Wie problematisch ist die Bilanz der SNB?
Wie Zentralbanken den Kontakt unter den Rädern verloren haben: Teil 3 unserer grossen Serie über die Geldpolitik.
Von Daniel Kaufmann (Analyse) und Simon Schmid (Bearbeitung), 24.09.2018
Die Bilanz der Schweizerischen Nationalbank (SNB) ist inzwischen etwa ein Viertel grösser als die jährliche Wirtschaftsleistung der Schweiz – vor zehn Jahren war sie noch ein Fünftel so gross. Heute begeben wir uns auf eine monetaristische Reise, um herauszufinden, was es damit auf sich hat.
Was sind die Ursachen, was die Folgen? Soll die SNB ihre Bilanz rasch wieder auf die Grösse zurückführen, die sie vor der Krise hatte?
Die verlorene Traktion der Geldpolitik
Der wichtigste Grund, warum die Bilanz der SNB seit der Krise gewachsen ist, waren Interventionen am Devisenmarkt: Die Nationalbank hat Wertschriften in Euro, Dollar und anderen Fremdwährungen gekauft, die aktuell mit einem Gegenwert von rund 750 Milliarden Franken in ihren Büchern stehen.
Man kann diesen Vorgang auf zwei Arten beschreiben:
Als Bilanzausweitung. Die Nationalbank hat für ihre Fremdwährungskäufe neue Franken geschaffen, diese Franken stehen nun auf der Passivseite ihrer Bilanz (die Wertschriften in Fremdwährung stehen auf der Aktivseite: Wie das mit den Zentralbankbilanzen genau funktioniert, können Sie hier nachlesen).
Als Erhöhung der Geldmenge. Die Nationalbank hat über ihre Devisenkäufe neue Franken ins Finanzsystem eingespeist und damit die Menge an sogenanntem Notenbankgeld erhöht (was das ist, dazu kommen wir gleich).
Erhöht eine Zentralbank die Geldmenge, so setzen Kommentatoren dies oft damit gleich, dass nun eine expansive Geldpolitik betrieben werde: Die Zentralbank habe «die Notenpresse angeworfen», sagen sie in solchen Fällen üblicherweise, und sie würde nun «Geld in die Wirtschaft pumpen».
Diese Metaphern sind im Grundsatz schon richtig. Doch man muss – und dies wollen wir in diesem Artikel zeigen – mit der Interpretation von Zentralbankbilanzen aufpassen, speziell im Nachgang einer Finanzkrise.
Zentralbankbilanzen und Notenbankgeldmengen weisen im historischen Verlauf grosse Schwankungen auf. In Krisenzeiten schnellen sie oft in die Höhe – ihr Abbau dauert Jahrzehnte. Man kann aus diesen Bilanzen allein nicht den Expansionsgrad der Geldpolitik ablesen.
Der Grund dafür ist, dass es der Geldpolitik manchmal an Traktion fehlt, also an Zugkraft gegenüber der Wirtschaft. Stellen Sie sich dazu Folgendes vor:
Sie versuchen, mit Sommerpneus eine schneebedeckte Strasse hochzufahren. Da Ihre Räder keinen guten «Grip» aufweisen, können Sie noch so fest aufs Gaspedal treten: Sie kommen nicht vorwärts.
Wenn Sie jedoch Winterpneus montieren oder wenn es eben keinen Schnee hat, haben Sie eine gute Traktion. Sie können so die Leistung des Motors tatsächlich auf die Strasse bringen und kommen rasch voran.
In der Geldpolitik ist es ähnlich wie beim Autofahren: Die Zentralbank kann die Geldmenge stark ausweiten. Fehlt es in einer Wirtschaftskrise jedoch an geldpolitischem Grip, wird dies weder zu höherer Wirtschaftsaktivität noch zu steigenden Preisen führen.
Wie sich die Traktion der Geldpolitik über die Zeit verändert hat, haben Milton Friedman und Anna Schwartz in ihrer klassischen Geschichte der amerikanischen Geldpolitik dokumentiert. Die beiden Ökonomen zeigen darin, dass die meisten Rezessionen des späten 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit einer geringeren Traktion der Geldpolitik einhergingen.
Besonders gross war der Traktionsverlust jeweils während schwerer Finanzkrisen und danach. Die US-Zentralbank musste in diesen Phasen jeweils die zurückgehende Geldschöpfung im privaten Bankensektor ausgleichen, weil Geschäftsbanken nicht mehr in der Lage oder Willens waren, genügend Geld für die Wirtschaft zu schöpfen. Tat die Zentralbank dies nicht, wie etwa während der Grossen Depression der 1930er-Jahre, war ein starker Rückgang der Wirtschaftsleistung das Resultat.
Die Idee vom Traktionsverlust ist auch für das Verständnis der schweizerischen Geldpolitik wichtig. Eine Masszahl, mit der sich dies illustrieren lässt, ist die sogenannte Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Dabei handelt es sich um das Verhältnis zwischen der Wirtschaftsleistung und der Geldmenge: Je höher dieses Verhältnis ist, desto grösser ist die Traktion der Geldpolitik.
Wenn die Umlaufsgeschwindigkeit 10 beträgt, geht ein Anstieg der Geldmenge um 1 Franken mit einer Ausweitung der Wirtschaftsleistung um 10 Franken einher (gemessen am nominellen BIP). Je kleiner die Umlaufgeschwindigkeit, desto schwächer der Zusammenhang zwischen Geldmenge und Wirtschaftsleistung.
Wir beobachten zwei grössere Rückgänge: den ersten während der Grossen Depression, den zweiten im Nachgang der Finanzkrise von 2008. Die Grafik bestätigt also, dass in schweren Wirtschaftskrisen die Traktion der Geldpolitik zurückgeht, sodass eine gegebene Ausweitung der Geldmenge mit einer kleineren Ausweitung der Wirtschaftsleistung einhergeht.
Die Traktion der Geldpolitik ist, wie beim Auto, nicht immer dieselbe. Beim Auto kommt es auf die Temperatur, den Untergrund, die verwendeten Pneus an – in der Geldpolitik auf den Zustand des Bankensektors, die Konjunktur, das Zinsniveau, die geldpolitische Strategie.
Wir haben vor einer Woche beschrieben, wie die Zinsen über die letzten Jahrzehnte gefallen sind. Dieser Zinsrückgang ist ein wesentlicher Grund für die fehlende Traktion der Geldpolitik. Die Geschäftsbanken horten das meiste von der Nationalbank geschaffene Geld, weil in ihrer Kreditvergabe und ihrem Anlagegeschäft attraktive Geschäftsmöglichkeiten fehlen.
Wenn die Traktion der Geldpolitik so niedrig ist: Warum hat die SNB, im Einklang mit anderen Zentralbanken, ihre Bilanz dennoch so stark ausgeweitet? Hat sie etwa Geld gedruckt, obwohl dies gar nichts bringt?
Wie verschiedene Länder durch die Krise kamen
Die Antwort auf die letzte Frage lautet Nein. Oder, um bei der Analogie mit dem Auto zu bleiben: Die geldpolitischen Räder der Schweiz sind seit der Krise zwar eine Weile lang durchgespult. Doch damit hat die SNB immerhin verhindert, dass die Wirtschaft rückwärts den Berg hinabgerutscht ist.
Was wir uns also eigentlich fragen müssen: Was wäre geschehen, hätte die Nationalbank die Geldmenge und ihre Bilanz nicht so stark ausgeweitet? Solche Was-wäre-wenn-Aussagen sind es, was die Makroökonomie interessant und zugleich schwierig macht. Wir versuchen hier trotzdem, die Frage anhand eines Ländervergleichs seit der Finanzkrise zu beantworten.
Zunächst: mit einer Grafik des realen Bruttoinlandprodukts, indexiert auf den Wert von 100 für das vierte Quartal 2007, also vor dem Ausbruch des Sturms. Man sieht darauf unter anderem, wie die Schweiz (rote Kurve) vor allem in der ersten Phase ausserordentlich gut durch die Krise gekommen ist. Lange hielt sie sich an der Spitze einer Gruppe von Vergleichsländern wie den USA, Schweden oder der gesamten Eurozone.
Das schweizerische BIP ist nach der Krise weniger stark gefallen wie jenes anderer Länder, und es stieg rasch wieder auf das Vorkrisenniveau.
Parallel dazu zeigt sich, dass die Geldmenge in der Schweiz deutlich stärker angestiegen ist als in anderen Ländern – insbesondere in den ersten Jahren der Krise.
Dies illustriert die folgende Grafik: Sie zeigt den Stand der Geldmenge M1 in denselben Ländern, ebenfalls indexiert auf das vierte Quartal 2007. M1 ist die Geldmenge, die zusätzlich zum oben erwähnten Notenbankgeld (M0) auch die Depositen beinhaltet, die im privaten Bankensektor geschaffen werden – also das Geld, das inländische Kunden auf ihrem Bankkonto halten.
Die Schweiz verzeichnete nach 2007 ein hohes Geldmengenwachstum. Den Grund dafür haben wir eingangs des Textes bereits erwähnt: Es waren die Devisenmarktinterventionen der SNB sowie deren Massnahmen während der Krise, als sie den Banken zusätzliche Liquidität bereitstellte.
Die Geldpolitik scheint also, in Kombination mit der Aktivität im privaten Bankensektor, seit der Krise durchaus einen Einfluss auf die Konjunktur gehabt zu haben. Dies zeigt sich auch am Beispiel anderer Länder.
An den USA und der Eurozone: 2011 begann die Europäische Zentralbank, die Zinsen zu erhöhen, worauf die Geldmenge in der Eurozone nicht weiter wuchs. Währenddessen behielt die US-Zentralbank die Zinsen tief und führte drei Runden eines Anleihenkaufprogramms durch, das die Geldmenge stark ausweitete (quantitative easing). Parallel dazu, und mit dem Beginn der Banken- und Schuldenkrise im Euroraum, begannen das BIP der USA und jenes der Eurozone ab 2011 auseinanderzudriften.
An Schweden und Dänemark: Die Dänische Zentralbank verfolgt das Ziel eines fixen Wechselkurses zum Euro. Damit hat Dänemark praktisch dieselbe Geldpolitik wie die Eurozone, aber ohne ein Teil davon zu sein. Im Rückblick zeigt sich, dass sich das dänische BIP seit der Krise ziemlich schwach entwickelt hat – deutlich schwächer als jenes von Schweden, einem Land mit einer eigenständigen Geldpolitik. Dies spricht dafür, dass die Geldpolitik der EZB auch für strukturell starke Länder wie Dänemark zu restriktiv war.
An der Tschechischen Republik: Bis 2013 lief die dortige Wirtschaft relativ schlecht. Die Tschechische Zentralbank musste die Zinsen bis auf null senken, danach kündigte sie – ähnlich wie die SNB – ein Wechselkursziel zum Euro an und verteidigte dieses mit Interventionen auf dem Devisenmarkt. Diese Politik führte zu einem stärkeren Anstieg der Geldmenge. Ab 2014 erholte sich die Wirtschaft, später zog Tschechien in der indexierten BIP-Statistik sogar an der Schweiz vorbei.
Die Beispiele deuten alle darauf hin, dass die Geldpolitik in den letzten zehn Jahren durchaus eine wichtige Rolle für die Konjunktur gespielt hat. Hätte die SNB in der Krise das geldpolitische Gaspedal nicht durchgedrückt, so hätte sich die hiesige Wirtschaft mit einiger Sicherheit schlechter entwickelt.
Dass die Interventionen der Nationalbank genützt haben, bestätigt auch eine Schätzung des Internationalen Währungsfonds. Sie besagt, dass der Eurokurs ohne Interventionen der SNB permanent auf 80 Rappen gefallen wäre statt auf 1.15 Schweizer Franken.
Die dafür notwendige Bilanzausweitung war im internationalen Vergleich sehr gross. Der Grund ist, dass die Nationalbank in der Krise besonders viel Grip verloren hat. Dies lässt sich anhand einer weiteren Grafik illustrieren: an der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Wir haben sie hier für dieselben sechs Länder dargestellt und wie zuvor auf das vierte Quartal 2007 indexiert.
Man sieht einerseits, dass die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in der Schweiz besonders stark zurückging, speziell zu Beginn der Krise. Das hängt mit dem Zinsniveau zusammen, das in der Schweiz ausserordentlich tief ist: Seinetwegen hat die Nationalbank in ihrer Geldpolitik besonders viel Traktion verloren.
Man sieht andererseits auch, wie die Umlaufgeschwindigkeit etwa in Dänemark kaum einbrach – was dem Land allerdings wenig half, da die dortige Zentralbank die Geldmenge nicht besonders stark ausweitete.
Geldmenge, BIP und Umlaufgeschwindigkeit hängen natürlich voneinander ab (der Rückgang der Umlaufsgeschwindigkeit ist zum Teil auf die Ausweitung der Geldmenge und die dadurch sinkenden Zinsen zurückzuführen). Man darf also nicht den Fehler machen, aus diesen Grafiken allzu weitreichende Erkenntnisse über die Wirkung von bestimmten geldpolitischen Massnahmen abzuleiten.
Doch die Grafiken zeigen eines sehr deutlich: Man kann den Expansionsgrad der Geldpolitik nicht beurteilen, wenn man die Traktion nicht kennt. Es ist wie beim Auto: Gaspedal und Traktion sind wichtig fürs Vorwärtskommen.
Risiken, Nebenwirkungen und Ausblick
Der Traktionsverlust der Geldpolitik ist ein Phänomen, das über das letzte Jahrzehnt hinweg alle Zentralbanken vor Schwierigkeiten gestellt hat. Ihre gewachsenen Bilanzen sind letztlich ein Symptom dieser Schwierigkeiten.
So sehen dies jedenfalls die meisten Zentralbankenchefs selbst. Und so sehen es auch die Ökonomen Leonardo Gambacorta, Boris Hofmann und Gert Peersman in einem Forschungspapier, das sie 2014 veröffentlich haben. Es besagt, dass der Grossteil der Bilanzausweitungen durch die Zentralbanken eine Reaktion auf die historisch schwere Wirtschaftskrise waren – und sich nicht als überraschend expansive Politik deuten lassen.
Trotzdem fragen sich manche Beobachter, wie schnell die Bilanz der SNB nun zurückgefahren wird, da die Wirtschaft wieder besser läuft. Andere, darunter der Finanzminister der Schweiz, sagen sogar, die Bilanz hätte die Grenze des Erträglichen erreicht. Einige fürchten sich vor Inflation, andere zweifeln die Handlungsfähigkeit der SNB in der nächsten Krise an.
Ist die gewachsene Bilanz der SNB also doch nicht so unproblematisch?
Schauen wir uns dazu die Risiken und Nebenwirkungen einer ausgeweiteten Nationalbankbilanz genauer an:
Zu den Nebenwirkungen gehören einerseits Diskussionen: über die Zusammensetzung des von ihr verwalteten Wertschriftenportfolios sowie über die Gründung eines Staatsfonds. Diese Diskussionen erzeugen politischen Lärm, sie sind aus geldpolitischer Sicht allerdings nicht unmittelbar relevant. Das Hauptproblem an einem Staatsfonds wäre: Würde die SNB die Geldmenge reduzieren wollen, nachdem ihre Wertschriften bereits ausgelagert sind, könnte dies zu Verlusten führen. Die Nationalbank müsste Schuldscheine ausgeben, während der Staatsfonds die Gewinne einfährt.
Zu den Nebenwirkungen gehört auch, dass die Gewinne und Verluste der Nationalbank aus ihren Währungsreserven höher und volatiler ausfallen. Hierbei handelt es sich streng genommen auch nicht um ein geldpolitisches Kernproblem, sondern um eine Frage des Managements: Es braucht ein Arrangement, das die ausgeschütteten Gewinne über die Zeit glättet.
Zu den Risiken zählt vor allem ein Faktor: die Angst der Nationalbank, die Bilanz könnte nach irgendeinem Kriterium als zu gross angesehen werden, um eine geldpolitisch notwendige Ausweitung vorzunehmen. Dieses Problem ist vor allen eines der politischen Einflussnahme. Es gibt aus ökonomischer Sicht keine zwingenden Gründe, welche die SNB daran hindern, ihre Bilanz in einer künftigen Krisensituation weiter auszudehnen.
Man muss also unterscheiden: Für die Geldpolitik im engeren Sinn ist die gewachsene SNB-Bilanz kein Problem. Bezieht man aber das politische Umfeld mit ein, das die Geldpolitik umgibt, ist die Sache nicht eindeutig.
Was tun, angesichts dieser zweideutigen Ausgangslage?
Eine generelle Regel in der Geldpolitik lautet: Zentralbanken sollten versuchen, ihre Ziele möglichst effizient zu erreichen – also unter dem Einsatz von so wenig Mitteln wie möglich. Wer deswegen fordert, die Bilanz der Nationalbank müsste jetzt schrumpfen, macht es sich aber zu einfach.
Beim aktuellen Tiefzinsniveau herrscht in der Geldpolitik noch immer Winter: Einfach den Fuss vom Gas zu nehmen und das Auto den Hang hinunterrutschen zu lassen, wäre keine besonders schlaue Strategie.
Besser wäre, statt den Sommer- erst einmal Winterpneus zu montieren. Sprich, darüber zu diskutieren, ob es alternative geldpolitische Strategien gäbe, mit denen man dieselben Ziele unter kleinerem Mitteleinsatz erreichen könnte.
Dies wäre für die Schweiz besonders wichtig, weil die hiesige Geldpolitik seit geraumer Zeit eine sehr schlechte Traktion aufweist. Wir werden in den nächsten Wochen sehen, dass es im Prinzip möglich wäre, dies zu ändern.
Doch die Umsetzung in der Realität wird schwieriger als in der Theorie.
Daniel Kaufmann ist Assistenzprofessor für angewandte Makroökonomie an der Universität von Neuchâtel und hält eine Forschungsprofessur an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Seine Forschung fokussiert auf Geldpolitik in offenen Volkswirtschaften und Inflationsmessung mit historischen Daten. In der Vergangenheit arbeitete er für die Schweizerische Nationalbank und unterrichtete an der Universität Bern und am Studienzentrum Gerzensee.
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