Wie soll die soziale Ungleichheit bekämpft werden, ohne das Unternehmertum zu gefährden? Christopher Anderson/Magnum Photos/Keystone

Finanztheorien für sture Esel

Die Modern Monetary Theory besagt, dass ein Staat wie die USA nie bankrottgehen kann. Stimmt das? Teil 3 einer Serie über die Wirtschafts­politik der neuen amerikanischen Linken.

Von Gabriel Züllig, 08.07.2019

Das Beruhigende an einer Uhr ist, dass sie immer wieder von vorne anfängt. Egal wie oft es fünf vor zwölf war – ein neuer Tag mit neuen Chancen bricht an.

Allerdings nicht bei der Uhr, die an der 44. Strasse in New York, gleich um die Ecke des Times Square, an einer unscheinbaren Wand hängt. Sie zählt unaufhaltsam weiter und weiter, in roten Digital­ziffern, schneller, als das Auge mithalten kann: die Schulden­uhr der Vereinigten Staaten von Amerika.

22,4 Billionen Dollar: So viel Geld hat die US-Regierung aufgenommen. Jede Woche kommen 20 Milliarden hinzu. Die Schulden­quote übersteigt bereits 100 Prozent des Brutto­inland­produkts. Nicht einmal, wenn der Staat ein ganzes Jahr lang sämtliche Einkommen des Landes dafür verwenden würde, die Ausstände zu begleichen, wären diese vollständig zurückgezahlt.

Ein Grund zur Sorge für viele Volkswirte – aber nicht für den aufstrebenden linken Flügel der Demokratischen Partei. Schulden machen ist für ihn nicht nur ein notwendiges Übel. Nein, es ist wirtschafts­politisches Kernprogramm.

Bergab und wieder bergauf

Schuldenquote der USA, in Prozent des BIP

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Quelle: U.S. Office of Management and Budget

Flankenschutz kommt von einigen Ökonomen, die in der Wissenschaft eher zu den Aussen­seitern zählen, dafür umso medien­präsenter sind. Stephanie Kelton, ökonomische Beraterin des demokratischen Senators Bernie Sanders, ist die lauteste von ihnen. Sie sagt: Ein Staat kann seine Ausgaben unbegrenzt und ohne Rücksicht auf den steigenden Schulden­berg ausweiten.

Eine unkonventionelle Theorie

Grundlage dieser Aussage ist die sogenannte Modern Monetary Theory (MMT). Diese Denkschule ist so modern und für hiesige Ökonomen so ungewöhnlich, dass es dafür noch gar keine deutsche Übersetzung gibt. Sie besagt im Kern: Über Staats­schulden braucht sich niemand zu sorgen.

Wie die MMT zu dieser Schluss­folgerung kommt, ist allerdings gar nicht so modern, denn sie bezieht sich auf viele, teilweise uralte Theorien und vermengt sie so, dass sich nur eine Erkenntnis ableiten lässt: Solange ein Land eine eigene Währung hat, wird es nie zahlungs­unfähig werden.

Wirtschaftswunder oder Wunschtraum?

Die Demokratische Partei rückt nach links, und bald werden in den Primaries, den partei­internen Vorwahlen zur Präsidentschafts­kampagne 2020, die Programmatiken formuliert. Die wirtschafts­politischen Konzepte sind ebenso hip und unkonventionell wie der Instagram-Auftritt von Alexandria Ocasio-Cortez. Doch wie Erfolg versprechend, utopisch oder gefährlich sind sie? In einem Drei­teiler machen wir uns auf Spuren­suche – und zwar im Zentrum des US-Kapitalismus: New York City. Teil 1 handelt von progressiven Einkommens­steuern, Teil 2 vom Green New Deal und Teil 3 von einer neuen geldpolitischen Theorie.

Diese Hypothese vertritt die MMT mit solcher Sturheit, dass selbst gestandene Ökonomen, die sich seit einigen Monaten an den Argumenten abarbeiten, verzweifeln. Zu ihnen gehören Nobel­preis­träger Paul Krugman oder der Präsident der American Economic Association, Olivier Blanchard. Zu hören bekommen sie jeweils, sie hätten die Theorie einfach nicht verstanden. Dabei sind Leute wie Blanchard überhaupt keine orthodoxen Sparfüchse. Im Gegenteil: Der Franzose propagiert sogar selbst höhere Staatsschulden.

Wie viel Geld kann der Staat also ausgeben, wie viele Schulden aufnehmen? Vordergründig einleuchtend ist die «schwäbische Hausfrauen­regel»: Der Staat dürfe nicht mehr ausgeben als einnehmen. Sie ist jedoch falsch. Denn die Volks­wirtschaft ist ein zirkuläres, kein lineares Gefüge. Deshalb ist es beispielsweise fatal, wenn der Staat in der Rezession spart. Damit entzieht er der Privat­wirtschaft noch mehr Nachfrage und verschlimmert die Krise.

Im Gegenteil: Der Staat soll in der Krise die Privat­wirtschaft anschubsen, indem er Schulden aufnimmt. Zu dieser Einsicht gelangte der britische Ökonom John Maynard Keynes in den 1930er-Jahren. Der damalige New Deal war das wirtschafts­politische Lehrstück, das ihm recht geben sollte.

Nimmt der Staat Schulden auf, gibt er Obligationen aus, also ein Versprechen auf zukünftige Rück­zahlung inklusive Zinsen. Wenn jemand diese Papiere kauft – private Haushalte, Banken oder Pensions­kassen –, stellt dies ein Vermögen dar. Die Wirtschaft als Ganzes wird weder reicher noch ärmer.

Man erkennt dies an den Finanzierungs­salden der USA: Immer wenn der Staat vermehrt Kredite aufnahm, wie zuletzt während der Finanz­krise, stieg auch das Vermögen der Haushalte – entweder im Inland oder im Ausland. Wobei im letzteren Fall besonders China und Japan die Vermögenden sind.

Schulden sind immer auch Vermögen

Finanzierungssalden der USA

Neue Staatsschulden
Neues US-Privatvermögen
Neue ausländische Guthaben in den USA
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Quelle: Financial Accounts of the United States, Federal Reserve System

Bei der Schuldenaufnahme, darüber sind sich sämtliche Ökonomen und Theorien einig, sind dem Staat grundsätzlich nur zwei Schranken gesetzt:

  1. Er muss jemanden finden, der ihm die Schulden abkauft. Dafür zahlt er einen Zins. Steigt dieser Zins zu stark, wird die Rück­zahlung ein Problem.

  2. Er darf mit seinen schulden­finanzierten Ausgaben nicht zu viel Nachfrage schaffen, da es sonst zur Inflation kommt: Die Preise steigen.

Die Modern Monetary Theory besagt allerdings, dass das erste Problem nicht wirklich existiert – und dass das zweite einfach zu kontrollieren ist.

1. Zinsen

Stephanie Kelton ist eine viel beschäftigte Frau. Sie hält Vorträge vor dem britischen Oberhaus, Keynote Speeches an Wirtschafts­foren von Kalifornien bis Japan und berät Politiker in Washington D.C. Dazwischen hetzt sie von Tweet zu Tweet und gibt nur den ganz grossen Medien­häusern Interviews.

In den Wirtschafts­wissenschaften aber hat Kelton einen schweren Stand. Denn die Forscher­gemeinde verlangt in Formeln gegossene Aussagen und empirisch überprüfte Ergebnisse. Diesem akademischen Diskurs jedoch entzieht sich Kelton genauso wie andere MMT-Exponenten fast komplett.

Lieber sucht sie die kleine Bühne zu Hause in New York. Die exklusive New School, eine private Universität in Greenwich Village, versteht sich als Brut­stätte für progressive Ideen und soziale Bewegungen. Von hier hat Kelton ihr Doktorat, hier unterrichtet sie ein Dutzend Studenten in modern money.

Wer ihr bei der Vorlesung zuhört, muss gut aufpassen. Meist spricht Kelton langsam und wählt ihre Worte mit Bedacht. Doch im entscheidenden Moment erhöht sie das Tempo – etwa dann, wenn es um die Schranke der hohen Zinsen geht und darum, wie der Staat sie genau überwinden kann.

Kelton sagt hier: Ein Staat mit einer eigenen Zentral­bank kann immer neues Geld drucken und damit letztlich alle Ausgaben finanzieren, die er will. Die These ist nicht ganz falsch, sondern mit eine Erklärung dafür, warum die Finanz­märkte bei jedem populistischen Wimpern­schlag in Italien – einem Land ohne eigene Zentral­bank – zusammenzucken, während Japan trotz seiner weltweit höchsten Staats­schulden­quote ultratiefe Zinsen hat.

Um Phänomene wie Japan zu erklären, bedient sich die MMT eines Arguments aus den 1940er-Jahren, das als functional finance bekannt ist: Es besagt, dass jedes Mal, wenn der Staat seine Ausgaben erhöht, auch die Zentral­bank automatisch die Geldmenge erhöht, um diese Ausgaben zu finanzieren. Mehr Geld im Umlauf bedeutet aber, dass der Zins nicht steigt – sondern sinkt!

Dieses Setting führt allerdings dazu, dass die Zentral­bank ihre übliche Aufgabe, die Stabilisierung von Preisen und Konjunktur, nicht mehr wahrnehmen kann. Zu ihrem einzigen Daseins­zweck wird stattdessen das Begleichen der Staats­rechnung. Historisch endeten solche Arrangements oft in einer Hyper­inflation, also in einem unkontrollierten Anstieg der Preise.

2. Inflation

Von einer solchen Hyperinflation sind wir momentan noch weit entfernt – obwohl Donald Trump, selbst ernannter «König der Schulden», mit Ausgaben und Steuer­geschenken nicht geizt und es dadurch schafft, selbst in der Hoch­konjunktur ein Defizit von 3,8 Prozent zu erwirtschaften. Die Inflation in den USA beträgt aktuell 1,8 Prozent und entspricht damit dem Ziel der Federal Reserve.

Möglich, dass sich dies auch mit der Wirtschafts­politik der neuen Linken, die ihn 2020 herausfordern wollen, nicht ändern würde. Die demokratische Abgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez und ihre Getreuen wollen zahlreiche, teure Ideen verwirklichen: Schulden­erlass für Studien­kredite, Kranken­kasse für alle, Green New Deal. New Yorker wie Trump oder Ocasio-Cortez haben eine gewisse Lockerheit im Umgang mit Geld wohl in den Genen.

Es war jedoch ebenfalls ein New Yorker, der vor dieser Wirtschafts­weise warnte. Milton Friedman (1912 bis 2006), geboren in Brooklyn und aufgewachsen in New Jersey, prägte das ökonomische Diktum, wonach Inflation «immer und überall ein monetäres Phänomen» sei. Der Wirtschafts­nobelpreis­träger von 1976 meinte damit: Nur weil die Zentral­bank eines Landes mehr Geld in Umlauf bringt, sind die Güter und Dienst­leistungen, die ein Land produziert, nicht mehr wert. Stattdessen entwerten sie sich, in Dollar oder Franken gemessen.

Friedmans in den 1970er-Jahren aufgestellte monetäre Theorie der Inflation ist für die lange Sicht empirisch so gut erhärtet wie wenige andere Zusammenhänge in der Volks­wirtschafts­lehre. Ihre Aussagen bewahrheiten sich auch im Rückblick über die amerikanische Wirtschafts­geschichte: In Jahrzehnten, in denen die Geldmenge stark wuchs (zum Beispiel 1910 bis 1920, 1940 bis 1950 oder 1970 bis 1980), fiel durchwegs auch die Inflation überdurchschnittlich hoch aus (siehe die drei Punkte rechts oben).

Ein monetäres Phänomen

Geldmengenwachstum und Inflation

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Quelle: Federal Reserve System, NBER. Kumuliertes Wachstum der Geld­menge M2 sowie mittlere jährliche Inflations­rate über ein Jahr­zehnt. Wenn Sie mit dem Cursor auf die einzelnen Punkte gehen, sehen Sie die Angaben zu den jeweiligen Jahrzehnten.

Nun haben die Zentral­banken seit der Finanz­krise ihre Bilanzen massiv ausgeweitet – und es kam trotzdem nicht zur Inflation. Hat die herrschende Lehre also versagt? Und braucht es deshalb einen makro­ökonomischen Paradigmen­wechsel hin zur MMT?

So einfach ist die Sache nicht.

Gemäss der MMT kontrolliert der Staat die Inflation ganz anders: Er schafft einen grossen öffentlichen Sektor, in dem er alle Personen beschäftigt, die bei privaten Firmen keinen Job finden, und zahlt ihnen ein Gehalt. Über dieses Gehalt wird indirekt das Lohn- und Preis­niveau der ganzen Volks­wirtschaft reguliert: Droht Inflation, kürzt der Staat die Löhne, und das Preis­niveau sinkt. Droht Deflation, handelt er umgekehrt und erhöht die Löhne.

Wenn Professorin Kelton sich vorstellt, welche Dynamik es auslösen könnte, wenn jede Amerikanerin ein Recht auf einen gut bezahlten Job hätte, glänzen ihre Augen. Die politischen Dilemmata, die ihr MMT-System mit sich bringt, blendet sie jedoch aus. Regierungen müssten in Zeiten steigender Inflation etwa die Löhne senken – eine, gelinde gesagt, eher weltfremde Annahme.

Das Kernproblem der Inflation löst Kelton nicht: Wie verhindert man, dass die Menschen Vertrauen in eine Währung verlieren und diese sich entwertet?

Auch hier bedient sich die MMT einer alten Theorie: des Chartalismus. Solange der staatlich fixierte Lohn in US-Dollar gezahlt wird und Steuern in US-Dollar erhoben werden, seien die Menschen gezwungen, an den Dollar zu glauben. In einer globalisierten Welt, mit stabilen Alternativen in Form von anderen Landes- oder gar Krypto­währungen, ist das jedoch Wunschdenken.

Die Dosis macht das Gift

Als ökonomische Theorie funktioniert die MMT also nicht. Das heisst jedoch nicht, dass alle politischen Schluss­folgerungen automatisch falsch sind.

So senkten die meisten Länder nach der Finanz­krise die Ausgaben, statt günstig Schulden aufzunehmen und zu investieren. Grossbritannien, die Eurozone, aber auch die Vereinigten Staaten ab 2011 haben mit dieser Sparpolitik die wirtschaftliche Erholung aktiv verzögert. Eine Prise MMT hätte in dieser Situation geholfen. Gleiches gilt für die nächste Rezession.

Umgekehrt haben Zentral­banken wie die Federal Reserve oder die Europäische Zentralbank in den vergangenen Jahren viel Geld gedruckt und damit die Schulden ihrer Regierungen zum Teil aufgekauft. Man kann darin eine Lightversion der MMT erkennen, eine verkappte Anwendung der Theorie.

Doch die Dosis macht das Gift. «All in» für die MMT heisst, die Zentral­banken am Gängel­band der Politik zu führen. Diese techno­kratischen Institutionen haben in den vergangenen 30 Jahren erfolgreich die Wirtschaft stabilisiert und Inflation verhindert. Es gibt gute Gründe, warum diese Aufgabe nicht in den Händen von Politikern ist – egal aus welcher Partei.

Schluss

Unter den Demokraten tobt ein Richtungs­streit um die Wirtschafts­politik und damit auch um den Kapitalismus im 21. Jahr­hundert: Wie soll die grassierende Ungleichheit bekämpft werden, ohne das Unternehmertum und und seine Innovations­kraft zu gefährden? Wie soll die Chancen­gleichheit gestärkt, die Infrastruktur erneuert und der Klima­wandel bekämpft werden?

Auf der einen Seite steht die wirtschafts­liberale Politik der vergangenen 30 Jahre: tiefe Steuern, insbesondere für Reiche, und ein schlanker Staat. Seit dem republikanischen Präsidenten Ronald Reagan wollte oder konnte auch kein Demokrat ernsthaft an diesem Dogma rütteln – selbst Barack Obama und sein Vize Joe Biden nicht.

Der linke Flügel der Partei will das Staats­budget nun massiv erhöhen, um die Wirtschaft sozial und ökologisch umzubauen. Die MMT-Hypothesen liefern dafür den geldtheoretischen Unterbau und werden deshalb stur gegen alle Widerstände verteidigt – der Esel ist schliesslich das Maskottchen der Partei.

Esel sind jedoch nicht nur stur, sondern auch klug. Dass sie eine durchdachte und umsetzbare Wirtschafts­politik machen können, müssen die jungen und alten Heisssporne vom linken demokratischen Lager erst noch beweisen.

Der Autor

Gabriel Züllig ist Ökonom. Er interessiert sich für die Makro-Fragen des Wirtschafts­geschehens – Finanz­krisen, Arbeits­märkte und Geld­politik – und schreibt über globale Wirtschafts­entwicklungen. Er lebt in Kopenhagen und arbeitet an einem Doktorat an der Københavns Universitet.

Linke Ideen für die US-Wirtschaft

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