Ich fordere, den Nachwuchs in Ruhe arbeiten zu lassen
Warum Unternehmen Berufseinsteigerinnen besser schützen müssen? Weil sie davon profitieren, logisch. Und noch wichtiger: weil es selbstverständlich sein sollte. Serie zum feministischen Streik, Folge 1.
Von Theresa Hein (Text) und Johanna Hullár (Bild), 12.06.2023
Erinnern Sie sich noch an Ihren Berufseinstieg? An das erste Praktikum, die ersten Wochen der Ausbildung, später den ersten festen Job?
Bei mir dauerte es etwas, bis mir auffiel, dass sich meine Erfahrungen beim Berufseinstieg von denjenigen der männlichen Ausbildungskollegen unterschieden. Erst im Gespräch mit anderen Frauen kam ich darauf, was es war: Ich war eine junge Frau.
Kurz vorweg: Ich habe das, was ich im Journalismus gelernt habe und immer noch lerne, Männern wie Frauen aller Altersgruppen zu verdanken. Junge Menschen brauchen erfahrenere Menschen, Mentorinnen und Mentoren, auf die sie sich verlassen können. Bei mir handelte es sich dabei um Personen, die nicht im Traum darauf gekommen wären, mich in eine unangenehme, unprofessionelle Situation zu bringen. Ich hatte Glück, oder den richtigen Instinkt für Menschen, denen ich vertrauen konnte. Warum das auch wieder ein trügerischer Gedanke ist, darauf komme ich noch.
Sexismus und die daraus resultierende Verunsicherung erlebte ich trotzdem zuhauf.
Serie zum feministischen Streik
Es ist wichtig, Probleme zu benennen. Noch besser ist es, Lösungen zu präsentieren. In der Woche des feministischen Streiks stellen sechs Republik-Autorinnen konkrete Forderungen. Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 1
Ich fordere, den Nachwuchs in Ruhe arbeiten zu lassen
Folge 3
Ich fordere eine feministische Internationale
Folge 4
Ich fordere, dass wir Care-Arbeit als Arbeit benennen
Folge 5
Ich fordere die Entzauberung der Kleinfamilie
Folge 6
Ich fordere, Werk und Künstler zusammenzudenken
Debatte
Was fordern Sie?
Mir fällt zum Beispiel der Tag ein, an dem in der Ressortküche eines grossen deutschen Nachrichtenmagazins vier Männer über fünfzig herumstanden, und ich (da war ich Praktikantin) hineinhuschte, um mir einen Kaffee zu machen. Als ich die Kaffeetasse in die Hand nahm, fiel mir der Löffel hinunter. Auf die Frage eines der Herren (im Wortlaut): «Willst du dich nicht bücken und den aufheben?», entgegnete ich verblüfft «Nein» und verliess mit extra geradem Rücken und unter Kichern die Kaffeeküche. Ich muss wohl kaum dazusagen, dass ich in anderen Situationen alle Dinge aufhebe, die mir herunterfallen, und ich keine Spur der Verwüstung hinterlasse. Aber hier wäre die Alternative gewesen, sich vornüberzubeugen, während um mich herum vier Männer stehen und dabei zusehen. Das ist ein Beispiel für Sexismus.
Oder der Moment, in dem ich herausfand, dass ein fast gleichaltriger Kollege mit gleichwertiger Erfahrung für einen Praktikumsplatz keine offizielle Bewerbung beim Teamleiter abgeben musste, ich dagegen schon. Den Begriff Buddytum und dass er auf diese Situation zutraf, lernte ich erst viel später. Das ist ein Beispiel für geschlechtsspezifische Diskriminierung.
Dazwischen Liebeserklärungen älterer Kollegen per Mail; Warnungen einer Sekretärin, man sei «genau der Typ» eines erfahreneren Kollegen und solle sich «in Acht» nehmen; das erprobte Im-Türrahmen-Verschwinden und Sich-überholen-Lassen, damit man einen bestimmten Kollegen auf dem Weg durch den Flur nicht hinter sich haben muss. Das ist verhältnismässig alles harmlos. Aber zusammengenommen ist es mental auch sehr viel mehr zu verarbeiten, als der männliche Ausbildungskollege an einem gewöhnlichen Praktikumstag einstecken muss.
Klingen diese Schilderungen für irgendjemanden nicht nach Sexismus, der nur daher stattfinden kann, weil er durch Kollegen und Vorgesetzte ignoriert, geduldet oder gar gedeckt wird – und daher dem entspricht, was man «strukturell» nennt? Ich fand damals weniger erschütternd, dass meine Freundinnen von ihren Ausbildungsstätten Ähnliches oder Schlimmeres berichteten. Es beruhigte mich vor allem.
Vor meinem Berufseinstieg fragte ich mich oft, ob «mein Fell» dick genug sei für die Arbeit. Ich war davon ausgegangen, man brauche eine gewisse Zähigkeit und Taffheit, um Konfrontationen mit komplizierten Gesprächspartnern zu meistern, die langen Arbeitszeiten, den Konkurrenzdruck. Das stimmt auch. Aber erst Jahre später, als ich mein «Fell» schon lange einfach an- und ablegen konnte wie ein Rapper seinen Pelz, wurde mir klar, dass die meisten Nerven nicht die Nachtschichten oder die schwierigen Gespräche mit sensiblen Quellen kosten. Sondern der Umgang mit dem Alltagssexismus, den man als Berufseinsteigerin erlebt.
Das Thema betrifft ausdrücklich nicht nur den Journalismus. Freundinnen, die in anderen Branchen arbeiten, in der Wissenschaft, in der freien Wirtschaft, berichten aus den ersten Berufsjahren ähnliche Dinge. Aber ich kann nicht für andere sprechen, sondern nur aus meiner Erfahrung, daher die Beispiele.
Sexismus und Diskriminierung bei jungen Berufseinsteigerinnen haben eine spezielle Dimension. Weil man unsicherer ist als jemand, der schon zehn oder zwanzig Jahre im Beruf arbeitet. Weil man sich meistens in einer offensichtlichen Konkurrenzsituation befindet. Weil der Wunsch, «gesehen zu werden», «es zu schaffen», Tür und Tor für Machtmissbrauch und Abhängigkeiten öffnet. Weil man sich durch ein befristetes Arbeitsverhältnis und einen lächerlichen Lohn oft in einer existenzbedrohenden Situation befindet.
Die Frage «Kann ich das, bin ich das, will ich das sein?» begleitet alle jungen Berufseinsteigerinnen, Männer wie Frauen. Sie wurde, zumindest in der Zeit, als ich angefangen habe, zu arbeiten – nicht vor sechzig, sondern vor sechs Jahren –, am Ende des Tages noch viel zu oft überlagert von der Frage: «Ist es den ganzen Mist wert?»
Viele Frauen schauen sich nach ein paar Jahren nach Arbeitsplätzen in einem angenehmeren Umfeld um. Zu Recht. Struktureller Sexismus zermürbt, verändert Menschen, zerstört Träume – und die haben junge Menschen erfreulicherweise noch zuhauf; also Vorstellungen, wie ein Traumjob aussehen könnte.
Das Schlimmste für die Unternehmen aus ökonomischer Sicht ist, und das haben sie, glaube ich, bis heute noch nicht zur Genüge verstanden, dass ihnen junge, ambitionierte Arbeitskräfte verloren gehen, wenn sich die Führungsebene nicht um Diskriminierung und Sexismus am Arbeitsplatz kümmert; sensible Kolleginnen, die für ein Arbeitsumfeld noch jahrelang besonders wertvoll sein können.
Und: Keine Berufseinsteigerin sollte, um mit einer schlechten Erfahrung umgehen zu können, zuerst so eine machen müssen. Genauso wenig darf es der individuellen Menschenkenntnis oder eben dem «Glück» überlassen sein. Das kommt einem Alleinelassen gleich.
Ich fordere, dass Unternehmen Vorgesetzte und Mitarbeitende umfassend schulen, und noch mehr: dass sie die Ohren aufsperren und hinhören, was auf dem Flur und in der Teeküche gesagt wird, und ein Bewusstsein für Sexismus nach innen entwickeln, eines, das über das Marketing eines Produkts hinausgeht.
Berufseinsteigerinnen müssen sich auf eine Nulltoleranzpolitik in Sachen Sexismus, Belästigung und geschlechtsspezifischer Diskriminierung verlassen können. Damit sie sich, wie ihre männlichen Kollegen auch, den Tag über auf das konzentrieren können, was sie zu Beginn ihrer Karriere und hoffentlich noch lange tun wollen: ihre Arbeit.
Die Bilder zur Serie zum feministischen Streik stammen von Johanna Hullár. Die gebürtige Budapesterin ist Fotografin und Videokünstlerin und lebt in Zürich. In ihrer Arbeit interessiert sich Hullár für «Verbindung, Intimität, Materialität, Zeit und Wahrnehmung», wie sie selber schreibt. Die Bilder hat Hullár für die Republik kuratiert, sie stammen aus diversen Projekten und Kollaborationen der Fotografin und sollen einen kunstvollen Blick auf Frauenanliegen eröffnen – der natürlich auch viel Interpretationsspielraum lässt. Mehr zu Johanna Hullár gibt es auf ihrer Website.
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