Fünf Lektionen aus der Türkei-Krise
Was wir von den Turbulenzen um Erdoğan, Trump und die türkische Lira lernen können.
Von Simon Schmid, 20.08.2018
Die heutige Kolumne ist analytisch und leicht kommentarig: viele Grafiken, auch viel Text, einiges an Wirtschaftsgeschichte und ein paar Behauptungen.
Sie dreht sich um die türkische Währungskrise von letzter Woche: Wie es zu ihr kam, was dahintersteckt und welche Einsichten sich in ihr bewahrheiten.
1. Märkte neigen (nicht) zur Übertreibung
Jede Panik legt sich irgendwann: Wer sich mit Börsen auskennt, weiss das eigentlich. Doch in der Hitze des Gefechts geht diese Erkenntnis oft vergessen.
In den Nachrichten von letzter Woche haben Sie womöglich eine Grafik wie diese hier gesehen. Mit dem Kurs der türkischen Währung, ausgedrückt in Lira pro US-Dollar, abgebildet über die letzten drei Monate, womöglich mit gekürzter Achse. Man sieht darauf eine Kurve, die zum Ende hin stark ansteigt.
Die Botschaft ist klar: Hier gerät etwas ausser Kontrolle.
Tatsächlich waren die Finanzmärkte, was die Türkei anbelangt, vergangene Woche ziemlich in Aufruhr. Etwa am 10. August, als Recep Tayyip Erdoğan vor die Medien trat und sagte: «Die USA haben ihren Dollar, wir haben Allah.»
Diese Worte kamen an der Börse natürlich gar nicht gut an – besonders aus dem Mund eines Präsidenten, dessen Land von einer akuten Kapitalflucht bedroht ist. Die türkische Lira verlor an jenem Tag so viel an Wert wie noch nie zuvor in der Geschichte: Für einen Dollar mussten 11 Prozent mehr Lira bezahlt werden als einen Tag zuvor (deshalb zeigt die Kurve auch nach oben).
Im weiteren Wochenverlauf verlor die türkische Lira weiter an Terrain. Am Freitag stabilisierte sich ihr Kurs dann, gut ein Drittel über dem Niveau vom Jahresbeginn. Was eine ziemliche Veränderung ist (zum Vergleich: Der Wert des Schweizer Frankens veränderte sich beim Frankenschock vor drei Jahren um halb so viel), aber nicht eine derart grosse, dass die Wirtschaft deswegen untergeht.
Die Türkei verschwand denn auch rasch wieder aus den Schlagzeilen.
Vermeintliches Fazit: Die Märkte übertreiben mal wieder, weil US-Präsident Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan das Pöbeln nicht lassen können.
Hier, zur Veranschaulichung, nochmals der Kurs der Lira: von Anfang Jahr bis zum 16. August, also bis zum vergangenen Donnerstag, abgebildet ohne gekürzte Achse.
Doch die ganze Story erzählt leider auch diese Grafik nicht. Doof sind die Teilnehmer am globalen Finanzmarkt nämlich nicht: Der Wertverlust der Lira über die letzten Wochen hat durchaus seine Gründe. Um sie zu verstehen, muss man in der Zeit allerdings etwas weiter zurückgehen.
Ungefähr fünfzehn, vielleicht sogar fünfundzwanzig Jahre.
Hier eine erste Grafik dazu. Sie zeigt den Lirakurs: in Dollar, seit 1994 und angepasst an die Währungsreform von 2005, als bei der türkischen Währung sechs Nullen gestrichen wurden. Für einen alten 1-Million-Lira-Schein erhielten die Türken damals im Umtausch eine neue 1-Lira-Note.
Man sieht auf der Abbildung zwei Dinge. Erstens: Wie mit der alten Lira am Ende der 1990er-Jahre bereits seltsame Dinge passierten – es gab eine schleichende und dann eine sprunghafte Entwertung (dazu später mehr).
Und zweitens: Wie die neue Lira eine Weile lang ziemlich stabil war – ehe ihr Kurs in den 2010er-Jahren langsam, aber sicher zu steigen begann.
Mit anderen Worten: Die Lira-Krise ist eigentlich keine Krise.
Sondern die vorläufige Kulmination einer Entwicklung, die bereits seit längerem in Gang ist. Und die, obendrein, eine gewisse Vorgeschichte hat.
2. Staatsschulden können in die Irre führen
In der Politik, wie auch in den Medien, ist es Tradition, Finanzkrisen pauschal mit Staatsschuldenkrisen gleichzusetzen. Bei der Eurokrise war dies etwa der Fall, obwohl Staatsschulden nur ein Aspekt davon waren.
Komplett daneben ist diese Notion in Bezug auf die Türkei. Wer in den letzten Jahren auf die Entwicklung der türkischen Staatsschulden blickte, wäre nie auf die Idee gekommen, dass es mit dem Land jemals Probleme geben könnte. Die staatlichen Schulden – hier abgebildet in Prozent des Bruttoinlandprodukts – sind seit den Nullerjahren im Abwärtstrend.
Die Türkische Zentralbank führt auf ihrer Website eine ziemlich ausführliche Statistiksektion. Die Wechselkursdaten zur Lira stammen von dort. Von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) stammen die Daten zur Verschuldung. Sie sind in der Datenbank «Credit to the non-financial sector» in einem grossen Excel-File zusammengefasst. Auch die Daten zum Bankensektor sind von der BIZ. Unter «Locational banking statistics» lässt sich zu jedem Land ein CSV-Datenset herunterladen, das die aggregierten Bilanzinformationen der dortigen Banken enthält. Die Auswertungsidee lieferte ein Bericht von «Oxford Economics».
Der Blick auf die Staatsschulden allein kann jedoch zu falschen Schlüssen verleiten. Mindestens so wichtig – im Kontext der Finanzstabilität – sind die Schulden, die private Akteure aufnehmen. Also Haushalte und Firmen.
Hier zeigt sich in der Türkei genau der gegenläufige Trend. Seit ungefähr 2003 nimmt die Verschuldung der privaten Akteure beständig zu. Speziell jene der Unternehmen: Innerhalb von zwölf Jahren stieg sie von unter 20 Prozent auf beinahe 70 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Zur Verschuldung – sei es privat oder staatlich – gibt es in der Ökonomie eine einfache Faustregel: Ein hoher Stand allein muss nicht zwingend Anlass zur Sorge sein. Ein rapider Anstieg schon. Besonders in Schwellenländern.
Und ganz besonders, wenn Fremdwährungen dabei eine grosse Rolle spielen.
3. Im Bankensystem liegt der Schlüssel
Die Wachstumsstory der Türkei unter der regierenden AKP-Partei ist eine typische Schwellenländergeschichte: Ausführlich analysiert sie etwa der Ökonom Erinç Yeldan in einem Papier, das er 2015 schrieb – ein Jahr vor dem Putschversuch und drei Jahre vor der jüngsten Wahl, die Erdoğan unter anderem für sich entschied, indem er zahlreiche Bauprojekte vorantrieb.
Nachdem sich die Türkei in den Nullerjahren von einer früheren Krise erholt hatte (mehr dazu gleich), galt sie zunehmend als lukrative Anlagedestination. Internationale Investoren parkierten ihre Dollars und Euros immer öfter bei türkischen Finanzinstituten.
Gelder über umgerechnet rund 140 Milliarden Dollar strömten in den letzten zehn Jahren auf diesem Weg in die Türkei. Man erkennt dies, indem man in die Bilanzen der türkischen Banken blickt: insbesondere auf die grenzüberschreitenden Guthaben und Schulden, welche die dortigen Finanzhäuser gegenüber ausländischen Finanzinstituten aufweisen.
Die Gegenüberstellung dieser Guthaben und Schulden ist auf der folgenden Grafik abgebildet. Man erkennt darauf, wie die Auslandsverbindlichkeiten der türkischen Banken speziell ab 2009 in die Höhe schiessen – während die Auslandsguthaben, die zuvor gleich hoch waren, etwa konstant bleiben. Die Differenz zwischen beiden Seiten (die angesprochenen 140 Milliarden Dollar) entspricht heute rund 15 Prozent des BIP.
Eine sehr ähnliche Grafik erhält man, wenn man die Fremdwährungsanlagen der türkischen Banken insgesamt darstellt – und zwar aufgeschlüsselt nach inländischen und ausländischen Destinationen.
Dollars (und Euros), die internationale Akteure den türkischen Banken schulden, gibt es sehr wenige: insgesamt nur gut 30 Milliarden.
Dollars (und Euros), die türkische Akteure den türkischen Banken schulden, dagegen ziemlich viele: fast 260 Milliarden.
Türkische Unternehmen nahmen über die letzten zehn Jahre bei ihren lokalen Banken also enorme Summen an Dollar- und Eurokrediten auf. So kamen sie auf Pump in den Besitz jener Devisen, die sich die türkischen Banken zuvor selbst auf dem internationalen Markt ausgeliehen hatten.
Kredite in Fremdwährungen sind – das wissen einige Hausbesitzer in Polen nur zu gut – im Vergleich zu Krediten in heimischer Währung billig. Doch sie sind auch gefährlich: Wenn die eigene Währung an Wert verliert, steigen die Zinskosten. Und die Refinanzierung der Kredite wird zur Gratwanderung.
Speziell dann, wenn internationale Investoren realisieren, dass eine Volkswirtschaft im Vergleich zu ihren Exporten eigentlich viel zu viele Schulden im Fremdwährungen aufgenommen hat. Und weitere Schulden aufnehmen muss nur schon dazu, die Zinsen auf den bisherigen zu bezahlen.
4. Expansive Geldpolitik hat ihre Schattenseiten
Seit der Finanzkrise wurde viel über die Geldpolitik diskutiert. Im Zentrum standen dabei oft die grossen Volkswirtschaften: Fliegt das US-Finanzsystem in die Luft, wenn die Federal Reserve weiterhin Dollars druckt? Entsteht Hyperinflation, wenn die Europäische Zentralbank am Finanzmarkt riesige Mengen an Wertpapieren aufkauft? Geht Japan bankrott, wenn alle Staatsanleihen irgendwann in den Büchern der Notenbank landen?
Die Schwellenländer wurden bei aller Sorge um den Dollar, den Euro oder den Yen vielfach links liegen lassen. Dabei zeigen sich hier, zehn Jahre nach der Krise, wohl die gravierendsten Nebenwirkungen der expansiven Geldpolitik, welche die Zentralbanken der Industrieländer verfolgt haben.
Diese Politik bestand darin, rund 15 Billionen Dollar über Wertpapierkäufe in den Markt zu pumpen. Mit dem Resultat, dass die Renditen auf ein so tiefes Niveau fielen wie noch nie: Eidgenössische Anleihen werfen derzeit 0 Prozent ab, vor zehn Jahren waren es immerhin noch 3 Prozent.
Als Ausweg aus dem Tiefzinsumfeld (das auch andere Gründe hat als die Geldpolitik: Mehr dazu schreiben wir in diesem Blog in einigen Wochen) gingen Anleger vermehrt in Schwellenländer.
Länder wie Brasilien oder Indien waren seit der Finanzkrise deswegen mit hohen Finanzzuflüssen konfrontiert. Die destabilisierenden Folgen dieser Zuflüsse hat der ehemalige indische Notenbankgouverneur Raghuram Rajan beschrieben: Sie erzeugen Aufwertungsdruck auf die Währung, schwächen den Exportsektor, begünstigen nicht nachhaltige Investitionsvorhaben und führen dazu, dass – wenn sich der Trend umkehrt und die Gelder wieder abfliessen – die Volkswirtschaften dieser Länder plötzlich im Schilf stehen.
So ähnlich, wie die Türkei aktuell im Schilf steht. Weil die dortige Politik über all die Jahre wenig unternahm, um die Geldzuflüsse einzudämmen. Stattdessen machte sie sie zum Motor ihres Wirtschaftswachstums.
5. Populismus führt in die Sackgasse
Eine klare Sache, eigentlich. Und, wenn man es sich genau überlegt, so etwas wie sein kennzeichnendes Merkmal (hier wird es wie gesagt kommentarig).
Ich habe immer mal wieder darüber nachgedacht, wie man den Populismus eigentlich definieren soll – und kam dabei nicht wirklich zu einer Lösung.
Inzwischen würde ich etwas wie die folgende Definition vorschlagen: «Populismus ist eine Strategie, die auf Selbstdarstellung und kurzfristigen Machtgewinn abzielt, ohne politisch und wirtschaftlich nachhaltig zu sein.»
Das gute an dieser Definition ist: Man kann sie auf den Links- wie auf den Rechtspopulismus anwenden, und sie ist für praktische Belange einigermassen operationalisierbar. Geschenke an bestimmte Wählergruppen fallen ebenso darunter wie Polemik gegenüber sozialen Minderheiten.
Natürlich gibt es Experten, die Populismus auch ganz anders definieren.
Doch zurück zu Erdoğan, der – das haben viele bereits vergessen – einst als relativ orthodoxer Wirtschaftspolitiker anfing, später immer mehr auf populistische Strategien zurückgriff und schliesslich zum Autokraten wurde.
Wie wird sich die Türkei unter ihm wirtschaftlich weiterentwickeln?
Die Zeichen stehen nicht besonders gut für das Land am Bosporus:
Grosse Infrastrukturprojekte zu finanzieren (über den Staat oder über eine Politik tiefer Zinsen, die private Investitionen fördern soll), wird in Zeiten versiegender Kapitalflüsse irgendwann nicht mehr möglich sein. Es sei denn, die türkische Regierung und die Notenbank nehmen eine noch schwächere Währung und noch höhere Inflationsraten (aktuell: 16 Prozent) in Kauf.
Das Land wird die Exporte steigern und vor allem die Importe drosseln müssen. Die Türkei verbucht seit geraumer Zeit ein Leistungsbilanzdefizit in der Gegend von 4 bis 5 Prozent des BIP: Wenn man nicht gerade die USA ist und die Welt-Reservewährung stellt, ist ein solches Ungleichgewicht auf die Dauer nicht zu halten. (Das Ausland ist bereits jetzt nicht mehr bereit, der Türkei immer weiter Kredite zu geben, um deren Importe zu finanzieren.)
Unternehmenspleiten dürften sich häufen. Die schwache Lira wird es Schuldnern erschweren, ihre Kredite in Fremdwährungen zu bedienen. Die höheren Lasten sind ein volkswirtschaftliches Problem, selbst wenn die Firmen deswegen nicht bankrott gehen und wenn die Banken deswegen nicht in die Tiefe gerissen werden: Es werden auf jeden Fall weniger freie Mittel für Investitionen zur Verfügung stehen.
Um die Inflation in den Griff und die Lira wieder auf Kurs zu bekommen, brauchte es klare Signale von der Zentralbank: ein Bekenntnis zu höheren Zinsen. Damit verbunden wäre allerdings eine Bremswirkung in der Binnenwirtschaft. Und vermutlich auch eine höhere Arbeitslosigkeit.
Kurz: Es gibt in der aktuellen Situation kein wirklich angenehmes Szenario für die türkische Wirtschaft. Doch je länger Erdoğan an der aktuellen Politik festhält (Wachstum um jeden Preis), desto härter wird am Ende die Landung.
Diese Aussichten sind einigermassen unangenehm.
Besonders für einen Staatsführer, der selbst an die Macht kam, weil seine Vorgänger wirtschaftlich versagten. Ende der 1990er-Jahre manövrierte sich die Türkei letztmals in die Bredouille: Damals waren hohe Staatsdefizite das Problem, die von der Notenpresse finanziert wurden. Die Inflation betrug über 50 Prozent, die Währung sackte ab, es kam zu Bankenpleiten – und die Türkei musste den Internationalen Währungsfonds zu Hilfe holen. Er schrieb dem Land eine restriktive Zins- und Budgetpolitik sowie Privatisierungen vor.
Die kollektive Schmach ebnete das Terrain für den Aufstieg Erdoğans – eines Gegners der damaligen Regierung, der kurze Zeit sogar im Gefängnis sass.
Der Moment, in dem Erdoğan vom gemässigten Volkstribun, der brav den IWF-Rezepten folgte und dessen Programm 2008 zu einem erfolgreichen Abschluss brachte, zum Populisten wurde, der seine Wiederwahl mit allen wirtschaftspolitischen Mitteln zu sichern suchte, ist schwer zu bestimmen.
Womöglich spielte im Nachhinein betrachtet die Finanzkrise eine Rolle, in der auch die Türkei einen Wirtschaftseinbruch hinnehmen musste.
Womöglich ist das aber auch gar nicht so wichtig. Entscheidend ist vielmehr, was die türkische Regierung jetzt tut. Springt Erdoğan über seinen Schatten und korrigiert seine Wirtschaftspolitik, wird die Wirtschaft zugunsten eines langsameren Wachstums gebremst – und er selbst wohl bald abgewählt. Es wäre die unpopulistische, aber nachhaltige Variante. Der verhasste IWF muss bei einer solchen Politikänderung nicht einmal eine Rolle spielen.
Tut er das nicht, bauen sich die Ungleichgewichte weiter auf. Bis die heftige Korrektur dann doch kommt, und Repression als einziger Ausweg bleibt. Und die Türkei dort landet, wo Venezuela bereits ist – einfach ohne Erdöl.
Was verändert sich auf lange Sicht?
Haben Sie Anregungen zu unseren Datenbeiträgen? Wünschen Sie sich bestimmte Themen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».