«Ein erneutes Scheitern ist schlicht und ergreifend verboten»
Wurden in der Klimapolitik dank der «grünen Welle» bei den nationalen Wahlen 2019 Fortschritte erzielt? Und was, wenn nach dem CO2-Gesetz auch der Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative bachab gehen sollte? Der Livemitschnitt einer Republik-Podiumsdiskussion zum Nachhören.
Von Marcel Hänggi, Melanie Mettler, Regula Rytz, Sonia Seneviratne (Gäste), Priscilla Imboden (Moderation) und Dennis Bühler (Text), 29.10.2022
«Grüne Welle», «Grünsonntag», «historischer Sieg»: Bei den eidgenössischen Wahlen vor drei Jahren waren die grüne und die grünliberale Partei die grossen Gewinner. Die eine hatte um 17 Nationalratssitze zugelegt – keiner anderen Partei war jemals zuvor ein grösserer Zuwachs gelungen –, die andere um 9 Sitze. Hoffnungen wurden wach, es werde in der Schweizer Klimapolitik nun schneller und nachhaltiger vorwärtsgehen.
Zwar konnten die beiden Parteien ihre Höhenflüge bei kantonalen Wahlen bis heute fortsetzen; an der Urne aber erlitten sie und ihre Mitstreiter im Sommer 2021 ein Debakel: Nach einer vergeigten Abstimmungskampagne scheiterte das neue CO2-Gesetz knapp.
Weshalb folgte auf das Hoch nur eineinhalb Jahre später das Tief? Ist mit dem vom Parlament kürzlich beschlossenen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative die neuerliche Kehrtwende gelungen? Und wie weit ist die Schweizer Politik eigentlich von ihrem Versprechen entfernt, das Pariser Klimaabkommen umzusetzen?
Diese Fragen diskutierten auf Einladung der Republik am Donnerstagabend in der Aula des ehemaligen Gymnasiums Progr in Bern folgende Gäste:
Marcel Hänggi, Journalist und Mitinitiant der Gletscherinitiative
Melanie Mettler, Vizepräsidentin und Nationalrätin der Grünliberalen
Regula Rytz, ehemalige Präsidentin der Grünen
Sonia Seneviratne, Klimawissenschaftlerin der ETH
«Die Einsicht, dass wir jetzt handeln müssen, ist im Parlament vorhanden», sagte Marcel Hänggi. «Es ist nur noch eine kleine Minderheit, die leugnet, dass wir ein Problem mit dem Klima haben. Aber es ist eben leider auch erst eine Minderheit, die die Dimension dieses Problems verstanden hat.»
Sonia Seneviratne gab zu bedenken, dass noch zu wenige grüne Politikerinnen im Parlament sässen, um wirklich etwas bewegen zu können. Dem pflichtete Regula Rytz bei: «Wir und unsere Verbündeten bräuchten 15 Nationalratssitze mehr.» Ein ungelöstes Problem stelle zudem der Ständerat dar, dem es in der aktuellen Legislatur an konstruktiven Brückenbauern fehle. Deshalb sei die Politik in Umwelt- und Klimafragen tatsächlich nicht so weit gekommen, wie sie sich dies nach den Wahlen 2019 erhofft habe, so Rytz. «Die verlorene Abstimmung über das CO2-Gesetz hat die Dynamik gestoppt.»
Erst eine Volksabstimmung, dann die Parlamentswahlen
Mit Blick aufs kommende Jahr zeigten sich dennoch alle vier Podiumsgäste zuversichtlich. Sofern das Referendum der SVP gegen den Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative wie erwartet zustande kommt, steht im Juni zunächst eine Volksabstimmung auf dem Programm. «Die Personen hinter der Gletscherinitiative haben seit Jahren professionelle Strukturen und eine grosse Glaubwürdigkeit aufgebaut», lobte Melanie Mettler. Auf dieser Basis lasse sich eine erfolgreiche Kampagne gestalten. Regula Rytz stellte derweil klar, dass ein neuerliches Scheitern an der Urne «schlicht und ergreifend verboten» sei. «Wir müssen nun vorwärtskommen, sonst wird es die Schweiz nie schaffen, das Pariser Klimaabkommen umzusetzen.»
Wissenschaftlerin Sonia Seneviratne schlug vor, im Abstimmungskampf auch gesundheitliche und finanzielle Argumente zu betonen. «Der Klimawandel ist eine enorme Gefahr für die Gesundheit – denken Sie nur schon an die Partikel in der Luft, die die Lunge schädigen. Wenn man keine fossilen Energieträger mehr verbrennt, lassen sich im Gesundheitsbereich erhebliche Kosten sparen.»
Im Oktober 2023 stehen dann die nächsten National- und Ständeratswahlen an. Angesichts der zahlreichen sich derzeit überlappenden Krisen – Energie, Krieg, Inflation – sind die Aussichten der grünen Parteien ungewiss (das jüngste SRG-Wahlbarometer attestiert der GLP weiteres Wachstum, während es die Grünen im Minus sieht). Trotzdem hoffen sowohl Mettler als auch Rytz logischerweise auf einen weiteren «Grünsonntag». Marcel Hänggi hingegen betonte, es sei mit der Wahl grüner Kandidatinnen nicht getan. Nachhaltig komme man in Klimafragen nur voran, wenn in einem Jahr in allen Fraktionen konstruktive Kräfte gestärkt würden.