Bookmarks für Last-Minute-Schenker

Wer kurzfristig noch ein besonderes Weihnachts­präsent sucht, ist mit feinem Lesestoff bestens beraten. Ein paar Entdeckungen aus 2019 zur Inspiration.

Von Daniel Graf, 23.12.2019

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Ein Wintergedicht aus dem Blätterwald: Herta Müller zeigt, dass man auch mit der Schere schreiben kann. Mehr zu ihr – unter Nummer 4. Jörg von Bruchhausen/Carl-Hanser-Verlag

1: Ein Kultbuch mit Verspätung

Einer der übermütigsten, sprach­süchtigsten und klischee­sprengendsten Romane dieses Jahres stammt in Wirklich­keit von 1974. Nur wurde «Oreo» damals sträflich über­sehen und erst Jahre nach dem Tod der Autorin Kult. Und wenn man nun die soeben erschienene deutsche Fassung liest, ist man versucht zu denken, dieser einzige Roman von Fran Ross (1935–1985) habe auf eine so virtuose Über­setzerin wie Pieke Bier­mann gewartet.

Wessen Herz für den Feminismus schlägt, wird diesen Text lieben; wer über­haupt eines besitzt, vermutlich auch. Und womöglich wird mancher beim Lesen darüber staunen, dass Fran Ross hier immer schon ein, zwei (Über-)Drehungen weiter ist als der Gross­teil der identitäts­politischen Diskutanten von heute. Ihr anarchischer Witz dient primär als Waffe gegen Sexisten, Anti­semiten und Hautfarben-Rassisten, macht aber auch vor den allzu simplen Welt­bildern mancher Wohl­meinenden nicht Halt, in der die Diskriminierten immer nur als Heilige vorkommen dürfen – und bloss als homogene Gruppe.

Oreos Welt ist schon rein familiär etwas komplizierter. Wie Fran Ross selbst ist die Titel­heldin Tochter eines jüdischen Vaters und einer Black American. Oreos Gross­mutter erlitt einen Herz­infarkt, als sie erfuhr, dass ihr Sohn die Schule abbrechen und «ein schwarzes Mädchen heiraten» wolle; der Gross­vater mütterlicher­seits wiederum ist bei dem Gedanken, dass sein Mädchen «einen Juden­jungen heiraten» und demnächst «Schwartz» heissen werde, in seinem Stuhl «zu einem steifen halben Haken­kreuz» erstarrt.

Weil die Beziehung der Eltern irgendwo in diesen Wirrungen Schiff­bruch erlitt und Oreo ohne ihren Vater aufwuchs, macht sie sich nun auf, ihn zu suchen. Wobei Oreo eigentlich Christine heisst, sich in einem selbstbewusst-ironischen Reclaiming aber selbst jenen Namen gegeben hat, der schon damals nicht nur einen schwarz-weissen Keks bezeichnete, sondern auch ein Schmähwort war. Kommen Sie noch mit?

Egal, fürs Erste reicht es zu wissen: Dieses Buch eignet sich auch bestens als ultimativer Humor(losigkeits)-Detektor für eigene Beziehungs­kisten: Schenken Sie es Ihrer/Ihrem Liebsten, schlagen Sie eine beliebige Doppelseite auf und lesen Sie vor. Hat die oder der Beschenkte vor dem ersten Umblättern nicht mindestens einmal vernehmlich gelacht (oder sagen wir: geschmunzelt), sollten Sie Ihre Partnerwahl vielleicht noch mal … ach was, dann haben Sie sicher nur schlecht vorgelesen.

2: Ein west-östlicher Divan von heute

Es ist das Jahr der grossen Gedicht­anthologien. Im Republik-Buchclub vom April haben wir Ihnen «Grand Tour» vorgestellt: eine literarische Reise durch Europa, in 49 Länder und 47 Sprachen. Nun schlägt ein neuer Band die Brücke zwischen Okzident und Orient, eine west-östliche Gedicht­sammlung mit umfang­reichem Kommentar­teil zu den Versprechen und den Heraus­forderungen des Kultur­transfers zwischen Morgen- und Abendland.

Kommt Ihnen bekannt vor? Soll es! «Ein neuer Divan» ist natürlich eine Anspielung auf den berühmten «West-östlichen Divan» von 1819, Goethes Hommage an den persischen Dichter Hafis, zugleich eine Art Programm­schrift seines Weltliteratur­konzepts. Wo Goethes Sammlung noch ein klassisches Autoren­buch war, haben Barbara Schwepcke und Bill Swainson – ursprünglich für einen englischen Verlag – nun einen echten «lyrischen Dialog zwischen Ost und West» initiiert und 24 zeitgenössische Dichterinnen gebeten, ihre lyrische Antwort auf Goethes «Divan» zu geben: 12 Stimmen auf Arabisch, Persisch und Türkisch sowie ebenso viele in verschiedenen europäischen Sprachen. Dazu 4 Essays von Expertinnen und Praktikern des ost-westlichen Austauschs.

Für die deutsche Fassung des «Neuen Divans» haben ausserdem 21 deutsch­sprachige Lyriker die Gedichte übertragen – im Falle der arabischen und persischen Texte meist mithilfe erfahrener Übersetzerinnen.

Dabei ist eine auch ihrer Machart nach einzig­artige Sammlung entstanden, trotz mancher Betulich­keiten in einzelnen Gedichten und Essays. Den lyrischen Dialog sollte man sich aller­dings nicht zu harmonisch vorstellen. Maren Kames etwa übersetzt Fadhil al-Azzawi nicht einfach (wie vorgesehen); sie schreibt tatsächlich eine Ant-Wort, ein Anti-Wort: ein Gegen-Gedicht. Und auch die Essayisten unter­einander sind sich keines­wegs in allen Punkten einig – echte Polyphonie also.

Vor allem aber lassen sich mit diesem Buch ein paar gross­artige lyrische Stimmen entdecken. Die der Ägypterin Iman Mirsal zum Beispiel, deren Liebes­lyrik mit ihren starken Alltags­bildern auch politische Implikationen hat. So heisst es in der Nachdichtung von Steffen Popp und Stefan Weidner mit einer einzigen, weit ausgreifenden Langzeile: «Ich fürchte mich nicht vor meiner rechten Schulter, nicht vor meiner linken und nicht vor dem Schweiss­tropfen zwischen meinen Brüsten.»

3: Ein Wörterbuch der Gegenwart

Tonartwechsel.

Kann man ein Wörterbuch der Gegenwart schreiben? Wenn die Begriffe noch gar nicht definiert, der Ausgang von dem, was verhandelt wird, noch gar nicht abzusehen ist? Vielleicht am besten, indem man das Ringen um die Begriffe selbst abbildet.

Das «Haus der Kulturen der Welt» (HKW) in Berlin, seit Jahren schon einer der Orte, an denen künstlerisch und theoretisch aktuelle Themen in globaler, post­kolonialer Perspektive verhandelt werden, hat ein Lexikon zusammen­gestellt, das gar keines ist. Sondern selbst ein Ort, wo die heutigen Konflikt­fragen zu Themen­clustern gebündelt und multi­perspektivisch aufge­fächert werden: durch Wissenschaft­lerinnen, Aktivisten, Künstlerinnen. Und weil jedes Wörter­buch immer auch Ausdruck der Zeit ist, lässt sich schon an der Auswahl der Begriffe ein erster Befund ablesen.

«Angst», «Bild», «Ding», «Gerechtigkeit» lauten die ersten vier Einträge und damit die ersten grossen Themen­blöcke. Welche Wörter von A bis G hätten Sie gewählt? Und mit welchen würden Sie weitermachen?

Hier folgen: «Gewalt», «Körper», «Markt», «Politik», «Sprache», «Tier», «Wahrheit», «Zeit» – mehr nicht. Und doch kommt das Buch auf 700 Seiten. Braucht es einen anschaulicheren Beweis für die Komplexität der Jetzt-Zeit?

Allerdings, das wichtigste Wort des Bandes taucht in den Kapitel­titeln gar nicht auf: «Anthropozän», oder auf Deutsch: Menschen­zeitalter. Es ist das Alpha und Omega dieses auch gestalterisch anspruchs­vollen Buches und das zentrale Wort in der Gegenwarts­bewältigung am HKW. Zugleich, und das führt zurück zum Anfang, ist «Anthropozän» einer der umstrittensten Begriffe überhaupt. Müsste man, so fragen viele, nicht eher vom «Kapitalozän» sprechen, wenn es um die ökologische Zerstörungs­kraft des Menschen und die globale Ungleich­heit gleicher­massen geht? Stoff zum Nach­denken, in vielen Perspektiven.

4: Poesie aus Schnipseln

Poesie entsteht durch Eingebung? Vielleicht. Oder zufällig; durch produktive Fehler; durch Zufälle, denen man nachhilft. Und manchmal auch einfach, weil man auf einen banalen Alltags­mangel reagiert, auf ein Problem, das jede und jeder kennt.

Bei Herta Müller waren es Post­karten. Genauer gesagt: der Umstand, dass sie nirgendwo welche ohne dümmliche Sprüche und miss­ratene Farben finden konnte. Also hat sie selbst welche gebastelt, aus Bildern und vor allem Wörtern, die sie aus Zeitungen und Zeitschriften ausschnitt – so wie in der Collage über diesem Artikel.

Und natürlich ist auch das Ausschneiden ein Quell für Poesie. Weil man dabei je nachdem, wie man schneidet, auch neue Wörter findet, die sich in anderen verstecken: In «verstecken» zum Beispiel steckt ja auch ein Vers (erste Ecke!). So hat die Autorin aus der «Land­schaft» ein «Land­schaf» gemacht und aus der «Herz­krankheit» einen «Herzkran».

Bei aller Spielerei: Herta Müllers Gedicht­collagen sind feinfibrige Miniaturen über die Natur, den Menschen, aber auch die Präsenz von Vergangenheit und Geschichte. Nicht nur wegen Müllers Vorliebe für den versteckten, vom Erscheinungs­bild camouflierten Kinder­reim haben diese Texte etwas hochgradig Intimes; und können doch im nächsten Moment, bei gleicher Tonlage, in ein surrealistisches Bild gleiten: «in der Melancholie / sitzt das Chamäleon / aus dunklem Samt / erzähl nie wie kalt seine / Schnauze ist wenn es / dir aus der Hand frisst».

«Im Heimweh ist ein blauer Saal» besteht von Anfang bis Ende aus vorgefundenem Material und ist dennoch eines der persönlichsten Bücher der Nobelpreis­trägerin. Wenn Sie’s verschenken, legen Sie doch eine selbst gemachte Postkarte dazu.

Vier Buchtipps und noch nix für Sie dabei?

Dann zappen Sie mal ans Ende unseres November-Buchclubs. Da präsentieren unsere Kolumnistin Mely Kiyak und die Republik-Feuilleton-Redaktion ein paar Lieblings­bücher und neueste Funde. Ausserdem haben wir Ihnen eine ganze Liste aktueller Klima­bücher zusammen­gestellt und die wichtigsten davon eingehend diskutiert – auch mit unserer Leserschaft. Und wenn Sie noch mehr Stoff brauchen, stöbern Sie einfach in unseren Trouvaillen vom Frühjahr und von vergangenem Dezember. Denn wirklich gute Bücher über­dauern bestens – siehe Fran Ross.

Frohe Festtage und happy holiday season!

Die Bücher

Fran Ross: «Oreo». Roman. Aus dem amerikanischen Englisch und mit Anmerkungen versehen von Pieke Biermann. Mit einem Nachwort von Max Czollek. DTV, München 2019. 288 Seiten, ca. 32 Franken.

Barbara Schwepcke und Bill Swainson (Hg.): «Ein neuer Divan. Ein lyrischer Dialog zwischen Ost und West». Suhrkamp, Berlin 2019. 228 Seiten, ca. 45 Franken. Der Verlag bietet eine Leseprobe.

Bernd Scherer, Olga von Schubert und Stefan Aue (Hg): «Wörterbuch der Gegenwart». Matthes & Seitz, Berlin 2019. 720 Seiten, ca. 48 Franken.

Herta Müller: «Im Heimweh ist ein blauer Saal». Carl-Hanser-Verlag, München 2019. 128 Seiten, ca. 32 Franken.