Frau Stern reist nach Strassburg
Den eigenen Staat verklagen und siebzehn Richtern Rede und Antwort stehen: Das machen die Schweizer Klimaseniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit.
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 01.04.2023
«Ich bin nervös und kribbelig, habe nicht gut geschlafen. Es ist crazy, was seit ein paar Tagen abgeht, vor allem dieser Medienrummel. Aber nun sind wir so weit. Fast sieben Jahre haben wir auf diesen Moment hingearbeitet, drei Watschen in der Schweiz kassiert. Wir sind belächelt, als Grosis, peinliche Lachnummer und ‹lustige Frauen› bezeichnet worden – oder, noch schlimmer, als Marionetten von Greenpeace. Das ist despektierlich und beleidigend. Doch die positiven Feedbacks haben klar überwogen, manche Leute reagierten schon fast euphorisch auf unser Vorgehen.»
Sagts und trinkt einen Schluck Ingwertee. Elisabeth Stern aus dem Zürcher Oberland, 75 Jahre alt, Psychologin und promovierte Ethnologin, Aktivistin seit einem halben Jahrhundert, ist auf dem Weg nach Strassburg – mit dem Zug, selbstverständlich, Streiks hin oder her. Es ist Dienstagmittag, der 28. März 2023.
«Endlich», sagt sie, «endlich gehts nach Strassburg!»
Stern ist Klimaseniorin, Vorstandsmitglied im gleichnamigen Verein, der 2016 gegründet wurde und heute über zweitausend Mitglieder zählt. Lauter Seniorinnen, einige von ihnen sind hochbetagt. Initiiert wurde die Organisation von Greenpeace Schweiz, genauer gesagt, von Klimaspezialist Georg Klingler, der eine erfolgreiche Bürgerinnenaktion in Holland zum Vorbild genommen hatte. «Wir haben Seite an Seite gearbeitet», sagt Elisabeth Stern, «Greenpeace war der Ort, wo wir das Know-how holten. Wir haben sie ziemlich gefordert und auf Tempo gedrängt. Keine Rede davon, dass sie uns instrumentalisiert haben. Wir sind keine härzigen Grosis.»
Der Verein, sagt Stern, bestehe aus Frauen, die schon ihr ganzes Leben Aktivistinnen gewesen seien: für den Umweltschutz, für den Frieden, für Frauenrechte. Der Kampf um Klimaschutz und Klimagerechtigkeit sei die logische Fortsetzung eines lebenslangen Engagements.
Dass keine Männer zugelassen wurden, hat gute Gründe: prozesstaktische.
Das Schweizer Recht verlangt nach einer besonderen Betroffenheit, und genau diese machen die Klägerinnen auch geltend. «Sonst hätten wir den Rechtsweg nicht beschreiten können», sagt Elisabeth Stern. «Wir mussten darlegen, dass alte Frauen mehr unter den Hitzesommern von 2003, 2015, 2019 und 2022 litten als der Rest der Bevölkerung. Den Senioren oder anderen Gruppen bleibt es offen, selbst einen Verein zu gründen und sich zu wehren. Wir gehen mit gutem Beispiel voran.»
Ohne die Beschränkung auf Seniorinnen hätte die Bahnfahrt nach Strassburg kaum stattgefunden, weder für Elisabeth Stern noch für die anderen acht Vorstandsmitglieder sowie die vier Einzelklägerinnen – ebenfalls Mitglieder des Vereins und alle über achtzig Jahre alt.
Hunderte von Unterstützerinnen von nah und fern hätten sich die Reise sparen können, zwei je siebenköpfige Anwaltsteams wären nicht in der Stadt am Rhein eingetroffen, all die Medienschaffenden, Politikerinnen, Wissenschaftler und NGO-Vertreterinnen hätten zu Hause bleiben können.
Die offizielle Schweiz ist «not amused»
Doch alle sind sie nun gekommen, um an einem historischen Ereignis teilzunehmen; kein Wunder, ist Elisabeth Stern bereits am Vortag nervös. Ebenso klar ist, dass die Delegation der Gegenpartei, des Staates Schweiz, über den öffentlichen, viel beachteten Termin und über den Rummel vor Ort not amused ist.
Das ist eine verständliche Reaktion.
Welcher Staat nimmt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schon gern die Rolle des Beklagten ein? Und wie viel unangenehmer muss diese Situation sein, wenn es darum geht, dass sich der EGMR erstmals überhaupt mit einer Klimaklage zu befassen hat – und die Sache derart ernst nimmt, dass der Fall der grossen Kammer zugeordnet, das heisst, von siebzehn Richtern beurteilt wird?
Auch das ist alles andere als der Regelfall. Denn die grosse Kammer ist für Klagen von grundlegender Bedeutung zuständig.
Die Schweiz als beklagter Staat, und erst noch in einem Präzedenzfall rund um die Klimakrise, geniesst am Tag der öffentlichen Anhörung offensichtlich nicht die Sympathien der Menschenmenge.
Der Jubel vor dem Tor, der Beifall, die aufmunternden Zurufe, all die Wimpel, Papierblumen und Transparente gelten den weiss- und grauhaarigen Frauen, die seit bald sieben Jahren konsequent ein Ziel verfolgen: Die Schweiz soll den Klimawandel ernst nehmen und anerkennen, dass ein mangelhafter Klimaschutz die Menschenrechte tangiert – hier und heute. Der Staat, so die Klimaseniorinnen, müsse aktiv dafür sorgen, dass sie als besonders betroffene und vulnerable Bevölkerungsgruppe geschützt würden.
Nichts tun oder zu wenig tun verletze die Europäische Menschenrechtskonvention: das Recht auf Leben sowie das Recht auf ein Privat- und Familienleben. Die Schweiz sei in der Pflicht und müsse unverzüglich handeln, die notwendigen administrativen und gesetzgeberischen Massnahmen ergreifen, um einen globalen Temperaturanstieg von mehr als 1,5 Grad zu verhindern. Dazu gehörten konkrete Emissionsreduktionsziele im Inland und ein Engagement im Ausland.
«Saumässig schlechte» Argumente
Noch aber ist es Dienstag und am Vortag der Anhörung ziemlich menschenleer vor dem Gerichtshof für Menschenrechte. Der Zug von Elisabeth Stern fährt am frühen Nachmittag in Basel ein; nur knapp hat sie es geschafft, in den fünfzig Minuten Fahrzeit ab Zürich ihren Ingwertee leerzutrinken – zu viel gibt es zu berichten: über ihre Arbeit in Zimbabwe, über Dürre und ausgetrocknete Wasserlöcher, ihren Job beim Kinderdorf Pestalozzi, über ihre Töchter – und wie sie bei den Klimaseniorinnen auf Gleichgesinnte stiess.
Doch was erhofft sich die 75 Jahre alte Aktivistin von ihrer Reise nach Strassburg, von der Anhörung vor dem Gerichtshof, die in wenigen Stunden, am Mittwochmorgen, dem 29. März 2023, stattfinden wird?
«Ich erwarte eine qualitativ hochstehende Debatte von Richterinnen und Richtern, die sich in die Thematik eingelesen und sich vorbereitet haben, die à jour sind. Ich hoffe auf Fragen und Argumente, die deutlich über ein Stammtischniveau hinausgehen – und über das, was wir von den Schweizer Gerichten hören mussten. Deren Argumente waren saumässig schlecht.»
In der Halle des Bahnhofs Basel stösst Elisabeth Stern auf Dutzende Mitstreiterinnen und auf noch mehr Journalisten, mit Kameras und Mikrofonen bewehrt. Passanten bleiben fragend stehen, manch einer erkundigt sich, was denn hier los sei, welche Berühmtheiten gefeiert würden. Viel Zeit für Erklärungen, Begrüssungen und Spontaninterviews bleibt nicht, im französischen Flügel des Bahnhofs wartet der Zug nach Strassburg, der zum Glück fahrplanmässig fährt – anders als viele Fernverbindungen an diesem Tag.
Eine gute Stunde dauert die Weiterfahrt, die Stimmung ist ausgelassen, die Frauen proben einige Lieder, draussen fliegen saftig grüne Landschaften vorbei, der Frühling ist da, neues Leben erwacht, und die Erwartungen an den kommenden Tag sind gewaltig.
«Wir sind die ‹agents of social change›»
«Natürlich geht es um mein Leben und überhaupt ums Leben der Seniorinnen», sagt Elisabeth Stern. «Aber ich will viel mehr. Wenn wir vor dem Gerichtshof für Menschenrechte gewinnen, kommt das auch den jüngeren Generationen zugute. Dann sind wir nicht nur die Vulnerablen, sondern eine Art von agents of the social change.»
Das sieht die offizielle Schweiz anders.
Bevor der Verein und die vier Einzelklägerinnen die Strassburger Instanz anrufen durften, hatten sie den innerstaatlichen Gerichtsweg durchlaufen müssen – und waren auf wenig Verständnis gestossen. «Watschen» hat Stern diese Erfahrungen genannt.
2016 reichen die Klimaseniorinnen ihr Begehren für mehr Klimaschutz beim Bundesrat und dem zuständigen Departement ein. Auf das Anliegen wird nicht eingetreten – mit der Begründung, es liege «kein Eingriff in die persönliche Rechtssphäre» der Klägerinnen vor.
2017 gelangen sie ans Bundesverwaltungsgericht und kassieren Ende 2018 die zweite Abweisung. Dieses Mal heisst es, sie seien von der Klimaerwärmung beziehungsweise von den ihrer Auffassung nach ungenügenden Klimaschutzmassnahmen der Schweiz nicht mehr betroffen als andere Menschen.
2019 folgt die Beschwerde ans Bundesgericht. Der Verein und die vier Einzelklägerinnen unterliegen erneut. Die Schweiz habe noch genügend Zeit für griffige Massnahmen, und die Seniorinnen seien derzeit nicht in der erforderlichen Intensität in ihren Rechten berührt, heisst es aus Lausanne. Und: Das Anliegen sei nicht auf dem Rechtsweg, sondern mit politischen Mitteln durchzusetzen.
2020 rufen die Klimaseniorinnen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte an.
Am 29. März 2023 findet vor der grossen Kammer eine Anhörung statt. Mit einem Entscheid wird erst Ende Jahr gerechnet. Würden die Klägerinnen recht bekommen, müsste die Schweiz die von ihnen monierten Menschenrechtsverletzungen beheben. Das heisst, sie müsste Gesetze erlassen oder ändern. Das Urteil wäre ein Präzedenzfall für die 46 Mitgliedsstaaten des Europarats und damit unter anderem auch für alle Staaten der EU.
Sämtliche Gerichte in diesen Ländern hätten sich künftig an der Rechtsprechung aus Strassburg zu orientieren.
Es geht um viel.
Darum die grosse, internationale Aufmerksamkeit am Tag der Anhörung. Am «historischen» Mittwochmorgen, dem 29. März 2023.
Werden sich die Erwartungen von Elisabeth Stern und den anderen Klimaseniorinnen erfüllen, in diesem riesigen Gerichtsgebäude aus Glas und Stahl, das Transparenz und Nüchternheit ausstrahlt, der Theatralik des Verfahrens zum Trotz?
Verlegen in den Akten blättern
Bevor die siebzehn Richterinnen in ihren Roben und in Einerkolonne einmarschieren, spazieren die Beteiligten, die Besucher und Medienleute, ungehindert im Gerichtssaal umher. Sie fotografieren und filmen die zwei Anwaltsteams (die verlegen in ihren Akten blättern oder auf die Laptops starren), die weisshaarigen Klägerinnen, die Namensschilder der Richterinnen – oder bekannte Gesichter in den Zuschauerreihen.
Helen Keller, von 2011 bis 2020 Schweizer Richterin am EGMR und heute Völkerrechtsprofessorin an der Uni Zürich, ist mit einer Gruppe von Studierenden da. Die deutsche Klimaanwältin Roda Verheyen, die jüngst ein Buch über Klimaklagen veröffentlicht hat (und im Interview mit der Republik von guten Chancen für die Klimaseniorinnen sprach), sitzt in den Zuschauerreihen. Ebenfalls anwesend: Nationalrätin Marionna Schlatter von den Grünen und der Zürcher Arzt André Seidenberg, ein Pionier der Schweizer Drogenpolitik.
Er nimmt an dieser Anhörung eine besondere Rolle ein.
Seidenberg vertritt seine Mutter, eine der vier Einzelklägerinnen und die Einzige aus dieser Gruppe, die den Gang vor den EGMR nicht mehr erleben durfte. Sie ist im Alter von 91 Jahren gestorben; als eine der Ältesten, die im Verein der Klimaseniorinnen an vorderster Front mitmachte. Seine Mutter, sagt Seidenberg, sei schon immer eine bewegte Frau gewesen. Und eine Feministin. Völlig klar für ihn, dass er die Mission der Mutter zu Ende führt.
Als die Glocke ertönt, müssen alle an ihre Plätze, jetzt ist Schluss mit dem Filmen, Fotografieren und Schwatzen. Das Prozedere der Anhörung verläuft streng, förmlich, zeitlich eng getaktet. Gesprochen wird auf Englisch oder Französisch.
Als Erstes darf das Anwaltsteam des beklagten Staats dreissig Minuten lang darlegen, warum die Klage der Seniorinnen abzuweisen sei – falls sie denn zugelassen wird.
Eine Auswahl von vier Argumenten der offiziellen Schweiz:
Es gilt die Gewaltenteilung. Eine «übermässige Vergerichtlichung» des Klimaproblems ist zu verhindern. Klimaschutz ist Aufgabe der Politik und des demokratisch legitimierten Gesetzgebers: «Generell ist die Regierung der Auffassung, dass nationale oder internationale Gerichte weder die Kompetenz noch das nötige Fachwissen besitzen, um eine Klimapolitik zu entwickeln oder konkrete Massnahmen zur Bekämpfung der Treibhausgasemissionen festzulegen.»
Die Schweiz unternimmt alles Zumutbare, um den Klimawandel zu stoppen, sie ist auf Kurs, hält sich an sämtliche Verpflichtungen und ist gewillt, ambitioniert und effektiv auf die Klimakrise zu reagieren.
Ein Verein kann nicht Opfer im Sinne der Menschenrechtskonvention sein, und die Einzelklägerinnen sind nicht mehr betroffen als andere Gruppen in der Bevölkerung, etwa Schwangere oder chronisch Kranke.
Überhaupt ist die Schweiz zu klein, um die globale Klimaerwärmung zu beeinflussen. Es fehlt am direkten Kausalzusammenhang zwischen den gesundheitlichen Beschwerden der Seniorinnen und den Klimaschutzmassnahmen der Schweiz.
Nun ergreift die Gegenseite das Wort, das Anwaltsteam der Klimaseniorinnen.
Eine Auswahl von vier Argumenten aus dem klägerischen Votum:
Die reiche, hoch entwickelte und konsumintensive Schweiz ist nicht auf Kurs. Würden alle Länder so handeln wie sie, wäre bis ins Jahr 2100 eine globale Erwärmung von bis zu 3 Grad Celsius zu erwarten.
Die Zielsetzung der Schweiz schneidet deutlich schlechter ab als in vergleichbaren Staaten. Geplant ist, die Emissionen mit inländischen Massnahmen bis 2030 auf 34 Prozent unter das Emissionsniveau von 1990 zu senken. Nötig wären mehr als 60 Prozent. Die Zielsetzung in der EU beträgt 55 Prozent, in Dänemark 70, in Finnland 60 und in Deutschland 65 Prozent.
Der Klimawandel stellt die grösste Bedrohung für die Menschenrechte dar und fällt deshalb in den Zuständigkeitsbereich des EGMR: «Hitze tötet.» Die Seniorinnen sind real und ernsthaft gefährdet.
Es besteht ein wissenschaftlicher Konsens darüber, dass kaum mehr Zeit bleibt, um strengere Massnahmen zu ergreifen – wenn das Ziel erreicht werden soll, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken. Offenbar beruft sich die Schweizer Regierung nicht auf die neusten und besten wissenschaftlichen Erkenntnisse – sondern auf politische Erwägungen.
Das sind nur eine Handvoll Argumente der beiden Kontrahenten, die in Strassburg die Klingen kreuzen – und sich tunlichst aus dem Weg gehen. Weit mehr, als vor Gericht mündlich geäussert werden darf, steht in den zahlreichen Rechtsschriften, die zuvor eingereicht wurden. Beide Seiten verweisen auf wissenschaftliche Studien, auf vergleichbare Urteile, auf die Aussagen und Einschätzungen von Expertinnen.
Das Thema ist komplex.
Die rechtliche Einordnung ist komplex.
Und die Auffassungen darüber, was zu unternehmen ist, gehen weit auseinander.
Den Klimaseniorinnen gebührt Vortritt
Gut hundert Medienschaffende verfolgen die Anhörung per Videoübertragung in einem separaten Raum im Untergrund; dort, wo sich der einzige Kaffeeautomat befindet – und gleich nebenan die WC-Anlage fürs Publikum. In der dreissigminütigen Pause treffen hier alle zusammen, und es wird eng.
Auch Elisabeth Stern hat sich nach unten begeben, von weitem zu sehen in ihrer knallgrünen Steppjacke. Es sei kühl im Saal, sagt sie, sie friere schon den ganzen Morgen, ihre Hände seien eiskalt. Obs an einer weiteren schlaflosen Nacht liegt? Sie wirkt angespannt und müde. Doch sie winkt ab, es gibt keine Zeit für Befindlichkeiten, heute wird durch gepowert.
Die Glocke ertönt, die Pause ist vorbei. Alle strömen eiligst zurück an ihre Plätze. Ein zweites Mal marschieren die Richter in Einerkolonne in den Saal. Erst danach dürfen sich die Anwesenden setzen.
Das Überraschende an dieser Anhörung ist: Es kommt zu ungewöhnlich vielen Fragen des siebzehnköpfigen Gerichtsgremiums, und zwar an beide Parteien. Neun Richterinnen, darunter die irische Gerichtspräsidentin Síofra O’Leary und der Vertreter der Schweiz, Andreas Zünd, haken bei den Anwaltsteams nach – kritisch und akribisch. Die Details, die sie erfragen, lassen erahnen, dass sie die Unterlagen sehr wohl studiert haben.
So, wie es sich Elisabeth Stern gewünscht hat.
Gegen 12.30 Uhr beendet O’Leary die Anhörung, das Gericht begibt sich in die Mittagspause, bevor am Nachmittag der zweite Klimafall behandelt wird: Ein französischer Bürgermeister klagt gegen Frankreich – ebenfalls wegen unzureichender Klimamassnahmen. Daneben ist eine Klimaklage von portugiesischen Jugendlichen hängig, die im Spätsommer angehört werden sollen. Auch in diesem Fall gehört der Staat Schweiz übrigens zu den Beklagten.
Doch die Schweizer Seniorinnen waren die Ersten. Seit ihrem Auftritt am Mittwochvormittag ist die Klimakrise endgültig am Gerichtshof für Menschenrechte angekommen.
Von al-Jazeera über BBC zu CH Media
Nun verlassen sie das Gerichtsgebäude, stehen in der warmen Mittagssonne, lassen sich von den Unterstützern nochmals so richtig feiern und hochleben. «Es ist vorbei, es war viel und intensiv. Nun fängt das Warten an», meint Elisabeth Stern.
Und weiter gehts mit den Interviews, vor Ort, telefonisch oder per Videoschaltung: für BBC, Euronews, al-Jazeera, Arte, für eine Zeitung aus Barcelona, CH Media, ein französisches Radio … Irgendwann hört Elisabeth Stern auf, zu fragen, für wen sie grad ins Mikrofon spricht. Sondern antwortet nur noch. Kurz, knapp und konzentriert. Nur wenn sie zum wiederholten Male nach Basisdaten gefragt wird, erlaubt sie sich, höflich, aber bestimmt auf die Website der Klimaseniorinnen hinzuweisen.
Später am Nachmittag, an einem Podiumsgespräch im Pavillon Joséphine, dem letzten offiziellen Programmpunkt an diesem langen Mittwoch in Strassburg, wird sich Elisabeth Stern an die Anreise tags zuvor erinnern; an den Zwischenhalt in Basel, die verwunderten Blicke der Passanten.
Da seien sie und ihre Mitstreiterinnen noch weitgehend Unbekannte gewesen. Doch nach ihrem Auftritt am Gerichtshof für Menschenrechte habe sich dies geändert: «Wir alten Frauen zwingen das Gericht dazu, zur Klimakrise Stellung zu nehmen. Ich habe heute erstmals realisiert, dass wir hier in Strassburg die Hauptprotagonistinnen sind. Das verpflichtet. Ich werde am Thema dranbleiben. Erst recht. Und egal, wie es ausgeht.»
«Gracias a la vida» heisst das Lied von Mercedes Sosa, das die Klimaseniorinnen im Gedenken an ihre verstorbenen Mitstreiterinnen im Pavillon Joséphine abspielen, zum Auftakt des Panels. 48 Frauen sind seit der Gründung des Vereins gestorben.
Genau wie dieses Lied verstehen die Seniorinnen ihr Engagement, und darum denken sie auch nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Aus Dankbarkeit und Liebe zum Leben. Damit die Erde für sie und für die jüngeren Generationen lebens- und liebenswert bleibt.
Okay, das mag ein kitschiger Ausklang sein.
Doch während die Klimaseniorinnen den Tag Revue passieren lassen, bauen Störche auf dem Pavillondach ihr Nest, blühen die Magnolienbäume in voller Pracht und gönnen sich die im Parc de l’Orangerie flanierenden Strassburgerinnen ein Glace.
Mit anderen Worten: Leben pur auf einem wunderschönen, grünen Planeten, den es zu schützen gilt.