Ich fordere die Rückkehr der Justitia
Wann mischt sich die Göttin der Gerechtigkeit endlich wieder ein im Justizalltag, mit ihrer Kraft, ihrer Entschlossenheit? Serie zum feministischen Streik, Folge 2.
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Johanna Hullár (Bild), 13.06.2023
Es ist Zeit, dass sie zurückkommt, und sei es nur vorübergehend, für einen kurzen Abstecher in die Schweiz, das sollte weiss Gott keine Hexerei sein. Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit, von den alten Griechinnen als kämpferische Dike verehrt, wird dringend gebraucht.
Sie soll bitte heruntersteigen von ihrem Sockel oder Olymp oder wo sie grad zu thronen pflegt. Ab dreissig Franken ist eine Statuette im Onlinehandel erhältlich, ihre Darstellung fehlt in keinem Gerichtsgebäude, keinem Rechtslehrbuch, und manch eine Anwaltskanzlei nutzt sie frech als Werbesujet.
Aber einmal abgesehen von derlei Klamauk: Wo bleibt im Justizalltag die Entschlossenheit, die Kraft und das Durchsetzungsvermögen der Göttin der Gerechtigkeit?
Töchter, Enkelinnen, Schwestern und Cousinen der Justitia, die ihr euch auf Erden der Rechtsfindung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung verpflichtet habt: Reisst euch am Riemen.
Seid mutig.
Nehmt eure Verantwortung wahr.
Seid laut, kreativ, aufmüpfig, unbequem.
Nutzt eure Macht.
Denkt daran, was ihr alles verändern könnt. Vergesst nie, dass die Grundrechte hart erkämpfte und stets gefährdete Errungenschaften sind, die es zu schützen gilt – oder auszuweiten, für die neuen Herausforderungen der heutigen Zeit.
Serie zum feministischen Streik
Es ist wichtig, Probleme zu benennen. Noch besser ist es, Lösungen zu präsentieren. In der Woche des feministischen Streiks stellen sechs Republik-Autorinnen konkrete Forderungen. Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 2
Ich fordere die Rückkehr der Justitia
Folge 3
Ich fordere eine feministische Internationale
Folge 4
Ich fordere, dass wir Care-Arbeit als Arbeit benennen
Folge 5
Ich fordere die Entzauberung der Kleinfamilie
Folge 6
Ich fordere, Werk und Künstler zusammenzudenken
Debatte
Was fordern Sie?
Richterinnen, Anwältinnen und Staatsanwältinnen, vergesst Konformität, wagt die Veränderung, macht den ersten Schritt, denkt gross, denkt ans Ganze (und nicht nur an den nächsten Karriereschritt).
Auch die kleine, reiche, demokratische Schweiz ist auf unerschrockene, versierte und wachsame Juristinnen mit Rückgrat angewiesen. Auf Rechtsanwenderinnen, die nicht einfach Dossierberge abarbeiten, Fälle am Laufband erledigen, Althergebrachtes wiedergeben.
Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, trägt eine Augenbinde, weil sie unvoreingenommen, unabhängig und unparteiisch ist. Sie hält in der einen Hand die Waage, um die Argumente sorgfältig abzuwägen, und in der anderen das Schwert, um das Recht durchzusetzen.
Wie weit haben wir uns von solchen Attributen entfernt?
Unsäglich das Trauerspiel, als der ersten Juristin der Schweiz, Emilie Kempin-Spyri, 1887 vom Bundesgericht die Anwaltstätigkeit verwehrt wird, weil ihr das Aktivbürgerrecht fehlt; also das Recht, politische Ämter auszuüben, stimmen und wählen zu gehen. Privatdozentin an der Universität Zürich darf die promovierte Rechtsgelehrte auch nicht werden – denn sie ist eine Frau.
Unsäglich, wie lange es dauert, bis hierzulande die Ausgrenzung, Abwertung und Diskriminierung der Frauen ein Ende nimmt. 1971 wird das Frauenstimmrecht auf Bundesebene eingeführt und erst 1990 der Kanton Appenzell-Innerrhoden vom Bundesgericht gezwungen, die Gleichstellung auch für kantonale Wahlen und Abstimmungen umzusetzen. Murrend und knurrend beugen sich die Appenzeller Männer dem höchstrichterlichen Verdikt aus Lausanne.
Sind das bloss alte Zöpfe, bad old times?
Alles paletti heute?
Oder aber …
Wie sieht es mit den Rechten der Migrantinnen aus? Verdienen Frauen und Männer gleich viel in der Schweiz? Wird Care-Arbeit bezahlt? Und was hat das Schweizer Richterwahlsystem mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu tun? Dieses Gentleman’s Agreement, das von den Richterinnen verlangt, einer Partei beizutreten und jährlich Parteisteuern abzuliefern?
Oder der juristische Umgang mit der drängendsten, alles umfassenden Krise überhaupt: dem Klimawandel.
Unzweifelhaft, dass es hier dringender denn je unerschrockene Justitia-Töchter braucht. Sei es als Richterinnen, die das Phänomen a) verstehen und b) ihre Schlüsse draus ziehen, die entscheiden und nicht bloss abwimmeln, sich nicht in Floskeln und Ausreden verlieren. Oder sei es als Anwältinnen, die stur bleiben und nicht aufgeben.
Wie Cordelia Bähr, die Ende März dieses Jahres im Namen der Klimaseniorinnen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zieht, um die Schweiz zu zwingen, ihre Schutzpflichten endlich wahrzunehmen – die Menschen, vor allem die Vulnerablen, vor den Auswirkungen der Klimakrise zu bewahren. Soweit das noch möglich ist.
Seit acht Jahren arbeitet die Zürcher Rechtsanwältin an diesem Fall. Sie hat von den innerstaatlichen Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen eine Ohrfeige nach der anderen kassiert, sich einiges an Hohn, Spott und Unverständnis anhören müssen.
Was sie nicht daran hindert, weiterzumachen: im Namen von über zweitausend Seniorinnen aus der Schweiz. Und mit Unterstützung von Berufskolleginnen aus dem In- und Ausland.
Darunter die deutsche Klimaanwältin Roda Verheyen, die Staaten und Unternehmen vor Gericht zieht, deren Verantwortung für die Einhaltung von Umwelt- und Menschenrechten betont – und auch die Gerichte in die Pflicht nimmt: «Klimaschutz ist auf jeden Fall eine Aufgabe der Justiz. Das Problem ist riesengross, da kann es doch nicht sein, dass sich eine Staatsgewalt raushält.»
Wenn wir die Schweizer Grenzen weit hinter uns lassen und nach Vorbildern auf einem anderen Kontinent suchen, dann darf ein Name nicht fehlen: Ruth Bader Ginsburg, die grossartige, einzigartige, unbeirrbare US-amerikanische Rechtsanwältin und spätere Richterin am Supreme Court.
Sie starb im September 2020 im Alter von 87 Jahren an einem Krebsleiden; bis zuletzt hatte sie versucht, das Sterben zu verzögern, auf dass es Präsident Donald Trump nicht gelingen möge, sie durch eine erzkonservative Richterin zu ersetzen. Knapp schaffte sie es nicht. Doch sie hinterlässt Spuren, hat als Anwältin und als Richterin für die Gleichstellung und gegen Diskriminierung gekämpft.
Mit Erfolg.
Unvergessen, wie sie sich in den letzten Jahren mit ihren dissenting opinions, den in aller Öffentlichkeit und selbstbewusst vorgetragenen, abweichenden Minderheitsmeinungen, Gehör verschaffte. Und der konservativen Richtermehrheit die Stirn bot.
Sie war ein Fels in der Brandung.
Sie war Hoffnung.
Sie war und ist eine wahre Tochter Justitias.
Möge die Gottheit noch so manche Juristinnen beflügeln. Hier und heute. Und bitte, bitte, so schnell wie möglich.
Die Bilder zur Serie zum feministischen Streik stammen von Johanna Hullár. Die gebürtige Budapesterin ist Fotografin und Videokünstlerin und lebt in Zürich. In ihrer Arbeit interessiert sich Hullár für «Verbindung, Intimität, Materialität, Zeit und Wahrnehmung», wie sie selber schreibt. Die Bilder hat Hullár für die Republik kuratiert, sie stammen aus diversen Projekten und Kollaborationen der Fotografin und sollen einen kunstvollen Blick auf Frauenanliegen eröffnen – der natürlich auch viel Interpretationsspielraum lässt. Mehr zu Johanna Hullár gibt es auf ihrer Website.
Was muss sich für Sie in Sachen Gleichstellung ändern? Warum ist Ihnen genau diese Forderung wichtig? Und was erhoffen Sie sich dadurch? Reden Sie mit und teilen Sie Ihre Forderungen mit der Republik-Community. Hier gehts zur Debatte.