserer Serie über die Geldpolitik.
Von Daniel Kaufmann (Analyse) und Simon Schmid (Bearbeitung), 17.09.2018
Vor vierzig Jahren warfen Eidgenössische Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit noch über 7 Prozent Rendite ab. Nach der Finanzkrise von 2008 fiel die Verzinsung der Papiere unter null. Für diese Talfahrt wird oft die Geldpolitik von Zentralbanken wie der Schweizerischen Nationalbank verantwortlich gemacht.
Dieser Artikel soll zeigen, dass hier ein Missverständnis vorliegt.
Die Geldpolitik seit der Finanzkrise war nicht der Hauptgrund, warum die Zinsen zurückgegangen sind. Viel wichtiger waren zwei andere Faktoren: die Abnahme der Inflation und des Produktivitätswachstums.
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Daten. Die folgende Grafik zeigt, wie sich die Zinsen von Eidgenössischen Anleihen seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben (orange) – und zwar im Fünfjahresmittel, von 1946 bis 2016. Sie zeigt weiter, wie hoch die Inflation in diesen Perioden war (hellblau) und wie rasch die Wirtschaft pro Einwohner wuchs (dunkelblau).
Man erkennt ziemlich gut: Alle drei Grössen sind nach dem Zweiten Weltkrieg angestiegen und seit den 1970er-Jahren kontinuierlich gefallen.
Das Wirtschaftswachstum wird normalerweise in realen Einheiten ausgedrückt, also abzüglich der Inflation. Es geht darum, wie stark die Anzahl hergestellter Produkte in einem Jahr gestiegen ist. Dagegen sind Finanzmarktgrössen typischerweise nominelle Grössen – die Inflation ist darin in Form einer sogenannten Inflationsprämie inbegriffen. Um den Zusammenhang zwischen den beiden Grössen (den nominellen Zinsen und dem Wachstum) besser aufzuzeigen, haben wir das Wirtschaftswachstum auch in nominellen Einheiten abgebildet.
Die Renditen hängen also mit der Inflation und dem Wachstum zusammen. Aber warum? Schauen wir uns die beiden Einflussgrössen separat an.
Die Inflation bestimmt das Zinsniveau
Zunächst zum Einfluss der Inflation – und zu einem Beispiel:
Stellen Sie sich vor, Sie vertrauen Ihrer Bank 100 Franken an und erwarten, dass die Inflation im kommenden Jahr gleich null ist. Unter dieser Annahme bleibt die Kaufkraft der 100 Franken nach einem Jahr unverändert. Sie können damit gleich viele Produkte kaufen wie heute.
Nun ändert sich die Wirtschaftslage – Sie rechnen neu damit, dass die Preise im kommenden Jahr um 5 Prozent steigen werden (dies mag heute kaum vorstellbar sein, war aber in den 1970er-Jahren regelmässig der Fall). Trifft die Erwartung zu, werden Ihre 100 Franken effektiv bald weniger wert sein – Sie würden das Geld kaum ohne Zins auf der Bank lagern wollen.
Um Sie als Kunden nicht zu verlieren, wird die Bank Sie für die Inflation entschädigen müssen – im Optimalfall mit einem Zins von 5 Prozent. Damit haben die Zinsen mit der Inflation gleichgezogen, und Sie erhalten eine Kompensation für die (erwartete) Inflation.
Dass Zinsen und Inflationserwartungen zusammenhängen, ist in der Ökonomie ein wohlbekanntes Phänomen. Es hat sogar einen eigenen Namen: Fisher-Effekt, benannt nach Irving Fisher, einem US-Ökonomen aus der Zeit der Grossen Depression.
Der Fisher-Effekt trug stark dazu bei, dass die Zinsen im Einklang mit der Inflation seit den 1970er-Jahren gesunken sind. Technisch gesehen funktionierte das Zusammenspiel der beiden Grössen über drei Kanäle:
über das Angebot an Anleihen: Je niedriger die erwartete Inflation wurde, desto grösser wurde (beim bisherigen Zins) die Zinslast, die Schuldner effektiv tragen mussten. Dies machte die Schuldenaufnahme weniger attraktiv, das Angebot an Anleihen nahm ab, die Zinsen sanken.
Über die Nachfrage nach Anleihen: Je niedriger die erwartete Inflation wurde, desto attraktiver wurde es (beim bisherigen Zins) für Sparer, in Anleihen zu investieren. Die Nachfrage nach Anleihen nahm zu, die Zinsen sanken.
Über die Risikoprämie: Je niedriger und stabiler die Inflation wurde, desto eher sahen sich Anleger in der Lage, die erwartete Rendite eines Investments einzuschätzen. Das Risiko einer unangenehmen Überraschung nahm ab – deshalb gaben sich die Anleger mit einer geringeren Entschädigung für dieses Risiko zufrieden. Sprich: mit einem tieferen Zins.
Die Zentralbanken haben in den vergangenen Jahrzehnten die Inflation erfolgreich bekämpft (wir haben im ersten Beitrag dieser Serie darüber gesprochen). Im Zuge dieser Entwicklung war es also nur logisch, dass auch die Zinsen zurückgingen.
Welche Rolle der Fisher-Effekt dabei spielte, lässt sich anhand der Inflationsraten einigermassen abschätzen. In den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren stiegen die Preise in der Schweiz typischerweise um 3 bis 4 Prozent pro Jahr, wie die Grafik zeigt. Heute liegt die Inflation nur noch knapp über null. Man kann also grob sagen: Die Zinsen sind allein wegen der Inflation um gut 3 Prozentpunkte gesunken.
Gut die Hälfte des effektiven Zinsrückgangs seit den 1970er-Jahren wäre damit erklärt. Allerdings noch nicht der ganze.
Das Wachstum drückt auf die Zinsen
Wir haben in der Grafik gesehen, wie die Schweizer Wirtschaft in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hohe Wachstumsraten verzeichnete. Und wie diese Wachtumsraten ab den 1970er-Jahren, nachdem das Währungssystem von Bretton Woods zusammengebrochen war, deutlich tiefer lagen.
Die nachlassende Wachstumsdynamik ist der zweite wichtige Grund, warum die Zinsen gesunken sind – in der Schweiz und auch weltweit.
Warum? Dazu erneut ein Beispiel:
Stellen Sie sich eine Unternehmerin vor, die einen Kredit aufnimmt, um eine Maschine anzuschaffen.
Blickt sie relativ pessimistisch in die Zukunft, wird sie die Investition nur tätigen, wenn die Zinsen relativ tief sind und der Kredit somit billig. Sonst könnte sie den Kredit ja kaum zurückzahlen.
Blickt sie sehr optimistisch in die Zukunft, ist sie bereit, den Kredit auch bei einem hohen Zins anzunehmen.
Wenn nun in der ganzen Wirtschaft die Aussichten relativ schlecht sind, müssen die Banken die Kreditzinsen senken, um überhaupt noch Kredite zu vergeben. Die schwächere Nachfrage nach Krediten dämpft also die Zinsen.
Apropos: Sie haben vermutlich gemerkt, dass wir uns inzwischen nicht mehr in der nominellen Welt der Inflation und des Preisniveaus aufhalten, sondern in der realen Welt: dort, wo es um tatsächliche Veränderungen geht, die sich in der Produktion von Waren und Dienstleistungen, bei Investitionen, beim Spar- und Konsumverhalten oder in der Demografie abspielen. Wir erwähnen dies, weil es in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe solcher Veränderungen gab, die das allgemeine Zinsniveau beeinflusst haben.
Eine der prägendsten war das sinkende Wachstum der Arbeitsproduktivität: Die Wirtschaftsleistung, die eine durchschnittliche Arbeitskraft pro Stunde erbracht hat, ist über die letzten vierzig Jahre immer langsamer gewachsen.
Dies illustriert die folgende Grafik. Um 1970 lag das Produktivitätswachstum in der Schweiz, in Schweden oder in Belgien noch zwischen 2 und 4 Prozent pro Jahr. Seit 2010 liegt dieses Wachstum der Arbeitsproduktivität in den meisten Ländern um 1 Prozent, in der Schweiz sogar nur bei 0,4 Prozent.
Das rückläufige Produktivitätswachstum in vielen Industrieländern wurde in der Fachwelt ausgiebig diskutiert. Auffallend ist, dass dieser Trend bereits vor der Finanzkrise eingesetzt hat. Nicht wenige Ökonomen rechnen damit, dass der Trend anhält – und dass die Zinsen, die bereits tief sind, deshalb in nächster Zukunft nicht wieder wesentlich steigen. Zu ihnen gehören etwa Robert J. Gordon von der Northwestern University und der in Harvard lehrende Larry Summers mit seiner Theorie der «Jahrhundertstagnation».
Die düsteren Prognosen sind naturgemäss unsicher und werden auch nicht von allen Volkswirtinnen geteilt. Umso einiger (und das ist in dieser Zunft ziemlich selten) sind sich die Ökonomen dagegen in einem anderen Punkt: Es mag viele Gründe gegeben haben, warum die Produktivität in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist – an den Zentralbanken lag es nicht. Und sollte die Produktivität – und somit das Zinsniveau – in Zukunft bald wieder ansteigen, wäre dies kaum auf die Geldpolitik zurückzuführen.
Diese Einschätzung ist zentral fürs Verständnis dieses Beitrags wie auch der gesamten Geldpolitik überhaupt. Zentralbanken können zwar viele Dinge tun, die in den Medien für Schlagzeilen sorgen und an den Finanzmärkten für Aufruhr. Doch ihr dauerhafter Einfluss auf die reale wirtschaftliche Entwicklung ist gering.
Zu den realen Entwicklungen, die sich unabhängig von den Zentralbanken abgespielt und die Zinsen weltweit beeinflusst haben, zählen überdies:
demografische Faktoren wie die weltweite Überalterung der Gesellschaft. Sie haben dazu geführt, dass die Nachfrage nach sicheren Anlagen gestiegen ist. Dies hat die Zinsen von Staatsanleihen nach unten gedrückt.
Die Geldpolitik asiatischer Länder, allen voran China, die seit der Jahrtausendwende Währungsreserven aufgehäuft haben, um weniger krisenanfällig zu sein. Dieses Phänomen, das der ehemalige Präsident der US-Zentralbank als «global savings glut» bezeichnet, hat ebenfalls zu einer hohen Nachfrage nach Staatsanleihen und somit zu sinkenden Zinsen geführt.
Dass die Zinsen in der Schweiz besonders tief sind, liegt auch an einer Reihe von Gründen, die nicht (ausschliesslich) der Geldpolitik zuzuschreiben sind:
die staatliche Schuldenquote: Sie ist seit 2005 von 48 auf 30 Prozent des BIP und somit auf den tiefsten Stand seit der Zwischenkriegszeit gefallen. Das Angebot an Anleihen der Eidgenossenschaft ist damit relativ zur Wirtschaftsleistung gesunken. Wer in diese Papiere investieren will, erhält heute besonders wenig Zins.
Der Schweizer Franken: Er gilt als sicherer Hafen, was zusätzlich zu einer relativ hohen Nachfrage nach hiesigen Staatsanleihen führt – und zu entsprechend noch tieferen Zinsen.
Die Geldpolitik der Zentralbanken seit der Finanzkrise kann also, wenn man die Sache aus der nötigen Distanz betrachtet, nicht der Hauptgrund für die niedrigen Zinsen sein – auch wenn das von vielen Medien immer wieder behauptet wird. Schätzungen dazu, wie stark etwa die unkonventionellen Anleihenkäufe der US-Zentralbank die Zinsen gedrückt haben, zeigen einen Rückgang um maximal einen Prozentpunkt.
Die meisten Faktoren, welche die Zinsen über die Jahrzehnte nach unten getrieben haben, liegen ausserhalb des Einflussbereiches der Zentralbanken, wenn man von der Inflationsbekämpfung einmal absieht.
Bleibt die Frage, warum sich dieses Missverständnis dennoch hartnäckig hält. Warum setzt man tiefe Zinsen oft mit expansiver Geldpolitik gleich?
Die seltsame Kommunikation der Geldpolitik
Um dies zu verstehen, müssen wir nochmals etwas ausholen. Und uns damit beschäftigen, wie Geldpolitik üblicherweise erklärt und kommuniziert wird.
Wir haben gesehen, dass das allgemeine Zinsniveau hauptsächlich von realen Faktoren und vom Inflationsniveau abhängt. Dennoch kommunizieren Zentralbanken ihre Geldpolitik oft anhand eines kurzfristigen Geldmarktzinses (in der Schweiz: anhand des 3-Monats-Libors, eines Zinssatzes, zu dem sich Banken gegenseitig Geld leihen).
Der Grund dafür ist, dass eine Veränderung der Geldmenge vorübergehend auch den Geldmarktzins beeinflusst. Im typischen Lehrbuchbeispiel funktioniert das etwa so:
Da ist eine Zentralbank, und sie weitet überraschend die Geldmenge aus.
Die Empfänger des neuen Geldes fragen sich dann, was sie damit anstellen sollen. Mangels besserer Ideen leihen sie dieses Geld am Geldmarkt aus.
Das erhöhte Geldangebot am Geldmarkt führt dazu, dass Banken einfacher an Liquidität kommen und somit weniger Zins dafür zahlen müssen.
Der Mechanismus, der diesem Beispiel zugrunde liegt, nennt sich Liquiditätseffekt. Er steht hinter der Vorstellung, dass sinkende Zinsen in erster Linie auf eine expansivere Geldpolitik zurückzuführen seien.
Man muss sich allerdings bewusst sein, dass das Lehrbuchbeispiel lediglich ein Gedankenexperiment ist – eine künstliche Situation, in der alle anderen Einflussfaktoren unverändert bleiben. Doch die Wirklichkeit stimmt höchst selten mit einer solchen Situation überein. Angebot und Nachfrage nach Krediten und Anleihen ändern sich ständig – eben auch, wie wir gesehen haben, weil sich die Inflations- und die Wachstumsaussichten ändern.
In der Praxis ist es deshalb gar nicht so einfach herauszufinden, ob nun der Liquiditätseffekt, der Fisher-Effekt oder langfristige Veränderungen der Produktivität die Zinsen in eine bestimmte Richtung lenken – die Differenzierung ist jedoch aus makroökonomischer Sicht sehr wichtig.
Darauf hat etwa der Ökonom Milton Friedman vor zwanzig Jahren in einem Artikel hingewiesen. Friedman spricht darin über die Wirtschaft von Japan, die in den 1990er-Jahren in eine Krise geschlittert war – und erklärt, warum man nicht den Fehler machen sollte, die Zinsen, die dort bereits damals sehr tief waren, dahingehend zu deuten, dass die Geldpolitik sehr locker sei.
Wächst die Geldmenge schneller als bisher, so werden zunächst zwar die kurzfristigen Zinsen sinken. Erholt sich jedoch die Wirtschaft, dann werden die Zinsen wieder steigen. Es ist also irreführend, den Expansionsgrad der Geldpolitik anhand des Zinsniveaus zu beurteilen. Tiefe Zinsen sind normalerweise ein Zeichen, dass die Geldpolitik, wie in Japan, restriktiv war; hohe Zinsen sind ein Zeichen, dass die Geldpolitik expansiv war.
Friedmans Diskussion stellt den Fisher-Effekt, den wir weiter oben bereits kennen gelernt haben, in den Vordergrund: Tiefere Inflationserwartungen führen zu fallenden Zinsen. Dagegen spielt der Liquiditätseffekt, der dem vereinfachten Lehrbuchbeispiel zugrunde liegt, bei Friedman nur eine untergeordnete Rolle, weil er das Zinsniveau nur vorübergehend beeinflusst.
Dass dieser Effekt in der öffentlichen Debatte über Geldpolitik trotzdem oft im Vordergrund steht, liegt letztlich auch an der Kommunikation der Zentralbanken selbst: «Wir senken die Zinsen», sagen ihre Exponenten jeweils – und wollen damit gegenüber der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen: «Wir gestalten die Geldpolitik expansiver als bisher.»
Besonders expansiv (oder sogar «ultraexpansiv», wie Kommentatoren seit der Krise oft schreiben) war die Geldpolitik seit der Krise, mit ihren tiefen Leitzinsen und unkonventionellen Massnahmen, deshalb aber noch lange nicht. Diese Geldpolitik ist vielmehr ein Symptom – dafür, dass das allgemeine Zinsniveau über die letzten Jahrzehnte so stark gefallen ist (mehr zu den unkonventionellen Massnahmen erfahren wir nächste Woche).
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die tiefen Zinsen nicht auch negative Auswirkungen haben können. Tiefe Nominalzinsen werden oft mit tiefen Realzinsen gleichgesetzt – viele Akteure vergessen, bei ihren Kredit- oder Anlageentscheiden die Inflation zu berücksichtigen. Diese Art der Geldillusion kann zu Fehlentscheidungen, ja sogar zu Finanzblasen führen.
Die Leitzinsen aus diesem Grund zu früh anzuheben, wäre jedoch auch keine Lösung. Auf lange Sicht würde dies die Inflation dämpfen und schliesslich zu noch tieferen Zinsen führen. Besser ist, ruhig Blut zu bewahren. Beurteilen wir die Geldpolitik nicht nach ihren eingesetzten Mitteln, sondern nach dem Ergebnis.
Ein Ergebnis, das zumindest für die Schweiz bisher recht positiv aussieht.
Daniel Kaufmann ist Assistenzprofessor für angewandte Makroökonomie an der Universität von Neuenburg und hält eine Forschungsprofessur an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Seine Forschung fokussiert auf Geldpolitik in offenen Volkswirtschaften und Inflationsmessung mit historischen Daten. In der Vergangenheit arbeitete er für die Schweizerische Nationalbank und unterrichtete an der Universität Bern und am Studienzentrum Gerzensee.
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