«Ich glaube, der Gerichtshof für Menschenrechte wird den Klimaseniorinnen recht geben»
Rentnerinnen aus der Schweiz, Bauern aus Peru und portugiesische Jugendliche wollen den Klimaschutz juristisch durchsetzen. Aber ist das nicht Sache der Politik? Nein, sagt Klimaanwältin Roda Verheyen. Ein Gespräch über das Verhältnis von Klimakrise und Justiz.
Von Daniel Graf und Brigitte Hürlimann, 10.03.2023
Frau Verheyen, Sie haben sich einen Ruf als «Klimaanwältin» erworben. Steht das auch auf Ihrer Visitenkarte?
Nein, Klimaanwältin ist keine Berufsbezeichnung. Es gibt auch kein Klimarecht als solches. Ich sage stets, dass ich eine ganz normale Rechtsanwältin bin, ich habe ja nicht mal einen Fachanwaltstitel.
Eine «ganz normale Rechtsanwältin», aber mit einem thematischen Schwerpunkt. Wie müssen wir uns den Job einer Klimaanwältin vorstellen?
Ich bin Partnerin in einer Hamburger Rechtsanwaltskanzlei, wir sind derzeit vierzehn Leute, und wir betätigen uns in verschiedenen Bereichen: Umwelt-, Energie- und Planungsrecht, aber auch ganz normale Kaufverträge. Ich mache Nutzungsverträge für Windenergieräder und seit zehn Jahren sehr viel im Klimaschutz. Nun habe ich VW verklagt.
Sie haben den Volkswagenkonzern verklagt?
Zusammen mit Greenpeace verlangen wir unter anderem, dass der Konzern bis Ende 2029 die von ihm verursachten Emissionen um 65 Prozent senkt. Und dass er ab 2030 keine Verbrennungsmotoren mehr verkauft. VW ist weltweit der zweitgrösste Autohersteller. Das erstinstanzliche Gericht hat die Klage abgewiesen, aber wir gehen in die Berufung, und das letzte Wort hat sicher erst der Bundesgerichtshof. Ganz grundsätzlich müssen Sie allerdings eines wissen: Nur mit der Vertretung von grossen Umweltklagen kann man so eine Anwaltskanzlei nicht aufrechterhalten. Es braucht eine Mischkalkulation. Das ist gut, so wird man nicht betriebsblind. Ich vertrete viele konventionelle Landwirte oder Logistikunternehmen, das hilft mir, den Blick auf Politik und Recht zu schärfen.
Roda Verheyen, 1972 in Düsseldorf geboren, ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Klimaschutz und ehrenamtliche Richterin am Hamburgischen Verfassungsgericht. Sie hat in Hamburg, Oslo und London Rechtswissenschaften studiert und wurde mit einer Doktorarbeit an der Forschungsstelle Umweltrecht an der Uni Hamburg promoviert. Sie berät Umweltorganisationen wie Greenpeace und Germanwatch und ist Gründerin des Vereins Green Legal Impact Germany. 2002 gründete sie mit dem Juristen Peter Roderick das internationale Netzwerk Climate Justice Programme. Am 16. März 2023 erscheint ihr gemeinsam mit Alexandra Endres verfasstes Sachbuch «Wir alle haben ein Recht auf Zukunft. Eine Ermutigung».
Wie sind Sie zu den Klimaklagen gekommen?
Ich arbeite schon sehr lange im Bereich des Umweltschutzes und war früher als Campaignerin bei Umweltschutzorganisationen angestellt. Ich habe lange in London gelebt und bin 2001 nach Deutschland zurückgekommen, unter anderem weil ich realisierte, dass hier über 40 neue Kohlekraftwerke geplant werden. Das wäre der Tod jeglicher Klimapolitik. Also beschloss ich, wieder in die Juristerei zu gehen, und habe zwischen 2006 und 2012 hauptsächlich Kohlekraftwerke beklagt. Daneben machte ich weiter als Beraterin auf internationaler Ebene. Schliesslich kamen beide Tätigkeiten zu meiner ersten Klimaklage zusammen: im Namen und Auftrag eines peruanischen Bauern und Bergführers.
Worum ging es da?
Die Klage ist immer noch hängig, es war die erste dieser Art, auf weiter Flur. Beklagt wird der Energiekonzern RWE, der immer noch zu den grössten Treibhausgasemittenten Europas gehört. Das Unternehmen ist mitverantwortlich für die Auswirkungen des Klimawandels, die meinen Klienten und seine Familie konkret betreffen. Ihr Haus in der Stadt Huaraz in den Anden wird zerstört, wenn der dortige Gletschersee, der sich durch den Klimawandel stark vergrössert hat, bricht und eine Flut talwärts verursacht. Und dass das passiert, ist nur eine Frage der Zeit.
Ist Klimaschutz überhaupt ein Thema für die Justiz – und nicht in erster Linie eine Sache der Politik?
Diese Frage lässt sich einfach beantworten. Das Recht ist da, warum sollte ich es nicht umsetzen wollen? Ich erfinde das Recht nicht. Als die ersten Klimaklagen kamen, war absehbar, dass die Erfolgsaussichten gering sind – das ist immer so, wenn es um etwas Neues geht. Beim peruanischen Bauern, den ich vertrete, geht es um eine zivilrechtliche Verantwortung, bei anderen Klimaklagen um Klimaziele, die in einem Gesetz oder im Völkerrecht begründet sind. Klimaschutz ist auf jeden Fall eine Aufgabe der Justiz. Das Problem ist riesengross, da kann es doch nicht sein, dass sich eine Staatsgewalt raushält. Tut sie auch nicht – und das ist gut so. Die wins mehren sich.
Sie schreiben in Ihrem Buch: «Klimaschutz ist Menschenrecht.» Ist das für die Gerichte wirklich so unbestritten?
Es gibt bestimmt noch einzelne Stimmen in der Justiz und in der Rechtswissenschaft, die dem Klimaschutz den Menschenrechtscharakter absprechen. Aber das ist heute eine Minderheit. Als ich anfing, war es die absolut herrschende Meinung. Es gab in der Juristerei eine sehr lange Phase, in welcher der Umweltschutz und die Menschenrechte weit auseinanderlagen. Das hat sich geändert, spätestens seit die Uno den Zusammenhang zwischen Umweltschutz und Menschenrechten festgestellt hat. Wir haben im Moment unfassbar viel Bewegung in diesem Bereich. Auch die Unternehmen werden immer mehr in die Pflicht genommen. Sie müssen Umweltrechte und Menschenrechte wahren, genauso wie die Staaten.
Also hat der Einzelne ein Recht darauf, dass der Staat seine Grundrechte aktiv schützt?
Absolut. Es ist nur die Frage, in welchem Mass der Staat tätig wird und welchen Auslegungsspielraum er noch hat.
Sie waren an einer der wichtigsten Klimaklagen in Deutschland beteiligt – mit einem Ergebnis, das weltweit für Aufsehen gesorgt hat. Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat im Frühjahr 2021 die damalige Bundesregierung dazu gezwungen, ihr Klimaschutzgesetz zu überarbeiten, weil es nicht weit genug ging. Was genau kritisierten die Verfassungsrichterinnen?
Das Klimaschutzgesetz von 2019 war eine Reaktion auf massive Proteste vor allem der Fridays-for-Future-Bewegung. Es war nicht das erste, aber eines der weitreichendsten Klimaschutzgesetze in Europa, und es handelte sich um ein sogenanntes Rahmengesetz. Das heisst, da steht nicht drin, was genau man im Einzelnen tun will, sondern das Gesetz legte quantitative Ziele zur Emissionsreduktion fest. Diese Ziele waren aber nur für den Zeitraum bis 2030 näher definiert. Für die Zeit danach stand quasi nur, man solle irgendwie zur Treibhausgasneutralität kommen. Wir als Beschwerdeführer haben an diesem Gesetz gerügt, dass es im Grunde überhaupt keinen Schutzstandard enthält, weil es nichts darüber aussagte, wie viel noch emittiert werden kann.
Es ging ums CO2-Budget.
Ja, und das kann man entweder in Tonnen ausdrücken, oder man legt einen Reduktionspfad fest. Das Gericht hatte auf zwei Ebenen zu entscheiden. Zuerst: Sind hier die Schutzpflichten des Staates betroffen, die aus den Menschenrechten erwachsen? Da war die Antwort ja. Sind diese Rechte auch bereits verletzt? Da war die Antwort nein, und zwar ganz ausdrücklich: Sie sind noch nicht verletzt.
Und die zweite Ebene?
Da war die Frage: Was ist dann mit den Überemissionen, die möglich und also quasi erlaubt werden, weil nach 2030 nichts geregelt ist? Und an diesem Punkt hat das Gericht gesagt, es gibt Abwehrrechte zukünftiger Generationen, die jetzt schon geltend gemacht werden können, weil das Budget übernutzt wird. Das Gericht nennt das Intertemporalität: Man setzt an Freiheitsrechten an, die in der Zukunft unweigerlich eingeschränkt werden müssten, wenn wir jetzt zu stark übernutzen. Das ist ein ganz neues Konstrukt. Man macht geltend, dass das Erlauben von Emissionen eben auch ein Eingriff in die Freiheitsrechte ist – nämlich in die der künftigen Generationen.
Das heisst, im Grunde sagte das Bundesverfassungsgericht: Wenn zu wenig Emissionsreduktionen bis 2030 verordnet werden, bleibt zu viel von der Reduktionslast abzutragen im Zeitraum danach – und das ist mit den Rechten der Jüngeren unvereinbar.
Das war genau der Punkt. Neben der Tatsache, dass es einfach gar nicht geregelt war, was danach passiert. Das Bundesverfassungsgericht hat verstanden, dass es um ein Gesamtbudget geht und nicht um davon losgelöste Ziele bis zum Zeitpunkt X.
Was waren die entscheidenden Zahlen?
Das CO2-Budget ist letztlich eine Zahl, die der Weltklimarat IPCC ausgeworfen hat, und zwar schon lange. So richtig greifbar war das aber erst seit dem Bericht von 2018, der die Unterschiede zwischen 1,5 Grad globaler Erwärmung und einem 2,0-Grad-Pfad scharf herausgearbeitet hat. Seitdem gibt es also eine globale Zahl, die man auf ein CO2-Budget einzelner Nationen herunterrechnen kann. In Deutschland macht das insbesondere der Sachverständigenrat für Umweltfragen. Und dessen Gutachten hat das Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegt. Es hat gesagt: Wenn die Berechnungen des Sachverständigenrats schlüssig sind, dann ist das, was das Klimaschutzgesetz vorgesehen hat, völlig unzureichend – egal, ob ich nun beispielsweise mit einem 1,5-Grad- oder einem 1,7-Grad-Szenario rechne. Und daraus wurde die klare Botschaft: Die Reduktionslasten dürfen nicht willkürlich und unverhältnismässig in die Zukunft nach 2030 verschoben werden.
In diesem sehr komplexen Zusammenhang ist die rechnerische Grundoperation also vergleichsweise simpel: Es gibt ein Budget, es gibt zwei Zeiträume. Und das Gesamtbudget ist ungerecht verteilt auf diese beiden Zeiträume.
So kann man das sagen, ja. Aber dahinter stand vor allem die Überlegung, dass das Bundesverfassungsgericht nicht dem Gesetzgeber die Entscheidung vorgibt über das, was konkret zu tun ist. Die Frage, ob es ein eindeutig bezifferbares Budget gibt, hat das Gericht letztlich verneint. Die Botschaft war aber: Dieses Gesetz setzt den Grundgedanken eines Gesamtbudgets nicht um. Natürlich gibt es eine gewisse Unsicherheit, ob das Gesamtbudget für Deutschland nun 6,0 oder 6,8 Gigatonnen sind. Aber um die Grundrechte zu schützen, muss man sich eben an einem schlüssigen Budget orientieren. Das sagt das Gericht.
Trotzdem hat doch eine sehr konkrete Zahl im Prozess eine Rolle gespielt: die 6,7 Gigatonnen, die der Physiker Wolfgang Lucht als CO2-Budget der Bundesrepublik Deutschland berechnet hat – das, was Deutschland insgesamt noch verbrauchen darf.
Ja, diese Zahl stammt aus dem vorhin erwähnten Kurzbericht des Sachverständigenrats, und sie hat eine ganz wichtige Rolle gespielt. Sie hätte auch 6,5 heissen können oder 6,8. Entscheidend war, dass aus der globalen Zahl mit wissenschaftlich seriösen Methoden ein nachvollziehbares, schlüssiges Budget für die Bundesrepublik ermittelt wurde. Wegen der normativen Unsicherheiten hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt: Das ist es jetzt, es sind genau 6,7 Gigatonnen. Aber gar nichts zu regeln, was die Mengen angeht, das geht eben nicht. Und so war das Klimaschutzgesetz damals gestrickt.
Was geschah nach diesem Urteil? Ein festes Budget in Form einer Zahl ist auch im überarbeiteten Gesetz nicht definiert.
Es gibt im deutschen Klimaschutzgesetz keine Zahl. Aber zunächst einmal muss man sagen: Das war, glaube ich, die schnellste Gesetzesänderung, die es jemals gab nach einem Verfassungsgerichtsurteil. Ich habe auch noch nie gehört, dass ein Bundeswirtschaftsminister sich bedankt bei den Klägern.
Sie meinen den damaligen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier – den Minister, der die Klage verloren hat.
Ja, die Situation war absurd! Wirtschaftsminister Altmaier hat tatsächlich am Tag des Urteils getwittert, dass er sich freut über das Urteil. Meine Mandanten haben sich darüber unendlich aufgeregt, was ich gut verstehe. Das war schon fast zynisch. Als ob man ihn und seine Partei vorher daran gehindert hätte, irgendwas zu tun. Es gab jedenfalls eine Nachschärfung der Ziele, sowohl bis 2030 als auch für die Zeit danach. Der Zeitpunkt für die Treibhausgasneutralität in Deutschland wurde auf 2045 festgelegt. Ausserdem wurde zum ersten Mal eine Zielzahl für den Aufbau natürlicher Senken verankert. Seitdem verfehlen wir jedes Jahr die Ziele aus diesem Gesetz. Da fragt man sich: Wie kann das sein? So ein weitreichendes und viel beachtetes Paukenschlag-Urteil. Ja, und wo ist die Umsetzung?
Einmal abgesehen von der Umsetzung, die auf sich warten lässt: Kann wirklich jede einzelne Bürgerin einfach den Staat verklagen, weil ihr die Regierungspolitik nicht passt?
In Deutschland schon. Wer sich durch ein Gesetz in den Grundrechten verletzt sieht, kann sich ans Bundesverfassungsgericht wenden. Einfach ist das allerdings nicht. Mehr als 95 Prozent aller Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Und es ist absolut selten, dass aufgrund von Verfassungsbeschwerden Grundsatzurteile gefällt werden. Das Bundesverfassungsgericht macht keine Politik, das soll es auch nicht. Es übt seine Befugnis im Rahmen der Gewaltenteilung aus.
Welche Grundrechte können im Bereich des Klimaschutzes tangiert sein?
Weltweit machen wir Anwältinnen das Recht auf Leben und Gesundheit geltend. Ich habe auch schon das Recht auf Menschenwürde eingebracht, und zwar im Kontext eines ökologischen Existenzminimums. Jeder Mensch hat das Recht auf Lebensgrundlagen, die seine Menschenwürde bewahren. Aber nichts anderes zerstören wir mit dem Klimawandel. Es geht auch um die Berufsfreiheit oder um Eigentumsrechte. In den Klagen thematisieren wir oft die Generationen- oder Kinderrechte sowie das Recht auf Familie. Es geht um Grundrechte, die im weitesten Sinne mit der Integrität einer Person zu tun haben.
Wo sind all diese Rechte festgelegt?
Unter anderem eben im deutschen Grundgesetz und in der Europäischen Menschenrechtskonvention. In den Fällen, die derzeit vor dem Gerichtshof in Strassburg hängig sind, geht es hauptsächlich um die Achtung des Privat- und Familienlebens, die körperliche Integrität, um Kinderrechte oder ums Diskriminierungsverbot. Die beiden letztgenannten sind ein Thema bei einer Klimaklage portugiesischer Jugendlicher, Erstere sind relevant bei den Schweizer Klimaseniorinnen, die als besonders betroffene und vulnerable Bevölkerungsgruppe vom Schweizer Staat mehr Schutz vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen fordern.
Darauf müssen wir unbedingt noch näher eingehen. Zunächst aber: Welche bereits gesprochenen Klimaurteile sind aus Ihrer Sicht besonders wichtig für künftige Entscheide?
Der Urgenda-Fall aus den Niederlanden hat eine grosse Bedeutung. Es war die weltweit erste erfolgreiche Klimaklage gegen einen Staat. Urgenda ist der Name einer Umweltstiftung. Schon die erste Gerichtsinstanz hielt 2015 fest, dass die niederländische Regierung von Gesetzes wegen verpflichtet ist, die Menschen vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen – und ihre Klimapolitik zu verschärfen. Im Urgenda-Fall wurden viele Fragen geklärt, auch was die Anwendung der Menschenrechte und die wissenschaftlichen Grundlagen betrifft. Es ging um die Anwendung der Strassburger Rechtsprechung oder um die Frage, ob man gegen einen Staat klagen kann, der nur ein Prozent oder zwei Prozent des globalen CO2-Ausstosses verantwortet. Stichwort: Drop in the ocean.
Weitere Entscheide?
Es gibt ein neues Urteil aus Brasilien. Der oberste Gerichtshof hat festgestellt, dass das Pariser Klimaabkommen ein Menschenrechtsvertrag ist. Das ist deshalb wichtig, weil die brasilianische Regierung durch die Menschenrechte direkt verpflichtet wird. Solche Entscheide sind bahnbrechend und haben Wirkkraft – auf lange Zeit hinaus. Ein Urteil gegen Shell hat grosse Bedeutung, was die privaten Unternehmen betrifft: Ein Distriktgericht in Den Haag hat 2021 Shell dazu verurteilt, seinen globalen Ausstoss von Treibhausgasen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent zu senken. Das zeigt: Auch Unternehmen haben die grundlegenden Menschenrechte zu achten. Sie geniessen keine Sonderrechte, was ihre klimaschädlichen Emissionen betrifft. Ganz im Gegenteil.
Beeinflussen solche Urteile die Rechtsfindung in anderen Staaten?
Das Bundesverfassungsgericht hatte alle damals vorhandenen, wichtigen Klimaurteile übersetzt vorliegen, sie werden im Urteil mehrfach erwähnt. In den Ländern der EU gibt es ein Bestreben der obersten Gerichte, den Rechtsraum gemeinschaftlich zu prägen. Was die Schweiz betrifft, kann ich das hingegen schlecht beurteilen. Ich höre von meinen Anwaltskolleginnen, dass sich die Schweizer Gerichte von wegweisenden internationalen Klimaurteilen nicht beeindrucken lassen. Das ist eigenartig, denn wenn ich eine Auslegung vorzunehmen habe, gerade auf einer Grundrechtsebene, kann ich von den Ideen anderer Gerichtshöfe oder Verfassungsgerichte nur profitieren.
Dann lassen Sie uns auf die Schweiz schauen. Sie haben die Klage der Klimaseniorinnen bereits erwähnt. Wie sind Sie in den Fall involviert?
Nicht aktiv, ich beobachte ihn nur von der Seitenlinie und habe mich für mein Buch auch eingearbeitet. Der Fall der Klimaseniorinnen ist am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig, am 29. März findet eine Anhörung statt. Ich habe mich als Intervenientin offiziell eingebracht und eine Stellungnahme verfasst. Und ich werde bei der Anhörung vor Ort sein.
Was ist die Bedeutung dieses Falls?
Der Fall ist gut gewählt und gut begründet. Und ich glaube, die Chancen, vor dem Europäischen Menschengerichtshof zu gewinnen, stehen gut. Und zwar weil die Schweizer Gerichte aus meiner Sicht wirklich zu kurz gegriffen haben und weil die Schweiz im Vergleich sehr wenig aktiven Klimaschutz betreibt. Die Klimaseniorinnen sind der erste Fall in Strassburg, bei dem es um den Massstab für die Schutzpflichten eines Staats geht. Deswegen hat der Fall eine riesengrosse Bedeutung. Als ich das letztinstanzliche Urteil der Schweiz gelesen habe, dachte ich nur: Die müssen einen alternativen IPCC-Bericht gehabt haben! Ich weiss nicht, worauf sie sich wissenschaftlich gestützt haben. Die Begründung des letztinstanzlichen Gerichts ging so sehr an allem vorbei, was der Weltklimarat beschrieben hatte und von der Klägerschaft vorgetragen worden ist. Zu schreiben, man lehne die Klage heute ab, weil der Schweizer Staat noch so viel Zeit habe, um irgendwelche Massnahmen zu ergreifen – das kann man nicht rechtfertigen. Man kann sicherlich über das Schutzniveau streiten, aber die Art der Begründung des Bundesgerichts und der vorherigen Instanzen – das greift einfach zu kurz.
Die Schweizer Gerichte haben schlechter argumentiert als andere Gerichte, die ebenfalls ablehnend über Klimaklagen entschieden haben?
Absolut. Die EU-Gerichte haben sich allerdings auch nicht in der Sache geäussert. Das war auch sehr schwach.
Und die Schwäche der Argumentation im Fall der Klimaseniorinnen wird auf der Ebene des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kassiert werden?
Davon gehe ich aus. Deshalb glaube ich, dass der Gerichtshof der Klage der Klimaseniorinnen stattgeben wird.
Und dann?
Die Schweizerinnen haben am 25. November 2018 letztlich erklärt, dass sie einverstanden sind mit der Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rolle des Gerichts in Strassburg. Wenn die Schweiz also verliert, muss der Klimaschutz verbessert werden. Anders als in Grossbritannien diskutiert ja derzeit in der Schweiz niemand, ob man sich als Land aus dem Europarat zurückziehen möchte, damit man nicht mehr der Zuständigkeit des Strassburger Gerichtshofs unterliegt.
Die Klimaseniorinnen argumentieren, sie seien als ältere Frauen stärker von den Folgen des Klimawandels betroffen als der Rest der Bevölkerung. Interessanterweise werden also partikulare Interessen geltend macht, keine universellen. Funktionieren Klimaklagen nur so?
Man muss fast immer Partikularinteressen darlegen: Warum bin ich durch die Handlungen oder die Unterlassung einer staatlichen Stelle betroffen? Das ist die grundsätzliche Konstruktion in fast allen Rechtssystemen der Welt. Es gibt Menschen, die sind vom Klimawandel sehr wenig betroffen. Dazu würde ich mich persönlich zählen. Ich wohne im Norden Deutschlands, auf einem Sandhügel. Ich habe hier weder grössere Wetterextreme zu befürchten, die mich unmittelbar an Leib und Leben betreffen, noch wird mein Haus übermorgen oder in drei Jahren durch einen Anstieg des Meeresspiegels abgetragen. Es gibt aber Millionen von Menschen, bei denen das anders ist und die heute schon darlegen können, dass sie vom Klimawandel direkt betroffen sind. Dazu gehören die Klimaseniorinnen aus der Schweiz. Und dazu gehört auch meine Mutter.
Heisst das, wenn Sie persönlich diese Klage führen würden, würde sie nicht durchgehen, weil Sie in diesem Sinn nicht als Betroffene gelten?
Mit der besonderen Begründung, die die Klimaseniorinnen für ihre persönliche Betroffenheit genutzt haben, ist das so, ja. Ich habe aber Mandantinnen vertreten, die auf andere Weise betroffen sind. Man muss die Betroffenheit nachweisen können. Wer das nachweisen kann, ist eben betroffen – und es ist okay, zu klagen. Das muss ich immer wieder erwähnen, wenn mich Journalisten fragen, ob ich es nicht komisch finde, dass beim Klimaschutz die Gerichte entscheiden sollen statt nur die Politik. Dann sage ich jeweils: Was soll der Landwirt machen? Darauf warten, bis alles den Bach runtergeht? Der hat doch das Recht, ein Gericht anzurufen. Oft geht es wirklich um Leib und Leben und um die Gesundheit. Wie beispielsweise bei den Klimaseniorinnen.
Stösst Ihr Wirken als Klimaanwältin manchmal auf Unverständnis?
Aber selbstverständlich. Und das gilt für jedes Land. Es gibt immer Juristinnen, Journalisten oder Politiker, die sagen, die Klimaklagen seien eine Überforderung der Gerichte. Oder das Ganze sei eine rein politische, strategische Farce, um die Medien zu erreichen. Aber nochmals: Was sollen die Betroffenen denn sonst machen?
Klimasünder zur Verantwortung zu ziehen, ob es nun Staaten oder Unternehmen sind, ist das eine. Dass aber Klimaprotestierende sich juristisch verantworten müssen, etwas anderes. Was sagen Sie zur strafrechtlichen Aufarbeitung von Klimaprotesten?
In meiner Kanzlei verteidigen wir schon seit langem die verschiedensten Aktivisten; meist geht es um Umwelt- oder Tierschutz und um versammlungstypische Straftaten: Nötigung oder Hausfriedensbruch. Ich verteidige die Beschuldigten nicht selbst, habe aber damit zu tun. Ich finde, die Debatte wird falsch geführt. Wenn bei den Menschen die Verzweiflung ein derart grosses Ausmass annimmt, dass sie gesetzliche Grenzen überschreiten, dann muss das eine Gesellschaft aushalten. Die Strafgerichte müssen sich die Frage stellen, ob solche Proteste wirklich verwerflich sind – oder ob es nicht eine Art von Rechtfertigungsnotstand gibt.
Die Diskussion darüber wird emotional geführt.
Das Thema, ob bestimmte Gesetzesübertretungen durch den Klimanotstand gerechtfertigt werden können, ist nicht neu. Und es gibt durchaus Gerichte, die so entschieden haben. Auch in der Schweiz. In Grossbritannien wurden schon vor zehn Jahren Aktivisten freigesprochen – wegen des Klimanotstands. Die Beschuldigten hätten gehandelt, um ein berechtigtes Anliegen zu vertreten, entschied die Jury. Aber wir sollten uns weniger übers Strafrecht Gedanken machen als über die Krise selbst. Das ist in Deutschland in den letzten Monaten schiefgegangen. Auch in den Medien.
Wenn Sie in einer Kürzestfassung ein Plädoyer für den Klimaschutz halten müssten – wie würde es lauten?
Jeder Staat muss sich an ein schlüssiges CO2-Budget halten, das sich wissenschaftlich aus den Pariser Zielen ableiten lässt. Und jeder grosse Emittent muss das Gleiche tun. Wenn das alle täten, gäbe es keinen Konflikt mehr darüber, wer als Erstes tätig wird. Damit würde auch die Diskussion, ob in einem Land mehr getan wird als in einem anderen, versiegen. Und es wäre endlich das geschafft, was wir seit Jahren brauchen: die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrecht. Das würde mir sehr gefallen. Dann könnte ich mich vielleicht dem nächsten Thema zuwenden, der Biodiversität. Diese Krise gibt es nämlich auch noch.