«Ich glaube, der Gerichts­hof für Menschen­rechte wird den Klima­seniorinnen recht geben»

Rentnerinnen aus der Schweiz, Bauern aus Peru und portugiesische Jugendliche wollen den Klima­schutz juristisch durchsetzen. Aber ist das nicht Sache der Politik? Nein, sagt Klima­anwältin Roda Verheyen. Ein Gespräch über das Verhältnis von Klimakrise und Justiz.

Von Daniel Graf und Brigitte Hürlimann, 10.03.2023

Vorgelesen von Regula Imboden
0:00 / 27:56
Volkswagen, RWE oder gleich der Staat? Die Grösse des Gegners vor Gericht spielt für Anwältin Roda Verheyen keine Rolle, die Menschenrechte sind immer noch grösser. Melina Mörsdorf/laif

Frau Verheyen, Sie haben sich einen Ruf als «Klima­anwältin» erworben. Steht das auch auf Ihrer Visitenkarte?
Nein, Klima­anwältin ist keine Berufs­bezeichnung. Es gibt auch kein Klimarecht als solches. Ich sage stets, dass ich eine ganz normale Rechts­anwältin bin, ich habe ja nicht mal einen Fachanwalts­titel.

Eine «ganz normale Rechts­anwältin», aber mit einem thematischen Schwerpunkt. Wie müssen wir uns den Job einer Klima­anwältin vorstellen?
Ich bin Partnerin in einer Hamburger Rechtsanwalts­kanzlei, wir sind derzeit vierzehn Leute, und wir betätigen uns in verschiedenen Bereichen: Umwelt-, Energie- und Planungsrecht, aber auch ganz normale Kaufverträge. Ich mache Nutzungs­verträge für Windenergie­räder und seit zehn Jahren sehr viel im Klimaschutz. Nun habe ich VW verklagt.

Sie haben den Volkswagen­konzern verklagt?
Zusammen mit Greenpeace verlangen wir unter anderem, dass der Konzern bis Ende 2029 die von ihm verursachten Emissionen um 65 Prozent senkt. Und dass er ab 2030 keine Verbrennungs­motoren mehr verkauft. VW ist weltweit der zweitgrösste Auto­hersteller. Das erstinstanzliche Gericht hat die Klage abgewiesen, aber wir gehen in die Berufung, und das letzte Wort hat sicher erst der Bundes­gerichtshof. Ganz grund­sätzlich müssen Sie allerdings eines wissen: Nur mit der Vertretung von grossen Umwelt­klagen kann man so eine Anwalts­kanzlei nicht aufrecht­erhalten. Es braucht eine Misch­kalkulation. Das ist gut, so wird man nicht betriebsblind. Ich vertrete viele konventionelle Landwirte oder Logistik­unternehmen, das hilft mir, den Blick auf Politik und Recht zu schärfen.

Zur Person

Roda Verheyen, 1972 in Düsseldorf geboren, ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Klimaschutz und ehrenamtliche Richterin am Hamburgischen Verfassungs­gericht. Sie hat in Hamburg, Oslo und London Rechts­wissenschaften studiert und wurde mit einer Doktorarbeit an der Forschungs­stelle Umwelt­recht an der Uni Hamburg promoviert. Sie berät Umwelt­organisationen wie Greenpeace und Germanwatch und ist Gründerin des Vereins Green Legal Impact Germany. 2002 gründete sie mit dem Juristen Peter Roderick das internationale Netzwerk Climate Justice Programme. Am 16. März 2023 erscheint ihr gemeinsam mit Alexandra Endres verfasstes Sachbuch «Wir alle haben ein Recht auf Zukunft. Eine Ermutigung».

Wie sind Sie zu den Klimaklagen gekommen?
Ich arbeite schon sehr lange im Bereich des Umwelt­schutzes und war früher als Campaignerin bei Umweltschutz­organisationen angestellt. Ich habe lange in London gelebt und bin 2001 nach Deutschland zurück­gekommen, unter anderem weil ich realisierte, dass hier über 40 neue Kohle­kraftwerke geplant werden. Das wäre der Tod jeglicher Klimapolitik. Also beschloss ich, wieder in die Juristerei zu gehen, und habe zwischen 2006 und 2012 hauptsächlich Kohlekraft­werke beklagt. Daneben machte ich weiter als Beraterin auf internationaler Ebene. Schliesslich kamen beide Tätigkeiten zu meiner ersten Klimaklage zusammen: im Namen und Auftrag eines peruanischen Bauern und Bergführers.

Worum ging es da?
Die Klage ist immer noch hängig, es war die erste dieser Art, auf weiter Flur. Beklagt wird der Energie­konzern RWE, der immer noch zu den grössten Treibhausgas­emittenten Europas gehört. Das Unternehmen ist mitverantwortlich für die Auswirkungen des Klima­wandels, die meinen Klienten und seine Familie konkret betreffen. Ihr Haus in der Stadt Huaraz in den Anden wird zerstört, wenn der dortige Gletschersee, der sich durch den Klima­wandel stark vergrössert hat, bricht und eine Flut talwärts verursacht. Und dass das passiert, ist nur eine Frage der Zeit.

Ist Klimaschutz überhaupt ein Thema für die Justiz – und nicht in erster Linie eine Sache der Politik?
Diese Frage lässt sich einfach beantworten. Das Recht ist da, warum sollte ich es nicht umsetzen wollen? Ich erfinde das Recht nicht. Als die ersten Klimaklagen kamen, war absehbar, dass die Erfolgs­aussichten gering sind – das ist immer so, wenn es um etwas Neues geht. Beim peruanischen Bauern, den ich vertrete, geht es um eine zivil­rechtliche Verantwortung, bei anderen Klimaklagen um Klimaziele, die in einem Gesetz oder im Völker­recht begründet sind. Klimaschutz ist auf jeden Fall eine Aufgabe der Justiz. Das Problem ist riesengross, da kann es doch nicht sein, dass sich eine Staats­gewalt raushält. Tut sie auch nicht – und das ist gut so. Die wins mehren sich.

Sie schreiben in Ihrem Buch: «Klimaschutz ist Menschen­recht.» Ist das für die Gerichte wirklich so unbestritten?
Es gibt bestimmt noch einzelne Stimmen in der Justiz und in der Rechts­wissenschaft, die dem Klimaschutz den Menschenrechts­charakter absprechen. Aber das ist heute eine Minderheit. Als ich anfing, war es die absolut herrschende Meinung. Es gab in der Juristerei eine sehr lange Phase, in welcher der Umwelt­schutz und die Menschen­rechte weit auseinander­lagen. Das hat sich geändert, spätestens seit die Uno den Zusammen­hang zwischen Umwelt­schutz und Menschen­rechten festgestellt hat. Wir haben im Moment unfassbar viel Bewegung in diesem Bereich. Auch die Unternehmen werden immer mehr in die Pflicht genommen. Sie müssen Umwelt­rechte und Menschen­rechte wahren, genauso wie die Staaten.

Also hat der Einzelne ein Recht darauf, dass der Staat seine Grund­rechte aktiv schützt?
Absolut. Es ist nur die Frage, in welchem Mass der Staat tätig wird und welchen Auslegungs­spielraum er noch hat.

Sie waren an einer der wichtigsten Klimaklagen in Deutschland beteiligt – mit einem Ergebnis, das weltweit für Aufsehen gesorgt hat. Das deutsche Bundes­verfassungsgericht hat im Frühjahr 2021 die damalige Bundes­regierung dazu gezwungen, ihr Klimaschutz­gesetz zu überarbeiten, weil es nicht weit genug ging. Was genau kritisierten die Verfassungs­richterinnen?
Das Klimaschutz­gesetz von 2019 war eine Reaktion auf massive Proteste vor allem der Fridays-for-Future-Bewegung. Es war nicht das erste, aber eines der weitreichendsten Klimaschutz­gesetze in Europa, und es handelte sich um ein sogenanntes Rahmen­gesetz. Das heisst, da steht nicht drin, was genau man im Einzelnen tun will, sondern das Gesetz legte quantitative Ziele zur Emissions­reduktion fest. Diese Ziele waren aber nur für den Zeitraum bis 2030 näher definiert. Für die Zeit danach stand quasi nur, man solle irgendwie zur Treibhausgas­neutralität kommen. Wir als Beschwerde­führer haben an diesem Gesetz gerügt, dass es im Grunde überhaupt keinen Schutz­standard enthält, weil es nichts darüber aussagte, wie viel noch emittiert werden kann.

Es ging ums CO2-Budget.
Ja, und das kann man entweder in Tonnen ausdrücken, oder man legt einen Reduktions­pfad fest. Das Gericht hatte auf zwei Ebenen zu entscheiden. Zuerst: Sind hier die Schutz­pflichten des Staates betroffen, die aus den Menschen­rechten erwachsen? Da war die Antwort ja. Sind diese Rechte auch bereits verletzt? Da war die Antwort nein, und zwar ganz ausdrücklich: Sie sind noch nicht verletzt.

Und die zweite Ebene?
Da war die Frage: Was ist dann mit den Über­emissionen, die möglich und also quasi erlaubt werden, weil nach 2030 nichts geregelt ist? Und an diesem Punkt hat das Gericht gesagt, es gibt Abwehr­rechte zukünftiger Generationen, die jetzt schon geltend gemacht werden können, weil das Budget übernutzt wird. Das Gericht nennt das Inter­temporalität: Man setzt an Freiheits­rechten an, die in der Zukunft unweigerlich eingeschränkt werden müssten, wenn wir jetzt zu stark übernutzen. Das ist ein ganz neues Konstrukt. Man macht geltend, dass das Erlauben von Emissionen eben auch ein Eingriff in die Freiheits­rechte ist – nämlich in die der künftigen Generationen.

Das heisst, im Grunde sagte das Bundesverfassungs­gericht: Wenn zu wenig Emissions­reduktionen bis 2030 verordnet werden, bleibt zu viel von der Reduktions­last abzutragen im Zeitraum danach – und das ist mit den Rechten der Jüngeren unvereinbar.
Das war genau der Punkt. Neben der Tatsache, dass es einfach gar nicht geregelt war, was danach passiert. Das Bundes­verfassungs­gericht hat verstanden, dass es um ein Gesamt­budget geht und nicht um davon losgelöste Ziele bis zum Zeitpunkt X.

Was waren die entscheidenden Zahlen?
Das CO2-Budget ist letztlich eine Zahl, die der Weltklimarat IPCC ausgeworfen hat, und zwar schon lange. So richtig greifbar war das aber erst seit dem Bericht von 2018, der die Unterschiede zwischen 1,5 Grad globaler Erwärmung und einem 2,0-Grad-Pfad scharf heraus­gearbeitet hat. Seitdem gibt es also eine globale Zahl, die man auf ein CO2-Budget einzelner Nationen herunter­rechnen kann. In Deutschland macht das insbesondere der Sachverständigen­rat für Umwelt­fragen. Und dessen Gutachten hat das Bundes­verfassungs­gericht zugrunde gelegt. Es hat gesagt: Wenn die Berechnungen des Sachverständigen­rats schlüssig sind, dann ist das, was das Klimaschutz­gesetz vorgesehen hat, völlig unzureichend – egal, ob ich nun beispiels­weise mit einem 1,5-Grad- oder einem 1,7-Grad-Szenario rechne. Und daraus wurde die klare Botschaft: Die Reduktions­lasten dürfen nicht willkürlich und unverhältnis­mässig in die Zukunft nach 2030 verschoben werden.

In diesem sehr komplexen Zusammenhang ist die rechnerische Grund­operation also vergleichs­weise simpel: Es gibt ein Budget, es gibt zwei Zeiträume. Und das Gesamt­budget ist ungerecht verteilt auf diese beiden Zeiträume.
So kann man das sagen, ja. Aber dahinter stand vor allem die Überlegung, dass das Bundes­verfassungsgericht nicht dem Gesetzgeber die Entscheidung vorgibt über das, was konkret zu tun ist. Die Frage, ob es ein eindeutig bezifferbares Budget gibt, hat das Gericht letztlich verneint. Die Botschaft war aber: Dieses Gesetz setzt den Grund­gedanken eines Gesamt­budgets nicht um. Natürlich gibt es eine gewisse Unsicherheit, ob das Gesamt­budget für Deutschland nun 6,0 oder 6,8 Gigatonnen sind. Aber um die Grund­rechte zu schützen, muss man sich eben an einem schlüssigen Budget orientieren. Das sagt das Gericht.

Trotzdem hat doch eine sehr konkrete Zahl im Prozess eine Rolle gespielt: die 6,7 Gigatonnen, die der Physiker Wolfgang Lucht als CO2-Budget der Bundes­republik Deutschland berechnet hat – das, was Deutschland insgesamt noch verbrauchen darf.
Ja, diese Zahl stammt aus dem vorhin erwähnten Kurzbericht des Sach­verständigen­rats, und sie hat eine ganz wichtige Rolle gespielt. Sie hätte auch 6,5 heissen können oder 6,8. Entscheidend war, dass aus der globalen Zahl mit wissenschaftlich seriösen Methoden ein nachvollziehbares, schlüssiges Budget für die Bundes­republik ermittelt wurde. Wegen der normativen Unsicherheiten hat das Bundes­verfassungs­gericht nicht gesagt: Das ist es jetzt, es sind genau 6,7 Gigatonnen. Aber gar nichts zu regeln, was die Mengen angeht, das geht eben nicht. Und so war das Klimaschutz­gesetz damals gestrickt.

Was geschah nach diesem Urteil? Ein festes Budget in Form einer Zahl ist auch im überarbeiteten Gesetz nicht definiert.
Es gibt im deutschen Klimaschutzgesetz keine Zahl. Aber zunächst einmal muss man sagen: Das war, glaube ich, die schnellste Gesetzes­änderung, die es jemals gab nach einem Verfassungs­gerichts­urteil. Ich habe auch noch nie gehört, dass ein Bundes­wirtschafts­minister sich bedankt bei den Klägern.

Sie meinen den damaligen Bundes­wirtschaftsminister Peter Altmaier – den Minister, der die Klage verloren hat.
Ja, die Situation war absurd! Wirtschafts­minister Altmaier hat tatsächlich am Tag des Urteils getwittert, dass er sich freut über das Urteil. Meine Mandanten haben sich darüber unendlich aufgeregt, was ich gut verstehe. Das war schon fast zynisch. Als ob man ihn und seine Partei vorher daran gehindert hätte, irgendwas zu tun. Es gab jedenfalls eine Nachschärfung der Ziele, sowohl bis 2030 als auch für die Zeit danach. Der Zeitpunkt für die Treibhausgas­neutralität in Deutschland wurde auf 2045 festgelegt. Ausserdem wurde zum ersten Mal eine Zielzahl für den Aufbau natürlicher Senken verankert. Seitdem verfehlen wir jedes Jahr die Ziele aus diesem Gesetz. Da fragt man sich: Wie kann das sein? So ein weitreichendes und viel beachtetes Paukenschlag-Urteil. Ja, und wo ist die Umsetzung?

Einmal abgesehen von der Umsetzung, die auf sich warten lässt: Kann wirklich jede einzelne Bürgerin einfach den Staat verklagen, weil ihr die Regierungs­politik nicht passt?
In Deutschland schon. Wer sich durch ein Gesetz in den Grund­rechten verletzt sieht, kann sich ans Bundes­verfassungs­gericht wenden. Einfach ist das allerdings nicht. Mehr als 95 Prozent aller Verfassungs­beschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Und es ist absolut selten, dass aufgrund von Verfassungs­beschwerden Grundsatz­urteile gefällt werden. Das Bundes­verfassungs­gericht macht keine Politik, das soll es auch nicht. Es übt seine Befugnis im Rahmen der Gewalten­teilung aus.

Welche Grundrechte können im Bereich des Klima­schutzes tangiert sein?
Weltweit machen wir Anwältinnen das Recht auf Leben und Gesundheit geltend. Ich habe auch schon das Recht auf Menschen­würde eingebracht, und zwar im Kontext eines ökologischen Existenz­minimums. Jeder Mensch hat das Recht auf Lebens­grundlagen, die seine Menschen­würde bewahren. Aber nichts anderes zerstören wir mit dem Klima­wandel. Es geht auch um die Berufs­freiheit oder um Eigentums­rechte. In den Klagen thematisieren wir oft die Generationen- oder Kinder­rechte sowie das Recht auf Familie. Es geht um Grund­rechte, die im weitesten Sinne mit der Integrität einer Person zu tun haben.

Wo sind all diese Rechte festgelegt?
Unter anderem eben im deutschen Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechts­konvention. In den Fällen, die derzeit vor dem Gerichtshof in Strassburg hängig sind, geht es hauptsächlich um die Achtung des Privat- und Familien­lebens, die körperliche Integrität, um Kinder­rechte oder ums Diskriminierungs­verbot. Die beiden letztgenannten sind ein Thema bei einer Klimaklage portugiesischer Jugendlicher, Erstere sind relevant bei den Schweizer Klima­seniorinnen, die als besonders betroffene und vulnerable Bevölkerungs­gruppe vom Schweizer Staat mehr Schutz vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen fordern.

Darauf müssen wir unbedingt noch näher eingehen. Zunächst aber: Welche bereits gesprochenen Klima­urteile sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig für künftige Entscheide?
Der Urgenda-Fall aus den Niederlanden hat eine grosse Bedeutung. Es war die weltweit erste erfolgreiche Klimaklage gegen einen Staat. Urgenda ist der Name einer Umwelt­stiftung. Schon die erste Gerichts­instanz hielt 2015 fest, dass die nieder­ländische Regierung von Gesetzes wegen verpflichtet ist, die Menschen vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen – und ihre Klima­politik zu verschärfen. Im Urgenda-Fall wurden viele Fragen geklärt, auch was die Anwendung der Menschen­rechte und die wissenschaftlichen Grundlagen betrifft. Es ging um die Anwendung der Strassburger Recht­sprechung oder um die Frage, ob man gegen einen Staat klagen kann, der nur ein Prozent oder zwei Prozent des globalen CO2-Ausstosses verantwortet. Stichwort: Drop in the ocean.

Weitere Entscheide?
Es gibt ein neues Urteil aus Brasilien. Der oberste Gerichtshof hat festgestellt, dass das Pariser Klima­abkommen ein Menschenrechts­vertrag ist. Das ist deshalb wichtig, weil die brasilianische Regierung durch die Menschen­rechte direkt verpflichtet wird. Solche Entscheide sind bahnbrechend und haben Wirkkraft – auf lange Zeit hinaus. Ein Urteil gegen Shell hat grosse Bedeutung, was die privaten Unternehmen betrifft: Ein Distrikt­gericht in Den Haag hat 2021 Shell dazu verurteilt, seinen globalen Ausstoss von Treibhausgasen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent zu senken. Das zeigt: Auch Unternehmen haben die grund­legenden Menschen­rechte zu achten. Sie geniessen keine Sonder­rechte, was ihre klima­schädlichen Emissionen betrifft. Ganz im Gegenteil.

Beeinflussen solche Urteile die Rechts­findung in anderen Staaten?
Das Bundesverfassungs­gericht hatte alle damals vorhandenen, wichtigen Klima­urteile übersetzt vorliegen, sie werden im Urteil mehrfach erwähnt. In den Ländern der EU gibt es ein Bestreben der obersten Gerichte, den Rechtsraum gemeinschaftlich zu prägen. Was die Schweiz betrifft, kann ich das hingegen schlecht beurteilen. Ich höre von meinen Anwalts­kolleginnen, dass sich die Schweizer Gerichte von wegweisenden internationalen Klima­urteilen nicht beeindrucken lassen. Das ist eigenartig, denn wenn ich eine Auslegung vorzunehmen habe, gerade auf einer Grundrechts­ebene, kann ich von den Ideen anderer Gerichtshöfe oder Verfassungs­gerichte nur profitieren.

Dann lassen Sie uns auf die Schweiz schauen. Sie haben die Klage der Klima­seniorinnen bereits erwähnt. Wie sind Sie in den Fall involviert?
Nicht aktiv, ich beobachte ihn nur von der Seitenlinie und habe mich für mein Buch auch eingearbeitet. Der Fall der Klima­seniorinnen ist am Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte hängig, am 29. März findet eine Anhörung statt. Ich habe mich als Intervenientin offiziell eingebracht und eine Stellung­nahme verfasst. Und ich werde bei der Anhörung vor Ort sein.

Was ist die Bedeutung dieses Falls?
Der Fall ist gut gewählt und gut begründet. Und ich glaube, die Chancen, vor dem Europäischen Menschengerichts­hof zu gewinnen, stehen gut. Und zwar weil die Schweizer Gerichte aus meiner Sicht wirklich zu kurz gegriffen haben und weil die Schweiz im Vergleich sehr wenig aktiven Klimaschutz betreibt. Die Klima­seniorinnen sind der erste Fall in Strassburg, bei dem es um den Massstab für die Schutz­pflichten eines Staats geht. Deswegen hat der Fall eine riesen­grosse Bedeutung. Als ich das letzt­instanzliche Urteil der Schweiz gelesen habe, dachte ich nur: Die müssen einen alternativen IPCC-Bericht gehabt haben! Ich weiss nicht, worauf sie sich wissenschaftlich gestützt haben. Die Begründung des letzt­instanzlichen Gerichts ging so sehr an allem vorbei, was der Weltklimarat beschrieben hatte und von der Kläger­schaft vorgetragen worden ist. Zu schreiben, man lehne die Klage heute ab, weil der Schweizer Staat noch so viel Zeit habe, um irgendwelche Massnahmen zu ergreifen – das kann man nicht rechtfertigen. Man kann sicherlich über das Schutz­niveau streiten, aber die Art der Begründung des Bundes­gerichts und der vorherigen Instanzen – das greift einfach zu kurz.

Die Schweizer Gerichte haben schlechter argumentiert als andere Gerichte, die ebenfalls ablehnend über Klima­klagen entschieden haben?
Absolut. Die EU-Gerichte haben sich allerdings auch nicht in der Sache geäussert. Das war auch sehr schwach.

Und die Schwäche der Argumentation im Fall der Klima­seniorinnen wird auf der Ebene des Europäischen Gerichtshofs für Menschen­rechte kassiert werden?
Davon gehe ich aus. Deshalb glaube ich, dass der Gerichtshof der Klage der Klima­seniorinnen stattgeben wird.

Und dann?
Die Schweizerinnen haben am 25. November 2018 letztlich erklärt, dass sie einverstanden sind mit der Bedeutung der Europäischen Menschenrechts­konvention und der Rolle des Gerichts in Strassburg. Wenn die Schweiz also verliert, muss der Klimaschutz verbessert werden. Anders als in Gross­britannien diskutiert ja derzeit in der Schweiz niemand, ob man sich als Land aus dem Europarat zurück­ziehen möchte, damit man nicht mehr der Zuständigkeit des Strassburger Gerichtshofs unterliegt.

Die Klimaseniorinnen argumentieren, sie seien als ältere Frauen stärker von den Folgen des Klima­wandels betroffen als der Rest der Bevölkerung. Interessanter­weise werden also partikulare Interessen geltend macht, keine universellen. Funktionieren Klima­klagen nur so?
Man muss fast immer Partikular­interessen darlegen: Warum bin ich durch die Handlungen oder die Unter­lassung einer staatlichen Stelle betroffen? Das ist die grundsätzliche Konstruktion in fast allen Rechts­systemen der Welt. Es gibt Menschen, die sind vom Klimawandel sehr wenig betroffen. Dazu würde ich mich persönlich zählen. Ich wohne im Norden Deutschlands, auf einem Sandhügel. Ich habe hier weder grössere Wetter­extreme zu befürchten, die mich unmittelbar an Leib und Leben betreffen, noch wird mein Haus übermorgen oder in drei Jahren durch einen Anstieg des Meeres­spiegels abgetragen. Es gibt aber Millionen von Menschen, bei denen das anders ist und die heute schon darlegen können, dass sie vom Klimawandel direkt betroffen sind. Dazu gehören die Klima­seniorinnen aus der Schweiz. Und dazu gehört auch meine Mutter.

Heisst das, wenn Sie persönlich diese Klage führen würden, würde sie nicht durchgehen, weil Sie in diesem Sinn nicht als Betroffene gelten?
Mit der besonderen Begründung, die die Klima­seniorinnen für ihre persönliche Betroffenheit genutzt haben, ist das so, ja. Ich habe aber Mandantinnen vertreten, die auf andere Weise betroffen sind. Man muss die Betroffenheit nachweisen können. Wer das nachweisen kann, ist eben betroffen – und es ist okay, zu klagen. Das muss ich immer wieder erwähnen, wenn mich Journalisten fragen, ob ich es nicht komisch finde, dass beim Klimaschutz die Gerichte entscheiden sollen statt nur die Politik. Dann sage ich jeweils: Was soll der Landwirt machen? Darauf warten, bis alles den Bach runtergeht? Der hat doch das Recht, ein Gericht anzurufen. Oft geht es wirklich um Leib und Leben und um die Gesundheit. Wie beispiels­weise bei den Klima­seniorinnen.

Stösst Ihr Wirken als Klima­anwältin manchmal auf Unverständnis?
Aber selbstverständlich. Und das gilt für jedes Land. Es gibt immer Juristinnen, Journalisten oder Politiker, die sagen, die Klima­klagen seien eine Über­forderung der Gerichte. Oder das Ganze sei eine rein politische, strategische Farce, um die Medien zu erreichen. Aber nochmals: Was sollen die Betroffenen denn sonst machen?

Klimasünder zur Verantwortung zu ziehen, ob es nun Staaten oder Unternehmen sind, ist das eine. Dass aber Klima­protestierende sich juristisch verantworten müssen, etwas anderes. Was sagen Sie zur strafrechtlichen Aufarbeitung von Klima­protesten?
In meiner Kanzlei verteidigen wir schon seit langem die verschiedensten Aktivisten; meist geht es um Umwelt- oder Tierschutz und um versammlungs­typische Straftaten: Nötigung oder Hausfriedens­bruch. Ich verteidige die Beschuldigten nicht selbst, habe aber damit zu tun. Ich finde, die Debatte wird falsch geführt. Wenn bei den Menschen die Verzweiflung ein derart grosses Ausmass annimmt, dass sie gesetzliche Grenzen überschreiten, dann muss das eine Gesellschaft aushalten. Die Straf­gerichte müssen sich die Frage stellen, ob solche Proteste wirklich verwerflich sind – oder ob es nicht eine Art von Recht­fertigungs­notstand gibt.

Die Diskussion darüber wird emotional geführt.
Das Thema, ob bestimmte Gesetzes­übertretungen durch den Klima­notstand gerechtfertigt werden können, ist nicht neu. Und es gibt durchaus Gerichte, die so entschieden haben. Auch in der Schweiz. In Gross­britannien wurden schon vor zehn Jahren Aktivisten freigesprochen – wegen des Klima­notstands. Die Beschuldigten hätten gehandelt, um ein berechtigtes Anliegen zu vertreten, entschied die Jury. Aber wir sollten uns weniger übers Strafrecht Gedanken machen als über die Krise selbst. Das ist in Deutschland in den letzten Monaten schief­gegangen. Auch in den Medien.

Wenn Sie in einer Kürzest­fassung ein Plädoyer für den Klimaschutz halten müssten – wie würde es lauten?
Jeder Staat muss sich an ein schlüssiges CO2-Budget halten, das sich wissenschaftlich aus den Pariser Zielen ableiten lässt. Und jeder grosse Emittent muss das Gleiche tun. Wenn das alle täten, gäbe es keinen Konflikt mehr darüber, wer als Erstes tätig wird. Damit würde auch die Diskussion, ob in einem Land mehr getan wird als in einem anderen, versiegen. Und es wäre endlich das geschafft, was wir seit Jahren brauchen: die Einhaltung von Völkerrecht und Menschen­recht. Das würde mir sehr gefallen. Dann könnte ich mich vielleicht dem nächsten Thema zuwenden, der Biodiversität. Diese Krise gibt es nämlich auch noch.