Und welches schenken Sie?
Als Geschenke-Joker sind Bücher unschlagbar. Aber last minute muss nicht Mainstream bedeuten. Fünf Trouvaillen aus dem Jahr 2018 als Inspiration für das besondere Buchpräsent – oder zum Selberschmökern.
Von Daniel Graf, 21.12.2018
Für geschichtsbewusste Feinschmecker
Was verzehrte die Hochzeitsgesellschaft bei Napoleon Bonaparte und Marie-Louise von Österreich? Konnten Kim Kardashian und Kanye West da zweihundert Jahre später mithalten? Wie üppig fiel das erste Menü auf dem Mond aus? Und was servierte einst die Schweizer Botschaft in Berlin, um den fertiggestellten Gotthardtunnel zu feiern?
Tobias Roth und Moritz Rauchhaus führen in hundert Menüs durch die Weltgeschichte. Ihre Sammlung, opulent illustriert und in blau-rotem Zweifarbendruck, ist auch in bibliophiler Hinsicht etwas für Gourmets. Wir schauen dem Adel des 15. Jahrhunderts auf den Teller oder den Beatles im Hause Elvis Presley. Erfahren, wie revolutionär die DDR-Staatsküche Fidel Castro empfing. Und ob Marie Curie bei ihrem zweiten Nobelpreis gebührend entschädigt wurde – für die verpasste Schildkrötensuppe bei Preisbankett Nummer eins.
Falls Sie zu Silvester originalgetreu nachkochen wollen: Halten Sie sich besser nicht an Bartolomeo Scappi, den Spitzenkoch des 16. Jahrhunderts. Sein «Imbiss für den letzten Tag des Dezembers» war immerhin ein viergängiger Snack, «serviert zu je zehn Tellern, mit zehn Ober- und zehn Unterkellnern». Und auch das königliche «Sparprogramm», mit dem Marie-Antoinette auf die Kritik am höfischen Luxusleben reagierte, hilft nur bedingt. (Bloss so viel: als Dessert-Auswahl «sechzehn kleine Nachspeisen».)
Tempi passati? Dann lesen Sie mal, was Matteo Renzi bei Obamas letztem state dinner kredenzt wurde. Die Tischmusik servierte übrigens Gwen Stefani.
Tobias Roth, Moritz Rauchhaus (Hg.): «Wohl bekam’s! In hundert Menüs durch die Weltgeschichte». Verlag Das kulturelle Gedächtnis. 336 Seiten, 772 Illustrationen, gebunden, zweifarbiger Druck, mit Kopffarbschnitt und Prägung. Ca. 42 Franken.
Für den philosophischen Sprint
Nach so viel Üppigkeit: Entschlackung! «Alles Genaue ist kurz», schrieb der geniale Joseph Joubert im Jahr 1804. Publizistisch hat er die Verknappung dann doch ein wenig übertrieben – und ein Leben lang einfach gar nichts veröffentlicht. Ein Schriftsteller ohne Werk also. Wenn das nicht apart ist!
Immerhin aber hat er seine Geistesblitze in Notizbüchern festgehalten. Sodass seine «Pensées» dank Chateaubriand (und später wieder dank Maurice Blanchot) dann doch noch auf die Nachwelt kamen. Der Basler Publizist Martin Zingg hat nun daraus eine Auswahl getroffen, dazu ein kluges Vorwort geschrieben, einen ebenfalls funkelnden Text von Paul Auster als Nachwort übernommen und Jouberts genaue Kürze ins Deutsche gebracht. Manches Notat klingt, als wäre es auf heute gemünzt: «Meinungswolken: verbergen den Himmel», heisst es lapidar. Oder: «Missbrauch der Wörter, Grundlage der Ideologie.»
Dem Denken, dem Lesen und Schreiben, dem Zwischenmenschlichen und den letzten Fragen widmet sich Jouberts Scharfsinn. Oder der Alltagsbeobachtung: «Wenn im Wasser eine Vase zerschlagen wird, die eine Flüssigkeit enthält, behält diese Flüssigkeit, die sich mit dem Wasser vermischen und zerfliessen wird, eine Zeitlang die Gestalt der Vase, die sie enthielt.»
Falls Sie unterm Weihnachtsbaum aus diesem Zitatefundus schöpfen wollen, nehmen Sie, je nach familiärer Vorgeschichte, vielleicht nicht als Erstes diesen Stossseufzer: «Oh, wie viele schwache Schultern haben schon nach schweren Lasten verlangt.»
Joseph Joubert: «Alles muss seinen Himmel haben. Aus den Notizen». Auswahl, Übersetzung und Vorwort von Martin Zingg. Verlag Jung und Jung. 168 Seiten, in Leinen gebunden und mit Leseband. Ca. 30 Franken.
Für rebellische Geister
Einer wie Joubert hätte auch bei Hannelore Schlaffer seinen Auftritt haben können – wäre unter den titelgebenden Rüpeln und Rebellen ihres Buches allerdings als etwas zu offensichtlicher Menschenfreund aufgefallen. Denn Schlaffers Ideengeschichte des Intellektuellen gilt den grossen Querulanten der Geistesgeschichte. Jenem Typus, der erstmals bei Denis Diderot, im Dialog «Rameaus Neffe», das Parkett betritt. Und dessen verschiedene Wiedergänger vom Bohemien bis zum Dandy sich doch auf eines einigen können: den Spiesser als Feindbild.
Der Intellektuelle als «Hofnarr und Missionar der Gesellschaft», der mit beissendem Hohn und geistreichem Spott den Mächtigen in die Suppe spuckt (und bald schon genau dafür «gebucht» wird): All jenen Neffen Rameaus – und nicht zuletzt den allzu oft vergessenen Nichten – setzt Schlaffer ein Denkmal. Aber das heisst eben auch: Sie hält eine Grabrede. Weil es jenen Intellektuellentypus heute so nicht mehr gebe. Misanthrop mit Menschenkenntnis, Zeitgeistkritiker mit Faible für Kleidung und Geste, das wolle heute jeder und jede sein. Weshalb das Einzelgängerkonzept im Meer der Nachahmer versinke.
Der Ausblick ist in Sachen Tiefenschärfe sicher nicht der stärkste Part dieses Essays. Aber bevor Schlaffer etwas abrupt vom 18. und 19. Jahrhundert ins Heute springt, hat das Staunen längst begonnen: So federnd elegant kann Gelehrsamkeit sein.
Hannelore Schlaffer: «Rüpel und Rebell. Die Erfolgsgeschichte des Intellektuellen». Zu-Klampen-Verlag. 192 Seiten, Hardcover ohne Schutzumschlag. Ca. 29 Franken.
Für Naturmenschen und Magier
Nein, der Untertitel lügt nicht: Dies ist tatsächlich ein «Buch der Beschwörungen». Ein Bannzauber gegen das Verschwinden, geformt aus Aquarell und Poesie. Denn was wäre, wenn all die Naturwörter nicht mehr durch Kindermünder gingen: Blauglöckchen, Zaunkönig, Farn; Natter und Otter und alles, was flattert? Was wäre, wenn diese Wörter uns nicht mehr die Umwelt erschlössen, weil das, was sie benennen, gar nicht mehr da ist? Oder wenn die Wörter verloren gingen? Weil es Wörter nur gibt für das, was uns wichtig genug ist für einen Namen.
Also werden Robert Macfarlane und seine deutsche Übersetzerin Daniela Seel zu emphatischen Täufern. Rufen den «Eisvogel – / Pfeifvogel, Preisvogel!», der das Eis im Namen trägt und doch ein «Farbengeber, Feuerbringer, Flammenschnipser» ist. Oder den Löwenzahn alias «Mönchskopf, Pfaffenröhrlein, Bettseicher».
«Zettel neue Namen an» lautet das Motto, und das beschwört auch das älteste Naturgesetz der Poesie: Was benannt wird, ist da. Wenigstens als Idee. «die aprikosenbäume gibt es», begann die dänische Lyrikerin Inger Christensen einst ihr «alfabet», eines der grössten Gedichtbücher des 20. Jahrhunderts. Doch Christensens Alphabet enthielt noch andere Wörter mit A: Denn auch «die atombombe gibt es».
Warum «Die verlorenen Wörter» mit den hinreissenden Aquarellen von Jackie Morris den BAMB Beautiful Book Award gewann, dürfte jedem, der es aufschlägt, unmittelbar einleuchten. Doch sollte auch hier die Schönheit nicht darüber hinwegtäuschen, dass das verzweifelte Aufbieten aller ästhetischer Beschwörungstechniken ganz handfeste Gründe hat. Auch sie beginnen mit A: Artensterben. Anthropozän. Das klingt dann weniger erbaulich. Aber nach A wie Aufrichtigkeit ... (wenn schon Aufrütteln nicht drin ist).
Apropos: Zur Lyrik im Anthropozän hat Daniela Seel, im Hauptberuf Verlegerin von Kookbooks, selbst eine Anthologie zusammengestellt. Warum nicht im Paket verschenken?
Robert Macfarlane, Jackie Morris: «Die verlorenen Wörter». Aus dem Englischen von Daniela Seel. Hg. von Judith Schalansky. Verlag Matthes & Seitz Berlin. 134 Seiten, 100 Abbildungen, gebunden. Ca. 49 Franken.
Für Experimentierfreudige
Sie sind noch unschlüssig, ob Buch A, B, C oder D? Dann sind Sie schon mitten im Thema von E. «Multiple Choice» heisst das neue Werk des Chilenen Alejandro Zambra, und auch hier ist der Name Programm: ein literarischer Text, zugleich ein literarischer Test. Denn das Buch besteht aus 90 Multiple-Choice-Aufgaben für die Leserinnen – und hat damit just die Form der Aufnahmeprüfung, in der während der Pinochet-Diktatur über die Zulassung zur Universität entschieden wurde.
Bereit für ein Stück interaktive Literatur?
Also kreuzen Sie an: Welches Wort passt nicht zum Oberbegriff «Unterrichten»? a) Ausrichten, b) Nachrichten, c) Zurichten, d) Abrichten, e) Hinrichten.
Schon dieses einfache Beispiel deutet vielleicht zweierlei an: dass Zambras Übersetzerin Susanne Lange selbst zur virtuosen Wortfinderin werden musste, um die Experimente des Ausgangstextes im Deutschen nachzustellen. Aber auch, dass «Multiple Choice» zwar literarisch eigenwillig, aber kein harmloses Spielchen ist. Sondern eine bitterböse Satire auf schulischen Drill und den Stumpfsinn totalitärer Systeme. Fünf Wörter, eine Konstellation: Schon beginnen wir, im Geist die Lücken aufzufüllen.
So baut Zambra – bauen wir – Stück für Stück, Frage für Frage, eine Geschichte, viele Geschichten. Und der Text, der äusserlich der Bürokraten-Logik des Multiple-Choice-Tests folgt, tut dies nur, um die pedantischen Rubrizierungsversuche der Lächerlichkeit preiszugeben. Weil jede schwarz-weisse Checkbox sofort überläuft, sobald die Grauzonen des Lebens hineinspielen. Und sobald sich Systemdenken verwandelt: in Geschichte(n).
Alejandro Zambra: «Multiple Choice». Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Suhrkamp-Verlag. 109 Seiten, gebunden. Ca. 28 Franken.
... ach, und: Die goldene Regel
Die kennen Sie eigentlich schon. Von Alejandro Zambra. Oder Macfarlane. Und sie ist der Grund, warum Geschenkeberatung ein absurdes Genre ist. Jedenfalls, wenn man fertige Lösungen von ihr erwartet.
Denn seien wir ehrlich: Ein bisschen «interaktiver» Beschwörungszauber gehört auch zum Verschenken. Was hat Sie selbst an Buch X fasziniert? Und was bringt Sie dazu, es an Person Y zu verschenken? Wenn Sie auf diese zwei schlichten Fragen eine Antwort haben, die nicht komplett lieblos ist, dann ernten Sie, je nach Naturell, womöglich sogar Begeisterung mit «Steuerrecht – leicht gemacht». Aber wir wollen die Fantasie nicht überstrapazieren.
Will lediglich heissen: Bücher enthalten nicht nur Geschichten, sie vermehren sie auch. Wer Bücher verschenkt, wird zum Erzähler. Potenziell jedenfalls. Wenn das kein Grund zur Vorfreude ist?