Was kann Geldpolitik überhaupt ausrichten?
Das Wichtigste an einer Strategie ist: Man muss ein Ziel haben. Teil 4 unserer Serie über die Politik der Zentralbanken.
Von Daniel Kaufmann (Analyse) und Simon Schmid (Bearbeitung), 15.10.2018
Warum sind die Zinsen so niedrig? Und warum die Zentralbankbilanzen so gross? Vor einem Monat haben wir eine Serie über die Geldpolitik gestartet.
Nach Rotkäppchens Methode haben wir uns seither an die Wahrheit herangetastet – und dabei schrittweise herausgeschält, wie die Politik der Zentralbanken über die vergangenen Jahrzehnte durch mächtige, weltweite Wirtschaftstrends verändert wurde: sinkende Teuerungsraten, zunehmende globale Finanzströme, Rückgang des Produktivitätswachstums.
Von den geldpolitischen Folgen dieser Trends, die fast alle Zentralbanken auf ähnliche Weise betrafen, handelten die Teile eins, zwei und drei der Serie.
In den Teilen vier und fünf, die nun folgen, gehen wir einen Schritt weiter. Wir beleuchten die Spielräume, welche die nationale Geldpolitik trotz dieser globalen Trends hat. Was können die Zentralbanken einzelner Länder ausrichten? Welche Ziele können sie verfolgen, welche Strategien anwenden?
Uns interessiert dabei – einmal mehr – die Inflation. Weil sie eine der zentralen Grössen ist, an denen sich der Erfolg von Zentralbanken messen lässt.
Inflationsraten im Zeitverlauf
Die Daten, die wir uns dazu anschauen, stammen von der OECD. Wir lesen aus ihnen ab, dass Preisstabilität keine Selbstverständlichkeit ist: Im Lauf der vergangenen gut fünfzig Jahre schlug die Inflation in einigen Ländern nach oben aus – speziell nach dem Ende der Bretton-Woods-Ära ab 1973.
Zuvor waren die Inflationsraten vieler Länder ähnlich hoch. Angesichts der damals herrschenden fixen Wechselkurse ist dies nicht weiter erstaunlich.
Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems entstand dann allerdings mehr Spielraum für eine unabhängige Geldpolitik und damit für unterschiedliche Inflationsentwicklungen. In der Folge stieg die Teuerung in einigen Ländern an. Um 1990 kam es dann zu einer Stabilisierung, über die wir im ersten Teil dieser Serie bereits gesprochen haben.
Die grosse Frage ist: Welche Rolle spielen dabei die Zentralbanken in den einzelnen Ländern? Manchmal wird argumentiert, dass die tiefe Inflation auf Globalisierung, globale Wertschöpfungsketten und den Preisdruck aus China zurückzuführen sei. Liegt der Rückgang der Inflation tatsächlich an diesen globalen Trends? Oder an der Geldpolitik einzelner Länder?
Ein Vergleich der historischen Entwicklung der Inflation von Deutschland und der Schweiz legt nahe, dass die Geldpolitik bei der mittelfristigen Inflationsentwicklung durchaus eine wichtige Rolle spielt:
Historisch gesehen hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) eine ähnliche Inflationsaversion wie die Deutsche Bundesbank. Bis in die 1990er-Jahre weisen die Inflationskurven der beiden Länder keine systematischen Unterschiede auf: In der kleinen, offenen Schweiz schlug das Pendel teils etwas stärker aus als im grossen Deutschland, doch die Teuerung war im Durchschnitt etwa gleich hoch – beziehungsweise niedrig.
Seither liegt die Inflation in Deutschland allerdings fast durchweg leicht über der Inflation in der Schweiz. Die naheliegende Interpretation ist: Deutschland übernimmt als Mitglied der Eurozone das Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB), das etwas über jenem der SNB liegt.
Besonders nach der Finanzkrise öffnet sich die Schere. In der Schweiz fällt die Inflation zeitweise unter null – dies ist vereinbar mit der geldpolitischen Strategie der SNB, die mittelfristig eine Teuerung zwischen 0 und 2 Prozent anstrebt. Die EZB strebt demgegenüber eine Rate von nahe 2 Prozent an, was sich in den etwas höheren Inflationsraten in Deutschland spiegelt.
Natürlich handelt es sich hier um eine Nuance. Die Schweiz und Deutschland weisen im internationalen Vergleich beide sehr stabile Inflationsraten auf.
Ist die Strategie einer Zentralbank am Ende also doch nicht so entscheidend?
Inflationsraten im Länderzusammenhang
Schauen wir uns dazu eine weitere Kennzahl an. Eine, die zeigt, wie stark die Inflation in einem Land (der Schweiz) mit der Inflation in anderen Ländern (den G-7-Staaten) zusammenhängt: den Korrelationskoeffizienten.
Er nimmt den Wert 1 an, wenn sich die beiden Inflationsraten Jahr für Jahr in dieselbe Richtung bewegen. Er beträgt –1, wenn sich die Inflationsraten aus der Schweiz und dem Ausland stets genau gegenläufig verändern. Und er beträgt 0, wenn es zwischen ihnen überhaupt keinen Zusammenhang gibt.
Wir weisen die Korrelation zwischen der Schweiz und dem Ausland für zwei verschiedene Inflationstypen aus: einerseits für die unbereinigte Inflation der Konsumentenpreise, und andererseits für die bereinigte Kerninflation, die Schwankungen in den Nahrungsmittel- und Energiepreisen ausschliesst.
Wie wir sehen, ist die unbereinigte Inflation (dunkelblau) in der Schweiz positiv mit der Inflation in den G-7-Staaten korreliert. Für den Zeitraum ab 1995 zeigt die Grafik zum Beispiel einen Koeffizienten von 0,8 an. Das heisst, vereinfacht gesagt: Stiegen die Konsumentenpreise im Ausland, so kam es in diesem Moment in der Schweiz auch sehr oft zu einem Teuerungsanstieg.
Die Erklärung dafür ist, dass die Schweiz eine kleine, offene Volkswirtschaft ist. Ein Viertel des hiesigen Konsumentenpreisindex besteht aus importierten Gütern und Dienstleistungen, die in der Regel auch in den ausländischen Indizes enthalten sind. Zu ihnen gehört insbesondere auch Erdöl. Die Preise dieser Güter weisen öfter Schwankungen auf. Sie beeinflussen daher sowohl die Preisindizes in der Schweiz wie auch im Ausland – und zwar gleichzeitig.
Auf den ersten Blick könnte man also meinen, dass die Inflation in der Schweiz einfach derjenigen im Ausland folgt.
Wenn wir diese schwankenden Preise aber herausrechnen, ist die Korrelation viel niedriger. Wir sehen dies in der zweiten Reihe, die sich auf die Kerninflation bezieht (hellblau). Der entsprechende Koeffizient, der vor der Krise noch bei 0,2 lag, unterschied sich in den letzten zehn Jahren kaum von null. Das heisst: Die Kerninflation in der Schweiz hängt seit 2008 überhaupt nicht mehr mit der Kerninflation im Ausland zusammen.
Das ist ein starker Hinweis dafür, dass es in der Geldpolitik sehr wohl einen gewissen Spielraum gibt. Was uns wieder zur Ausgangsfrage des Textes führt:
Was können die Zentralbanken einzelner Länder überhaupt ausrichten?
Inflationsraten und Inflationsziele
Die obigen Korrelationsstatistiken legen nahe, dass sich die Kerninflation in der Schweiz durchaus unabhängig vom Ausland entwickeln kann. Doch wie können wir beurteilen, ob dies tatsächlich an der Geldpolitik der SNB liegt?
Eine Möglichkeit ist, sich die konkreten Inflationsziele verschiedener Zentralbanken genauer anzuschauen. Und dann zu überprüfen, ob diese teils recht unterschiedlichen Ziele in der Realität auch erreicht wurden.
Wir haben dazu Daten aus vierzig Ländern zusammengestellt: zu den Inflationszielen und zur tatsächlich verzeichneten Inflation. Unsere Hypothese lautet: Länder mit einem tiefen Inflationsziel müssten auch eine tiefe durchschnittliche Inflationsrate aufweisen – und umgekehrt.
Der vermutete Zusammenhang lässt sich in der Tat beobachten. Zum Beispiel kennt die Schweiz eines der tiefsten Inflationsziele weltweit – es handelt sich um das erwähnte Zielband von 0 bis 2 Prozent, auf der vertikalen Achse ist es bei 1 Prozent eingezeichnet. Auf der horizontalen Achse ist die tatsächliche, mittlere Inflation in der Schweiz abzulesen: Auch sie zählte mit –0,3 Prozent seit 2012 zu den tiefsten Raten weltweit (und lag sogar leicht unter dem Ziel).
Auf der anderen Seite des Spektrums strebt etwa die Türkei mit 5 Prozent ein relativ hohes Inflationsziel an. Die gemessene Inflation war mit 8,6 Prozent im Durchschnitt seit 2012 ebenfalls hoch. Länder mit höheren Inflationszielen verzeichnen empirisch also auch die höheren Inflationsraten.
Das heisst allerdings nicht, dass zwischen der geldpolitischen Strategie und der messbaren Inflation ein direkter Kausalzusammenhang existiert. Bloss ein tiefes Inflationsziel einzuführen, reicht in der Regel nicht aus, um die Inflation tatsächlich zu bändigen. Gerade die Türkei macht dies deutlich. In den letzten Monaten hat sich die türkische Lira deutlich abgewertet, die Inflation ist über das Ziel hinausgeschossen: Sie liegt aktuell bei geschätzten 25 Prozent und somit deutlich über dem Inflationsziel von 5 Prozent.
Der Hintergrund ist, dass der türkische Präsident die Zentralbank öffentlich unter Druck setzt, die Zinsen tief zu halten. Die politische Situation wird als fragil wahrgenommen, das internationale Vertrauen in die Lira ist gering. Importe werden wegen der schwachen Währung teurer, die Inflation steigt.
Das Beispiel zeigt, dass eine Zentralbank am Ende des Tages nur so gut sein kann wie die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen, in die sie eingebettet ist – und dass ihr gegebenes (oder gewähltes) Inflationsziel selbst ein Ausdruck von diversen Dingen ist: von der generellen Inflationsaversion in einem Land, der politischen Stabilität, der Effizienz des Steuersystems. Je ausgeprägter diese Faktoren in einem Land vorhanden sind, desto niedriger wird das Inflationsziel sein, das die Zentralbank anstrebt.
Das Beispiel der Türkei zeigt allerdings auch, dass eine Zentralbank am Ende des Tages sehr wohl Inflation erzeugen kann – trotz Trends wie der Globalisierung, die in den vergangenen Jahren dämpfend auf die Teuerung gewirkt haben. Geht der Glaube verloren, dass sich die Zentralbank mit aller Macht für stabile Preise einsetzt, öffnet dies der Inflation die Tür.
Fazit
Was kann eine Zentralbank nun also ausrichten? Zum Ende dieses Artikels könnten wir Ihnen dazu zwei verschiedene Geschichten erzählen.
Die eine lautet: In Zeiten der Globalisierung sind Zentralbanken machtlos. Die Inflationsraten nähern sich auf der ganzen Welt ohnehin an, nachdem sie in den 1980er-Jahren zwischenzeitlich etwas aus dem Ruder gelaufen waren.
Die andere lautet: Zentralbanken können die Inflation über die mittlere Frist erstaunlich gut steuern – solange der Staat, der ihren Auftrag definiert, auch die Rahmenbedingungen gewährleistet, damit dieser erfüllt werden kann.
Die Daten in diesem Artikel sprechen dafür, dass der zweiten Geschichte eine weitaus grössere Bedeutung zukommt. Und die stabile Inflation in der Schweiz nicht einfach nur Zufall ist, sondern tatsächlich auf die Geldpolitik der SNB zurückzuführen ist. Sie hat sich über die letzten rund vierzig Jahre hinweg sehr gut geschlagen. Ob ihre Strategie auch in Zukunft passt: Darüber sprechen wir im Abschlussartikel dieser Serie, der in einer Woche erscheint.
Daniel Kaufmann ist Assistenzprofessor für angewandte Makroökonomie an der Universität von Neuenburg und hält eine Forschungsprofessur an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Seine Forschung fokussiert auf Geldpolitik in offenen Volkswirtschaften und Inflationsmessung mit historischen Daten. In der Vergangenheit arbeitete er für die Schweizerische Nationalbank und unterrichtete an der Universität Bern und am Studienzentrum Gerzensee.
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