Entwerten die Zentralbanken unser Geld?
Start einer Serie über die Geldpolitik. Teil 1: Die Inflation – und ob es Zentralbanken gelang, sie zu bändigen.
Von Daniel Kaufmann (Analyse) und Simon Schmid (Bearbeitung), 10.09.2018
Rekordniedrige Zinsen, aufgeblähte Zentralbankbilanzen und fallende Arbeitslosenraten: Ist das der Stoff, aus dem Inflation entsteht? Stehen wir vor rasanten Preissteigerungen – oder ist im Grunde alles in Ordnung mit der Politik von Zentralbanken wie der Schweizerischen Nationalbank (SNB)?
Wir werden diesen Fragen in den nächsten Wochen auf den Grund gehen. Und zwar richtig: Wir möchten die Geldpolitik nicht bloss mit markigen Phrasen abhandeln, sondern mit Erklärungen der zugrunde liegenden Konzepte, mit historischen Statistiken und differenzierten Analysen.
Wir wollen in voller Breite und Tiefe aufzeigen, was mit der Geldpolitik passiert ist: seit der Finanzkrise und sogar ein Stück weit darüber hinaus.
Die verblüffende Geschichte der Inflation
Unsere Artikelserie beginnt mit jenem Mysterium, das im Zentrum der meisten geldpolitischen Überlegungen steht: der Inflation.
Und natürlich – wie es sich für diese Rubrik gehört – steigen wir mit einer Grafik ein, die die ganz lange Sicht beleuchtet. Sie zeigt, wie sich das Preisniveau von Konsumgütern in der Schweiz über die letzten 167 Jahre verändert hat: in Prozent und gemittelt über drei Jahre, um die Kurve etwas zu glätten und um zu berücksichtigen, dass zufällige kurzfristige Preisschwankungen im geldpolitischen Konzept der meisten Zentralbanken ohnehin keine Rolle spielen.
Angezeigt sind auch die Eckwerte, innerhalb deren die Inflation gemäss dem aktuellen Ziel der Nationalbank liegen sollte: zwischen 0 und 2 Prozent.
Die Preise für einzelne Waren und Dienstleistungen können sich jederzeit ändern: Einige Preise steigen, andere fallen. Steigen die Preise auf breiter Front, so spricht man von Inflation. Inflation verringert die Kaufkraft des Geldes: Man kann etwa mit einer Zehnernote weniger Waren kaufen als ein Jahr zuvor. Die Inflation wird üblicherweise mit der prozentualen Veränderung eines Preisindex über ein Jahr hinweg angegeben. In der Schweiz wird dafür der Landesindex der Konsumentenpreise verwendet.
Schauen wir uns die historische Grafik der Inflationsraten näher an:
Über die letzten zwanzig Jahre war die Inflation so stabil wie selten seit 1850. Die jährlichen Preisveränderungen lagen, wenn man sie gemittelt über drei Jahre betrachtet, fast immer zwischen 0 und 2 Prozent.
Anders war dies von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre. Die Inflationsraten schwankten viel stärker. In dieser Phase, in der das Bretton-Woods-System auseinanderbrach und die meisten Zentralbanken danach Geldmengenziele verwendeten, um die Geldpolitik zu kalibrieren, gab es mehrere Teuerungsschübe. Die Preise für Brot, andere tägliche Gebrauchsgüter oder auch etwa Haarschnitte stiegen zeitweise um fast 10 Prozent pro Jahr an.
Relativ stabil war die Teuerung im Zeitraum von 1945 bis 1960. Damals war das Bretton-Woods-System bereits in Kraft, und die meisten Staaten setzten Kapitalverkehrskontrollen ein, um trotz fixer Wechselkurse eine einigermassen unabhängige Geldpolitik zu verfolgen. Die Geldpolitik der USA, die im Zentrum des Systems stand, war zu dieser Zeit noch relativ stabil.
Während der beiden Weltkriege schoss die Inflation in der Schweiz zweimal deutlich über die 2-Prozent-Marke hinaus, unter anderem weil die Geldpolitik in den Dienst der Kriegsfinanzierung gestellt wurde. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und in der Grossen Depression der 1930er-Jahre gab es dagegen eine scharfe Deflation – das heisst, die Preise sanken. Insgesamt schlugen die Preise in dieser historischen Phase weit heftiger aus, als wir dies heute gewohnt sind.
Die Angaben aus dem 19. Jahrhundert sind mit grösserer Unsicherheit behaftet. Es gab damals noch keine offiziellen Preisstatistiken – die Zahlen sind retrospektiv geschätzt. Von 1850 bis 1888 wechselten sich Phasen der Inflation und der Deflation ab. Etwas stabilere Inflationsraten stellten sich von 1890 bis 1914 ein, in den letzten Jahren des klassischen Goldstandards.
Historisch betrachtet durchleben wir zurzeit also eine Ausnahmesituation: Die Inflationsraten sind über einen längeren Zeitraum aussergewöhnlich stabil, von einer Geldentwertung kann keine Rede sein. Wenn überhaupt, wäre eher die gegenteilige Kritik angebracht: Die Teuerung lag nach der Finanzkrise zwischenzeitlich unter dem Ziel von 0 Prozent.
Geldpolitik findet jedoch nie im luftleeren Raum statt. Diese Einsicht ist für die Schweiz zentral. Die Inflationsraten, die wir hierzulande verzeichnen, ähneln – zumindest in groben Zügen – jenen anderer Industrieländer. Etwa jener in den Vereinigten Staaten, in Grossbritannien oder in Schweden.
Man sieht dies in der folgenden Grafik. Die Inflationsraten der drei Länder sind darauf, analog wie oben für die Schweiz, gemittelt über drei Jahre und seit 1850 eingezeichnet. Die markanten Preisschwankungen im 19. Jahrhundert, die hohe Inflation während des Ersten Weltkriegs, die Grosse Depression, der Teuerungsschub in den 1970er-Jahren und auch die niedrigen Inflationsraten der letzten zwanzig Jahre: Wir finden all dies hier wieder.
Wie kommt es, dass sich die Inflation in vielen Ländern ähnlich verhält?
Eine häufig geäusserte Vermutung ist: Es liegt an der wirtschaftlichen Verflechtung der Länder über den Handel und die Finanzmärkte.
Die wahrscheinlichere Erklärung ist: Es hängt damit zusammen, wie das geldpolitische System in verschiedenen Epochen organisiert war und welche Politik die meisten Zentralbanken zur jeweiligen Zeit verfolgten.
Zur Zeit des Goldstandards vor dem Ersten Weltkrieg und im Bretton-Woods-System in den knapp drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war die nationale Geldpolitik in ein internationales Währungssystem eingebunden. Es galten fixe Wechselkurse: So breiteten sich Inflations- und Deflationsschübe, verursacht durch schwankende Goldpreise (Goldstandard) beziehungsweise durch die amerikanische Geldpolitik (Bretton Woods), über die ganze Welt aus.
Nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1973 stieg die Inflation zuerst stark an und stabilisierte sich ab den 1990er-Jahren auf tiefem Niveau. Dieser Rückgang lässt sich darauf zurückführen, dass die Zentralbanken ähnliche Lehren aus der grossen Inflation in den beiden vorherigen Jahrzehnten gezogen und sich vermehrt der Stabilisierung der Preise verschrieben haben.
Die Inflation ist also nicht bloss ein globales Phänomen, sondern sie hängt entscheidend von der nationalen Geldpolitik ab. Wir sehen dies etwa am Inflationsschub während des Amerikanischen Bürgerkriegs nach 1860 oder am Inflationsschub in Grossbritannien in den frühen 1970er-Jahren.
Wie stark sie dies tut, werden wir im Verlauf dieser Serie noch erforschen. Bevor wir dazu kommen, müssen wir allerdings noch eine wichtige Frage beantworten – vielleicht die wichtigste, wenn es um Geldpolitik geht.
Warum ist Inflation überhaupt schädlich?
Überraschende Anstiege oder Rückgänge des Preisniveaus sind schädlich, weil sie die Planung von wirtschaftlichen Aktivitäten erschweren.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Frau Zieher eröffnet eine Schraubenfabrik und nimmt dazu einen Kredit über 2 Millionen Franken auf. Sie möchte über die nächsten 10 Jahre Schrauben produzieren: eine Million Stück pro Jahr à 20 Rappen, das ergibt jährliche Einnahmen von 200’000 Franken.
Treffen Frau Ziehers Erwartungen tatsächlich ein und die Schrauben gehen à 20 Rappen pro Stück über den Ladentisch (Preisstabilität), so hat sie die 2 Millionen Franken nach 10 Jahren zusammen und kann den Kredit (ohne Zinsen) zurückzahlen.
Sinken aber wider Erwarten alle Preise um 10 Prozent (Deflation), entgehen ihr wichtige Einnahmen: Statt 2 Millionen hat sie am Ende nur 1,8 Millionen Franken in der Kasse. Sie kann den Kredit nicht zurückzahlen.
Steigen dagen alle Preise um 10 Prozent (Inflation), kann sie den Kredit zwar ohne Probleme zurückzahlen. Die Bank erhält jedoch tatsächlich (inflationsbereinigt) weniger zurück als gedacht und erleidet einen Verlust.
Planungsfehler aufgrund von überraschenden Preisveränderungen treten nicht nur bei Unternehmen wie jenem von Frau Zieher auf, sondern auch bei Konsumentscheidungen sowie bei der Steuer- und der Lohnpolitik. Stabile Inflationsraten tragen dazu bei, dass solche Fehler vermieden werden.
«Preisstabilität (…) ist eine wichtige Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft», steht deshalb auch in der Botschaft über die Revision des schweizerischen Nationalbankgesetzes, «weil die Preise in unserer marktwirtschaftlichen Ordnung Produktion und Verbrauch der einzelnen Güter steuern.»
Man kann also sagen: Preisstabilität ist essenziell für die Wirtschaft. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Preise von sämtlichen Gütern und Dienstleistungen jederzeit unverändert bleiben müssen. Wie soll man Preisstabilität also definieren? Woran soll man die Geldpolitik messen?
Paul Volcker und Alan Greenspan, zwei ehemalige Vorsitzende der US-Zentralbank, schlugen in den 1980er- und 1990er-Jahren eine informelle Definition vor. Preisstabilität wäre demnach schon dann erreicht, wenn unerwartete Änderungen im Preisniveau so unbedeutend sind, dass Wirtschaftsakteure diese ignorieren.
Das Problem an dieser informellen Definition ist: Ob wirklich Preisstabilität herrscht, ist kaum mess- und überprüfbar.
Greenspans Nachfolger Ben Bernanke argumentierte deshalb, dass man die Stabilität des monetären Umfelds mit makroökonomischen Indikatoren wie der Inflation oder dem (nominellen) Bruttoinlandprodukt messen sollte. Dies, um eine konkretere Diskussions- und Bewertungsgrundlage zu haben. Auf einer ähnlichen Idee fusst das geldpolitische Konzept der SNB.
Die SNB setzt Preisstabilität seit der Einführung ihrer neuen geldpolitischen Strategie um die Jahrtausendwende mit einem jährlichen Anstieg des Konsumentenpreisindex von 0 bis 2 Prozent gleich, wobei unvorhersehbare und vorübergehende Abweichungen davon in Kauf genommen werden.
Wie die meisten Zentralbanken peilt die SNB eine positive Inflationsrate an, da die offiziellen Preisstatistiken die Inflation leicht überschätzen.
Die explizite Definition von Preisstabilität lehnt sich an einer geldpolitischen Strategie namens Inflation Targeting an, die in den frühen 1990er-Jahren von vielen Zentralbanken eingeführt wurde. Will man die Inflation und ihr Verhalten seit der Finanzkrise verstehen, kommt man an diesem Begriff nicht vorbei – er erweist sich als zentrales Teil im heutigen geldpolitischen Puzzle.
Die Macht der Erwartungen
Inflation Targeting beruht auf einer Schlüsselidee: Wirtschaftsakteure sollen ihre persönlichen Inflationserwartungen dem offiziellen Zielwert anpassen.
Das Prinzip ist ähnlich wie bei einer Tempolimite im Strassenverkehr. Eine offizielle Geschwindigkeitsbeschränkung veranlasst die meisten Fahrer, sich ans Tempo zu halten – der Verkehr läuft flüssig. Die Tempolimite dient dabei als Anker für die gegenseitigen Erwartungen: Kann Autofahrerin A damit rechnen, dass Autofahrer B mit etwa 120 km/h fährt, so wird sie ebenfalls diese Geschwindigkeit anpeilen. Gestützt wird die Limite durch die Polizei: Wer zu schnell (oder auch: zu langsam) fährt, riskiert eine Busse.
Die latente Drohung einer Busse ist dabei zentral: Je höher sie ist, desto eher halten sich die Verkehrsteilnehmer an das vorgegebene Tempo, und desto weniger Kontrollen muss die Polizei durchführen.
Ähnlich ist es mit der Geldpolitik: Je mehr die Firmen, Konsumentinnen und Finanzmarktteilnehmer dem Inflationsziel vertrauen, desto einfacher wird es für die Zentralbank, das Ziel auch effektiv durchzusetzen. Das heisst: desto weniger stark muss sie beispielsweise die Leitzinsen verändern, um die Wirtschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken und dadurch die Inflation zu beeinflussen.
Wie mächtig Inflationserwartungen sein können, wurde in den letzten Jahren offenkundig – die Zeit nach der Finanzkrise von 2008 war gewissermassen der erste grosse Test, den die Strategie des Inflation Targeting ziemlich erfolgreich bestanden hat (zumindest, was die Preisstabilität betrifft – die Konjunkturstabilisierung ist ein anderes Thema, wir werden darauf im weiteren Verlauf der Serie noch zu sprechen kommen).
Man erkennt dies, wenn man sich Zahlen aus den USA ansieht, wo es die umfangreichsten Messwerte zu Inflationserwartungen gibt. Wie sich in der folgenden Grafik zeigt, waren diese Erwartungen seit der Jahrtausendwende ziemlich konstant (graue Kurven). Sie lagen bei etwa 2 Prozent und damit nahe am Wert, den die amerikanische Zentralbank heute anpeilt.
Inflationserwartungen lassen sich nicht direkt beobachten, sondern können nur anhand von Finanzmarktdaten geschätzt oder von Prognostikern und Konsumenten erfragt werden. In der Grafik sehen wir die mittlere 10-Jahres-Prognose von professionellen Prognostikern (dunkelgrau) in den USA sowie die Modellschätzung (hellgrau) der Federal Reserve Bank of Cleveland, die Informationen aus verschiedenen Quellen mit ökonomischer Theorie kombiniert. Die blaue Kurve zeigt die tatsächlich gemessene Inflation.
Trotz wirtschaftlichen Verwerfungen und Ausschlägen in der tatsächlichen Teuerungsrate haben sich die Inflationserwartungen in den Vereinigten Staaten seit der Krise also kaum verändert. Für die USA gilt damit, was sich bereits für die Schweiz konstatieren liess: Es gibt kaum Anzeichen, die auf eine massive Geldentwertung hindeuten würden.
Wir halten fest: Die Inflation ist während der letzten zwei Jahrzehnte bemerkenswert niedrig und stabil geblieben. In den USA lag sie im Mittel bei gut 2 Prozent, in der Schweiz sogar darunter. Die Strategien, welche die Zentralbanken in dieser Zeit angewandt haben – allen voran die Einführung von Inflationszielen –, dürften wesentlich dazu beigetragen haben.
Natürlich ist Vorsicht geboten. Wir wissen nicht mit hundertprozentiger Sicherheit, ob die Geldpolitik tatsächlich der Grund für die niedrige Teuerung war. Der Zusammenhang könnte auch umgekehrt laufen: Die Preise wären dann nicht wegen, sondern trotz der Geldpolitik stabil gewesen.
Manche Kommentatoren argumentieren so – und verweisen dabei auf Kräfte wie die Globalisierung, die auf der ganzen Welt für Preisdruck gesorgt hat, auf schwächere Gewerkschaften, die weniger Lohnerhöhungen durchsetzen konnten, und auf die Aufsehen erregenden Massnahmen der Zentralbanken seit der Krise wie Bilanzausweitungen und Negativzinsen (auf diese Massnahmen werden wir in den kommenden Beiträgen detailliert eingehen).
Steht uns die grosse Inflation also erst noch bevor? Schon möglich – die Zukunft lässt sich nicht immer aus der Vergangenheit vorhersagen, speziell nicht, wenn es um die Entwicklung ganzer Volkswirtschaften geht. Natürlich sind auch Fehler in der Geldpolitik nicht ausgeschlossen.
Nichtsdestotrotz haben Zentralbanken über die letzten Jahrzehnte hinweg bedeutende Fortschritte gemacht. Die Inflationserwartungen blieben nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen anderen Ländern auf einem tiefen Niveau. Es wäre überraschend, sollte sich dies in nächster Zeit ändern.
Daniel Kaufmann ist Assistenzprofessor für angewandte Makroökonomie an der Universität von Neuenburg und hält eine Forschungsprofessur an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Seine Forschung fokussiert auf Geldpolitik in offenen Volkswirtschaften und Inflationsmessung mit historischen Daten. In der Vergangenheit arbeitete er für die Schweizerische Nationalbank und unterrichtete an der Universität Bern und am Studienzentrum Gerzensee.
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