Grünsonntag
Der Wahltag der grossen Überraschungen.
Eine Reportage von Andrea Arežina, Elia Blülle, Dennis Bühler, Anja Conzett, Bettina Hamilton-Irvine, Daniel Ryser (Text) und Goran Basic (Bilder), 21.10.2019
Dreissig Sekunden. Regula Rytz hat sich Kopfhörer übergestülpt und neben eine Radioreporterin gesetzt. Sie schaut geistesabwesend auf den Boden, reibt ihre Finger, streicht die Stoffhosen glatt. «Wir sind gleich auf Sendung», flüstert ein Techniker und kalibriert die Lautstärke.
Der Countdown läuft, es ist fast vier Uhr nachmittags, und im Volver, einem viel zu kleinen Café vis-à-vis vom Berner Regierungsgebäude, drängen sich sehr viele Journalisten um ein paar grüne Parteimitglieder. Einige Grüne haben die Hände gefaltet, als würden sie beten, andere halten die Faust vor den Mund – Spannung wie beim Penaltyschiessen an einem WM-Finale.
Noch dreissig Sekunden bis zur ersten Hochrechnung. Dreissig Sekunden bis zur Sprachlosigkeit, bis zum Kontrollverlust, bis zum Erdrutschsieg.
Vor vier Jahren waren die Grünen zu einer Schrumpfpartei geworden: Nur 7,1 Prozent Wähleranteil hatte die Partei holen können, so marginal wie die BDP. Und Regula Rytz musste sich die Frage gefallen lassen, ob es die Grüne Partei überhaupt noch brauche. Und jetzt das.
Die SVP verliert. Die SP verliert. Die FDP verliert. Die CVP verliert. Und die Grünen – gewinnen massiv. Der Raum explodiert. Fäuste fliegen in die Luft. Grünen-Präsidentin Regula Rytz verliert für ein paar Sekunden die Fassung, wird still, sucht irritiert die freie Sicht auf den TV-Bildschirm, und die sonst so kontrollierte Politikerin ist sprachlos.
Plus 5,6 Prozentpunkte. Die Zahlen werden im Laufe des Abends noch weiter steigen. Am Ende werden die Grünen 13,2 Prozent Wähleranteile haben. Ein Zuwachs von 17 Sitzen. Das hat es in der Schweiz noch nie gegeben.
Regula Rytz entfährt nur ein Wort: «Was?»
Der Sonntag der Superlative
Nicht nur für die Grünen bringt der Wahltag historische Ergebnisse.
Auch die Grünliberalen gewinnen und kommen im Nationalrat neu auf 16 Sitze – 4 mehr als in ihrem bisher besten Jahr 2011.
Die SP sackt ab und ist im Parlament so schlecht vertreten wie nie seit 1919. Jede zehnte SP-Wählerin wechselte zu den Grünen. Die FDP fällt mit 15,1 Prozent auf einen historischen Tiefststand zurück. Die SVP fährt das schlechteste Ergebnis seit 20 Jahren ein. Die CVP fällt hinter die Grünen zurück, ist nur noch fünftstärkste Partei. Die BDP – nahezu halbiert, sie hat keine Fraktionsstärke mehr.
Für Schweizer Verhältnisse ist es ein Wahlsonntag der Superlative.
«Darauf waren wir nicht vorbereitet», sagt BDP-Präsident Martin Landolt. «Damit haben wir nicht gerechnet», wird später auch die SP sagen. Dabei schien am Morgen die Welt für die Sozialdemokratinnen noch in Ordnung.
Tamara Funiciello sieht erstaunlich frisch aus, als sie um halb zehn Uhr schwungvoll auf den Hauptbahnhof Bern zusteuert. Dass sie noch eine Grippe auskuriert und am Abend vorher bis halb zwei Uhr an einer Juso-Party gewesen war, sieht man ihr nicht an. Sie wird noch einen langen Tag vor sich haben: drei Brunches, zahlreiche Interviews, am Abend an die Wahlfeier der SP. Zur Vorbereitung hat sie alle Stationen fein säuberlich in eine Excel-Liste eingetragen – mit Kommentaren und Telefonnummern.
Tamara Funiciello ist Migrantin, Feministin, Marxistin. Und ein beliebtes Feindbild, das vor allem den Hass vieler Männer auf sich zieht. Dabei habe sie gar nichts gegen Männer, sagt sie und witzelt: «Ich hätte kein Problem, ihnen 30 Prozent der Sitze im Nationalrat zu überlassen.» Das habe bisher für die Frauen ja auch gereicht.
Am Ende dieses Wahlsonntags werden die Frauen 42 Prozent aller Sitze gewonnen haben. Und obwohl die Sozialdemokraten im Kanton Bern 2 Sitze verlieren, wird Tamara Funiciello in den Nationalrat gewählt.
Die Parlamentswahl 2019 ist – wie von vielen erhofft – auch eine Frauenwahl.
«Wahlkrampf» bei der FDP
Matthias Leitner hingegen: ein geknickter Mann. Der Wahlsonntag ist auch ein Tag der Niederlage für die FDP. Und das schon früh am Nachmittag, als die Wahllokale erst seit zwei Stunden geschlossen sind. Leitner rechnet zu diesem Zeitpunkt mit einem Verlust von 5 Sitzen im Nationalrat – «ein regelrechter Tiefschlag, der extrem schmerzt». Am Ende kommt es nicht ganz so schlimm. Die FDP verliert 4 Sitze.
Zweieinhalb Jahre hat Matthias Leitner auf diesen 20. Oktober 2019 hingefiebert, seit drei Wochen vor Sorgen kaum mehr geschlafen – und dann beginnt der Tag mit einer Reihe von Hiobsbotschaften. Die Prognosen zeigen Sitzverluste im Aargau und in Appenzell Ausserrhoden, in Obwalden scheint die FDP chancenlos, im Kanton Zürich sehen die Hochrechnungen die GLP vor der FDP.
Auf zwei Etagen wuseln im Generalsekretariat in Bern drei Dutzend FDP-Mitarbeiter herum. Im fünften Stock füttern sie die Computer mit den neuesten Resultaten aus den Kantonen, eine Etage höher versucht Leitner als Chef des Strategieteams hinter seinem Stehpult den Überblick zu behalten. Alle neunzig Minuten verfasst er gemeinsam mit dem FDP-Kommunikationsteam einen Lagebericht, der an die gesamte Parteileitung verschickt wird; zwischendurch tauscht er sich in einem Whatsapp-Chat aus, der keinen passenderen Namen tragen könnte: «Wahlkrampf».
Die FDP, die noch vor einem guten Jahr als sichere Wahlsiegerin galt, gehört an diesem Sonntag eindeutig zu den Verlierern.
«Holy shit!», sagt Leitner, als er von den Zwischenresultate aus seinem Heimatkanton Graubünden erfährt. 90 Prozent der Stimmen sind ausgezählt: Die FDP gewinnt mit Anna Giacometti, einer Aussenseiterin, den vor vier Jahren verlorenen Sitz zurück.
Weitere Meldungen aus Graubünden treffen ein: Magdalena Martullo schafft die Wiederwahl problemlos. Heinz Brand nicht. 2011 war er in den Nationalrat gewählt worden. Damals schien es einen Moment lang so, als stünde ihm eine glänzende Karriere in der nationalen SVP bevor. Die Partei machte ihn zum internen «Asylchef», er verschaffte sich Respekt über die Parteigrenzen hinaus, kurz wurde er gar als Bundesratskandidat gehandelt. Doch mit der Wahl von Magdalena Martullo vor vier Jahren ging es rasch bergab mit Brand, dem tapferen Parteisoldaten und Hardliner mit dem Gemüt eines Beamten. Ihm blieb wenigstens ein Trost: Nächstes Jahr würde er Nationalratspräsident. Eher ein Würdentitel als ein Amt mit Einfluss, aber immerhin.
Daraus wird nichts. Brand erhält gestern eine letzte, harte Ohrfeige vom Bündner Stimmvolk.
Was das Rennen zwischen Martullo und Brand entschied: Martullo hatte rund 800 unveränderte Listenstimmen mehr als ihr Parteikollege. Heisst: Martullo ist nicht parteiextern gut gewählt worden – sondern parteiintern. Heisst: Nicht Graubünden hat Brand abgewählt. Sondern die SVP.
Ein Schock
Im «Hive», einem Zürcher Nachtclub, riecht es nach Rauch aus der Nebelmaschine. Bis um neun Uhr fand hier noch eine Party statt, verrät das Clubprogramm. Jetzt aber drängelt sich hier Politprominenz: Der ehemalige GLP-Präsident Martin Bäumle ist da, Laura Zimmermann, die Co-Präsidentin der Operation Libero, und Chantal Galladé, die ehemalige SP-Nationalrätin und heutige Schulpflegerin in Winterthur.
«Es war ein Schock», sagt GLP-Fraktionschefin Tiana Angelina Moser über den Moment, als sie um die Mittagszeit die ersten Hochrechnungen gesehen hatte. Moser steht an der Bar, hält ein Bier in der Hand. Sie ist umgeben von silbernen Discokugeln, von der Decke hängen Traumfänger aus Efeu herunter, und oberhalb eines grossen Spiegels schweben weisse Papp-Pilze. 15’000 Stimmen liegt Moser im Kanton Zürich hinter der grünen Ständeratskandidatin Marionna Schlatter. Wird Tiana Angelina Moser im zweiten Wahlgang nochmals antreten? Einen ersten Entscheid hat sie getroffen: «Im zweiten Wahlgang zwei Frauen, die ein ökologisches Profil haben, das geht für mich nicht.» Zieht sie ihre Kandidatur zurück? Spätestens Dienstagmittag wird man es wissen. Dann tagt die Geschäftsleitung.
«Gegen den Mist, der kommt»
«Ich bin weder enttäuscht noch begeistert», sagt Roger Köppel am späten Sonntagnachmittag im Treppenhaus des Walcheturms, dem offiziellen Medienzentrum des Kantons. Aus einer dunklen, kaum beleuchteten Ecke beobachtet Alt-Nationalrat Christoph Mörgeli das Interview, während er sich auf einem silbernen Stehtisch abstützt. Die Miene so dunkel wie das eigene Wahlresultat.
Köppel, der ohne weitere Bedenken seine Tour durch 162 Zürcher Gemeinden «Mein Wahlkampf» genannt hat, argumentiert jetzt mit Geschichtsbewusstsein: «Ich bin Historiker. Ich habe die Achtziger genau analysiert. Schon damals wollte man Tschernobyl dazu missbrauchen, uns eine marxistische Politik aufzuzwingen. Dagegen bin ich angetreten. Schon damals war die SVP die einzige Partei, die sich gegen den Klima-Marxismus gewehrt hat. Man hat uns heute den Absturz prophezeit. 5 Prozent oder mehr. Aber dieser Absturz ist nicht eingetroffen. Und diesen Absturz zu verhindern war das Ziel. Deswegen kann ich Ihnen heute nicht sagen, ob ein zweiter Wahlgang für mich Sinn ergibt.»
Später, bei seiner Ankunft im Restaurant Rössli in Illnau, wo sich die SVP zum Wahlfest trifft, versprüht Köppel weiter Optimismus. «Die grosse Tet-Offensive ist ausgeblieben», sagt er zum SVP-Kantonalpräsidenten Patrick Walder und betritt den Saal unter einer kurzen stehenden Ovation. Und wieder Mörgeli in der Pose des in dunklen Gedanken versunkenen Beobachters. Diesmal in einem dunkelroten Ledersessel. Beim versuchten Comeback chancenlos, ein Parteigeist aus der Vergangenheit. «Wir werden vier Jahre vermehrt Opposition machen müssen, Referenden ergreifen gegen den Mist, der kommt», sagt Mörgeli. «All die Massnahmen in der Energiepolitik, die unser Leben verteuern.»
Dann betritt Köppel die Bühne. «Im Stahlgewitter und im Kugelhagel der Medien haben wir das Steuer herumgerissen», sagt er, auf Ernst Jünger und dessen Berichte von der Front des Ersten Weltkriegs anspielend. Köppels «In Stahlgewittern» ist die einzige Rede des Abends (neben einer kurzen Eröffnung des Präsidenten Walder). Der «Weltwoche»-Verleger ist der Star in Illnau, offensichtlich der neue starke Mann in der Zürcher SVP – die Folge von 162 Auftritten im ganzen Kanton. «Wir hatten die ganzen Medien gegen uns, wir konnten den Abwärtstrend abbremsen», sagt er dann. «Die Modethemen sind gegen uns, aber wir werden ja sehen, ob die Erfolge der Grünen nicht schneller schmelzen als die Gletscher.»
Mit den Füssen im Wasser
Im FDP-Fraktionsbüro trifft sich FDP-Wahlkampfleiter Matthias Leitner um halb sechs Uhr mit Generalsekretär Samuel Lanz und Parteichefin Petra Gössi, um deren Positionen in der bevorstehenden TV-Elefantenrunde der Parteichefs zu besprechen.
Wird Grünen-Präsidentin Regula Rytz Anspruch erheben auf den Bundesratssitz des freisinnigen Aussenministers Ignazio Cassis? Das FDP-Trio ist sich unsicher.
«Wäre ich Parteistratege der Grünen, ginge ich auf tutti», sagt Leitner. «So könnte Rytz nicht nur uns, sondern auch die beiden grossen Wahlverliererinnen SP und SVP unter Druck setzen.»
Eine Cassis-Abwahl hält er dennoch für nahezu ausgeschlossen. «Die gewählten National- und Ständeräte wissen, dass sie in der Verantwortung stehen, das bewährte, stabile politische System des Landes nicht zu gefährden.» Erst wenn Grüne und Grünliberale ihre Erfolge in vier Jahren bestätigen sollten, könne man ernsthaft über eine Veränderung im Bundesrat diskutieren.
Die Elefantenrunde schaut Leitner fernab des Trubels auf seinem Mobiltelefon, ganz allein im Nationalratssaal sitzend. «Wir konnten den Schaden begrenzen», sagt seine Chefin Petra Gössi. «Auch die FDP steht mit den Füssen im Wasser, doch sind wir im Unterschied zur SP und zur SVP nicht von der grünen Welle überrollt worden.»
Es sind Sätze, die Gössi eineinhalb Stunden später an der FDP-Pressekonferenz eins zu eins wiederholen wird. Formulierungen, auf die sie sich mit Lanz und Leitner vorab verständigt hat. Der Wahlkampfleiter nickt zufrieden.
«Wahrscheinlich sind wir heute noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen», sagt Leitner, bevor er das Bundeshaus in Richtung Generalsekretariat verlässt. Mit einem Schmunzeln sagt er: «Wir haben unser ursprüngliches Wahlziel, die SP zu überholen, nur knapp verpasst.»
Leitner weiss natürlich, dass das eher am historisch schlechten Ergebnis der Sozialdemokraten liegt als am Erfolg des Freisinns. Galgenhumor als Ausflucht.
In Zürich geht um 20.34 Uhr eine Mail der SP Zürich bei ihren Parteimitgliedern ein. Die Absender sind «Priska» und «Andi», das Co-Präsidium der Kantonalpartei. Die Sozialdemokratinnen haben im Kanton Zürich ein schlechtes Resultat gemacht: minus 4,1 Prozentpunkte, zwei Sitze weniger im Nationalrat. Der Titel der Mail trifft die Stimmung in der Partei ziemlich gut. «Damit haben wir nicht gerechnet.»
Tamara Funiciello ist um diese Zeit schon an der Wahlfeier der SP Bern. Es ist klar, dass die Partei in ihrem Kanton 2 Sitze verlieren wird. Auch national gehört die SP zu den Verliererinnen: minus 2 Prozent Wähleranteil, 4 Sitze weniger im Nationalrat. Die SP stellt neu nur noch 39 Nationalrätinnen und Nationalräte.
An der Berner Wahlfeier begrüssen sich die Sozialdemokratinnen mit tröstenden Umarmungen. Man sagt «den Umständen entsprechend», wenn das Gegenüber nach dem Befinden fragt.
Tenor: Schade für die SP – aber immerhin verliert sie zugunsten der Grünen und nicht der SVP.
Für Funiciello bringt dieser Tag eine bittersüsse Mischung: Sie wird gewählt, trotz Sitzverlusten der SP im Kanton Bern; die Frauen legen im Nationalrat deutlich zu, aber ihre Partei macht gesamtschweizerisch das schlechteste Resultat seit 100 Jahren.
Wie besoffen
Regula Rytz schaut auf ihr Handy. SMS von Robert Habeck, dem Bundesvorsitzenden der Grünen in Deutschland. «Liebe Regula, Grossen Glückwunsch. Das habt ihr super gemacht!!», schreibt der Spitzenpolitiker. Eine Begleiterin von Rytz sagt, sie fühle sich wie besoffen, obwohl sie noch keinen Schluck Alkohol getrunken habe. Jemand wirft ein neues Resultat in die Runde, das erneut Jubelschreie auslöst: plus 3 Sitze in Zürich.
Junge Grüne tanzen vor dem Rathaus zu Tina Turner. Rytz greift nach dem Mikrofon: «Ich bin seit zwölf Uhr unterwegs und kann es immer noch nicht fassen. Alle fünf Minuten erfahre ich von einem neuen Sitzgewinn.»
Seit den letzten Wahlen hat keine andere Partei in den Kantonen so stark zugelegt wie die Grünen unter Regula Rytz. Sie wird als Bundesratskandidatin gehandelt; gilt als grosse Hoffnung der linken Politik. Ihr wird attestiert, dass sie «Allianzen schmieden» kann, wenn es sein muss auch mit SVP-Hardlinern wie Ulrich Giezendanner.
Der jüngste Erfolg täuscht darüber hinweg, dass ihre Ansagen oft verklausuliert daherkommen und sie selbst am erfolgreichen Wahltag in der Elefantenrunde die Forderung nach einem grünen Bundesratssitz dem SP-Präsidenten überlässt.
Rytz sagt, Lautstärke werde in der Politik oft mit Stärke verwechselt. Doch das habe sich geändert. Weibliche, junge, vernünftige Stimmen würden bevorzugt. Ihre Partei habe in den letzten Jahren 3000 Mitglieder gewonnen, die Jungen Grünen 1000 neue Mitglieder. Gestern löste sie ein Erdbeben aus.
«Bürgerlicher Aderlass»
Vor ein paar Monaten sagte Oskar Freysinger, SVP-Wahlkampfleiter für die Westschweiz, der Republik, er werde bald nach Island fliegen. Last Minute mit Easyjet. Flugscham? «Die können mich alle mal.» Er werde den Leuten in den nächsten Monaten schon noch die relevanten Themen eintrichtern: Rahmenvertrag! Rahmenvertrag! Rahmenvertrag!
Jetzt haben die Grünen sogar in Freysingers Wallis und auf Kosten der CVP erstmals in ihrer Geschichte einen Nationalratssitz geholt. Im Wahlblog der WOZ behauptet zudem der Politologe Werner Seitz in einer ersten Analyse, die SVP habe vor allem in der Westschweiz, Freysingers Zuständigkeitsbereich also, schlecht mobilisiert.
Der SVP-Wahlkampfleiter tobt, als er am Wahltag spätabends ans Telefon geht.
«Diese Lahmärsche im Waadtland – wie soll ich die denn bitte auf Vordermann bringen?», sagt er. «Bei den letzten Wahlen waren sie nahe am fünften Sitz, inzwischen haben sie sich komplett zerstritten und haben den vierten Sitz verloren. Wir haben dort einen Präsidenten, der kein Leader ist.»
Freysinger ist schockiert, dass Gewerbeverbandspräsident Jean-François Rime abgewählt wurde. «Die hatten eine grossartige Liste. Damit hätte ich nicht gerechnet. Dafür haben wir im Oberwallis geglänzt. Im Jura ebenfalls. So einseitig ist es also nicht. Angesichts der Riesenkampagne um das Klima, der Thunberg-Hysterie, haben wir das Maximum herausgeholt. Überall starrte einem Greta entgegen. Man machte den Benzindeckel auf: Greta! Wissen Sie was? In vier Jahren wird sich das rächen, wenn die sowieso schon verschuldete Mittelklasse diesen Wahlsonntag im Portemonnaie gespürt haben wird.»
Freysinger will nichts davon wissen, dass an diesem Sonntag vielleicht ja auch einfach ehrliche Sorgen von einem grossen Teil der Bevölkerung zum Ausdruck gekommen sind.
«Die Leute lassen sich manipulieren», diktiert er ins Telefon. «Wollen Sie wissen, was an diesem Sonntag zum Ausdruck gekommen ist?»
«Gerne.»
«In den letzten fünfzehn Jahren ist in den Schulen in Westeuropa der Intelligenzquotient im Schnitt um fünf Prozent zurückgegangen. In Ostasien hingegen hat er zugenommen. Wir schaffen uns ab. Die Kommunisten haben, kaum waren sie an der Macht, den Ausschank von Wodka massiv erhöht. Denn ein Volk von Alkoholikern ist einfacher zu regieren.»
«Sie wollen sagen: Wir sind alle dauerbesoffen?»
«Die Leute werden auf Grün geschaltet. Aber immerhin haben wir in der Schweiz noch den Föderalismus. Da ist Gleichschaltung nicht so einfach.»
In Illnau bei der Zürcher SVP steht Claudio Zanetti mit einem Glas Weisswein in der Hand im Garten des «Rössli». Der Twitter-Weltmeister und Trump-Fan aus Gossau wurde nicht mehr gewählt. Er sagt: «Die nächsten vier Jahre werden uns teuer zu stehen kommen.»
Es ist längst dunkel geworden, und Zanetti, in einem grünen Gartenstuhl lehnend, beklagt einen «bürgerlichen Aderlass». «Für mich geht die Welt nicht unter», sagt er. «Aber wenn ich darüber nachdenke, dass FDP-Kollege Hans-Ulrich Bigler abgewählt wurde, immerhin der Direktor des Gewerbeverbands, dann beschleicht mich das dunkle Gefühl, dass es das bürgerliche Lager nicht mehr gibt. Es ist ein Albtraum.» Er werde sich jetzt wieder vermehrt Mandaten widmen, sagt der Jurist. Und seiner Arbeit bei Star TV.
«Um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen», sagt er, und Alt-SVP-Kantonsrätin Theres Weber-Gachnang tritt an den Tisch und sagt, es sei eine Schande, Zanetti, so ein Chrampfer, einfach nicht mehr gewählt, und Zanetti sagt, ja, so sei das halt, wenn man sich eine eigene Meinung leiste. Immerhin sei die BDP untergegangen, wenigstens ein kleiner Trost an diesem Tag. Langweilig, aber tot. Und den Rest ertränkt er im Weisswein.