Obduktion einer vergeigten Kampagne

Das CO2-Gesetz hatte in Umfragen eine komfortable Mehrheit. Dann kam der Abstimmungskampf.

Von Elia Blülle und Constantin Seibt, 12.06.2021

Von fünf Abstimmungen dieses Wochen­ende sind vier praktisch entschieden. Eine steht auf der Kippe: das CO2-Gesetz.

Wie das? Nach einer Koalition von SP bis FDP, WWF bis Economie­suisse, nach einem Erdrutsch­sieg der grünen Parteien bei den Wahlen, nach energischer Unterstützung fast der gesamten Presse, nach den Klima­streiks und in einer Welt mit sich jagenden Hitze­rekorden – wie kann so eine Abstimmung nicht längst entschieden sein?

Und doch zeigten die Umfragen bei SRG und Tamedia nach anfänglichen 60 bzw. 54 Prozent Ja eine bröckelnde Zustimmung. Was zwar typisch für Initiativen, aber untypisch für Behörden­vorlagen ist. Zwar ist noch immer die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Gesetz angenommen wird, aber …

… laut ersten Meldungen ist die Stimm­beteiligung in den Städten miserabel, während sie auf dem Land boomt.

Was heisst: Verdammt.

Wie konnte man eine derart klare Sache nur vermasseln?

1. Die Schlafwagen-Strategie

Die Strategie der Befürworter, so ein Kampagnen­profi, war zunächst: im Schlaf­wagen zum Sieg rollen. Jede Debatte vermeiden, um sich nicht in Kontroversen zu verstricken.

Für die Strategie sprach das Virus. Der Abstimmungs­kampf war durch die Pandemie kurz, die Aufmerksamkeit fast voll auf das Virus gerichtet. Da lag es nah, keinen Lärm zu machen.

Tatsächlich gelang es den CO2-Kampagnen, das Thema so unemotional wie möglich zu halten. Sie setzten auf Symbole wie luftige Wegweiser oder ein baukasten­artiges Kreuz. Symptomatisch war ein Flyer, auf dem «für unser Klima, für unsere Zukunft» mit folgenden drei Argumenten geworben wurde: «Die Erdöl-Lobby darf nicht gewinnen», «Hier an unserer Zukunft bauen» sowie «Das Co2-Gesetz ist fair und sozial».

Im Bild: der Flyer (nicht im Bild: der verwirrte Betrachter).

Das war verwirrend. Noch verwirrender war die Wahl des Gegners. Sicher, die Erdöllobby hatte zusammen mit der SVP das Referendum ergriffen. Nur eignete sie sich nicht als Schurkin. Aus zwei Gründen:

  1. Die Lobby hatte bisher keine einzige Wählerin geärgert. Schlicht, weil niemand je von ihr gehört hatte. Und auch nie hören würde – denn sie trat im Abstimmungs­kampf nirgends auf.

  2. Nüchtern gesehen, war es ja gerade der Job der Erdöllobby, gegen ein Gesetz zu kämpfen, das auf die Abschaffung ihres Produkts zielte.

Im Grunde wäre jedes andere Sujet brauchbarer gewesen als die Öllobby: Das Bild eines brennenden australischen Waldes, der Schriftzug CO2 als weisse Fläche auf einem Rücken mit Sonnen­brand oder – wenn man schon die Öllobby angreifen wollte – das Porträt des saudischen Kron­prinzen Muhammad bin Salman.

Oder, warum nicht, das seines prominentesten Mord­opfers, Jamal Khashoggi.

Die Unauffälligkeit der CO2-Kampagne war umso frappanter, als es an Geld nicht fehlte. Das Berner Institut für Politik­wissenschaft ermittelte, dass zumindest bei Zeitungs­inseraten der Kampf um das CO2-Gesetz der zweit­teuerste seit Beginn seiner Messungen war. (Knapp hinter der Massen­einwanderungs­initiative.) Und dass die Befürworter mehr als doppelt so viel Inserate geschaltet hatten wie ihre Gegner.

Doch als die Gegen­kampagne plötzlich Tempo aufnahm, war es für eine Reaktion zu spät: Prominente Sportlerinnen wurden aufgefahren, Panik wurde verbreitet und der Slogan «Erdöl­lobby stoppen» wurde durch «Sieg der Erdöl­lobby droht!» ersetzt.

Kurz: Der Schlafwagen war eine riskante Idee. Denn politische Kampagnen schlafen anders als wir. Wenn der Albtraum kommt, können sie nicht mehr aufwachen.

2. Kollektive Verantwortungslosigkeit

Es gibt das Sprichwort: «Frei ist, wer mehr als drei Herren hat.» Und die traurige Ableitung daraus: Waise ist, wer mehr als drei Mütter hat.

Das CO2-Gesetz hatte zwar viele Befürworterinnen, aber keine einzige, die es als ihr eigenes Kind sah. Die Klimastreik-Jugend hielt es für Kosmetik, die SP und die Grünen für zu wenig radikal. Am ehesten Mutter des Gesetzes war die FDP, die im Parlament am längsten Hebel sass, also weitgehend die Schluss­fassung diktieren konnte. Doch die halbe Partei distanzierte sich vom Resultat.

Kurz: Breite Unterstützung ist eine gefährliche Sache. Denn breit ist oft das Synonym für dünn. Das CO2-Gesetz teilte das Los vieler Kompromisse zwischen mehr als drei Parteien: Es war für alle nur das Minimum. Sodass sich niemand zuständig fühlte.

Damit erlitt das CO2-Gesetz genau das Schicksal, das es eigentlich bekämpfen sollte. Es wurde ein Opfer des klassischen ökonomischen Dilemmas, dass bei öffentlichen Gütern die Maximierung des individuellen Nutzens zur gemeinsamen Katastrophe führt.

3. Im Bürgerkrieg

Das CO2-Gesetz trägt klar die Hand­schrift einer liberalen Partei:

  1. Kostenwahrheit. Das Gesetz verteuert Benzin, Ölheizungen, Flug­billetts – und setzt also auf das Verursacher­prinzip: Wer den Dreck macht, soll auch dafür bezahlen.

  2. Anreize statt Verbote. Durch steigende Kosten von fossiler Energie werden Verbraucherinnen dazu gebracht, in umwelt­freundliche Technologien zu investieren. Gleichzeitig werden alle, die nicht beteiligt sind, mit den Mehr­einnahmen unterstützt: durch tiefere Krankenkassen­prämien.

  3. Investitionen. Ein Teil des Geldes fliesst in einen Fonds zur Förderung grüner Technologie – einer der grössten Zukunfts­märkte. (Was auch die Strategie bei allen neuen Industrien in der Vergangenheit war: Die florierende Schweizer Elektro- und Maschinen­industrie etwa wurde im Ersten Weltkrieg durch massive direkte Staats­hilfen hochgezogen. Und durch noch weit gigantischere indirekte Investitionen: fürs Strom- und Eisenbahnnetz.)

Kurz – es ist ein lupen­reines Stück klassischer Liberalismus. Beziehungs­weise der Verrat an klassischem Liberalismus.

Die FDP vertrat beide dieser Auffassungen. Die Partei­spitze die eine, einige Partei­kader plus die Jung­liberalen die andere. Für sie hiess Liberalismus, dass der Staat nicht für Lösungen da war. Sondern als Problem.

Kein Wunder, zielten ihre Attacken auf den Innovations­fond – als künftige Brut­stätte für Markt­verzerrer, Parasiten und Bürokratinnen.

Zum Teil war das der gewohnte Show­kampf. Doch dieser wurde beim CO2-Gesetz speziell verbissen geführt. Aus zwei Gründen:

  1. Die Parteipräsidentin ist angeschlagen – und mehrere Herren kämpfen um die Beute.

  2. Aus Panik. Die Grün­liberalen sind zunehmend eine echte Konkurrenz. Was zur Frage führt: Sich Grün gegenüber annähern oder abgrenzen?

Dazu wurde von den Rebellen die Polemik angeheizt: Zwar hatten sich die FDP-Partei­mitglieder in einer Umfrage entschieden grün positioniert, nun aber lehnten laut Umfragen die FDP-Wählerinnen das CO2-Gesetz ab.

Das war nicht so überraschend: Fast immer sind bei politischen Kurs­wechseln die Mitglieder schneller als die Wähler. Aber die Rebellinnen nahmen die Umfragen als Beweis der ideologischen Verirrtheit der Partei­spitze. Grosser Lärm folgte.

In jedem Bürger­krieg sterben weniger die Milizen als die Zivilistinnen. Hier erwischte es das CO2-Gesetz.

4. Was grün ist, gehört in den Kompost

Bundesrätin Simonetta Sommaruga legte das CO2-Gesetz auf das gleiche Abstimmungs­datum mit der Pestizid- und der Trinkwasser­initiative. In der Hoffnung, dass das CO2-Gesetz quasi als Lokomotive auch die Initiativen nach oben mitreissen würde.

Nur waren beide Initiativen handwerklich schlecht: Die Verbote der Pestizid­initiative waren zu strikt. Und die liberalere Trinkwasser­initiative starb, als der Verband der Bio-Bauern sich gegen sie aussprach.

Beide Initiativen politisierten die Bäuerinnen – so stark, wie es selbst der Bauern­präsident Markus Ritter noch nie erlebt hatte. Auf dem Land sah man fast nur noch die Plakate der Gegner. Redner der Trinkwasser­initiative bekamen Mord­drohungen. Wer auf dem Land dafür war, hielt vorzugs­weise den Mund.

Der Zorn auf die verfluchten Umwelt-Städterinnen erwischte auch das CO2-Gesetz. Die Waggons rissen die Lokomotive mit.

5. Die Warnung

Im Grunde hätte die Pro-Kampagne nicht überrascht werden dürfen. Denn die Konstellation war bekannt.

2017 ergriff die SVP das Referendum gegen die «Energie­strategie 2050» – also den Ausstieg aus der Atomkraft. Der Abstimmungs­kampf endete mit einem Sieg für die grünen Technologien – mit 58,2 Prozent.

Dann begann der wirklich harte Kampf – die konkrete Umsetzung der Strategie in den Kantonen. Ziemlich oft kam es dabei zur gleichen Situation wie national beim CO2-Gesetz: Die FDP als Mehrheits­macherin sorgte für ein eher moderates Gesetz, das niemanden begeisterte.

Die SVP organisierte das Referendum. Das immer mit den gleichen Argumenten: Die Kosten für Benzin, Heizöl, Mieten, Liegenschaften würden explodieren. Und das als reine symbolische Schikane: Denn die Schweiz sei viel zu klein, um etwas gegen die Erderwärmung tun zu können.

Fast jede dieser Abstimmungen wurde extrem knapp. Nicht selten scheiterte das betreffende Energie­gesetz, wie etwa im letzten Herbst im Aargau mit 50,9 Prozent Nein.

Kurz, die SVP-Kampagne war nach so vielen Testläufen perfekt trainiert, motiviert, munitioniert. Die Pro-Kampagnen hätten wissen müssen, womit sie es zu tun bekommen würden.

6. Worum gings? Die Kostendebatte

In der Tat fluteten Zahlen die Debatte. Das Benzin werde 12 Rappen teurer. Das Leben eines Büezers – 2500 Franken pro Jahr. Die Kosten für Haus­besitzer? Locker 100’000 Franken.

Dazu zeigte die SVP plötzlich Talent für Klassen­kampf. Etwa mit dem Slogan «Fliegen nur noch für die Reichen?», illustriert durch zwei Fotos: einen champagner­trinkenden Hipster in der Businessclass. Und mit dem Bild von langen Kinder- und Eltern­gesichtern einer in ihrer Wohnung festsitzenden Mittelstandsfamilie.

Die Berechnungen der SVP blieben über Wochen hinweg fast unwider­sprochen. Kein Wunder, zog das Kosten­argument bis hinein in linke Kreise.

Erst nach und nach tröpfelten die Gegen­rechnungen ein: Der Hausbesitzer­verband hatte etwa getrickst, indem er alle möglichen Sanierungs­kosten auf das CO2-Gesetz schob, alle Umbau­subventionen vergass und ebenso die Einsparungen bei den Heizkosten.

Ein anderer Artikel rechnete nach, dass nach Annahme des Gesetzes die Veränderung für normale Familien lächerlich gering sei, die meisten aber ein paar Franken pro Jahr dazugewännen.

Eine weitere, nie populär gewordene Studie berechnete, dass bei der Flugticket­abgabe fast ausschliesslich die hohen Einkommen an die Kassen kämen – während 90 Prozent der Bevölkerung unter dem Strich profitieren würden.

Aber das alles prägte nie die Debatte.

Schon gar nicht zog das entscheidende ökonomische Argument – dass Investitionen gegen den Klima­wandel extrem rentabel sind:

  1. Weil die Schäden riesig sein werden – und Nichtstun eine extrem teure Sache ist.

  2. Weil CO2 zwar ein planeten­weites Problem, aber gerade dadurch auch eine planeten­weite Boom­branche ist. Die grösste Geld­verschwendung ist hier ebenfalls: nicht zu investieren.

Kurz: Die SVP schaffte, dass über Wichtiges geredet wurde – über Rappen statt über Milliarden.

7. Das Grundsätzliche

Was ist das Zentrale bei einer erfolg­reichen Kampagne? Die Antwort besteht, fragt man den Werbe­profi David Schärer, aus einem Satz: «Sie macht aus der Vorlage ein Grundsatzproblem.»

Die Gegenkampagne machte das: Die normalen Leute zahlen.

Die Pro-Kampagne machte es nicht. Dabei ging es um den Planeten.

Wahrscheinlich wäre die Kosten­debatte auch so unvermeidlich gewesen. Aber gewinnbar.

7.1. Durch Handwerk
Also die üblichen Tricks:

  • Grafiken, die den Gegnerinnen das Maul stopfen. Etwa, dass bei der Flugticket­abgabe 90 Prozent aller Leute profitieren.

  • Wenigstens ein paar professionelle Schlag­worte. Die SVP trat gegen «das missratene CO2-Gesetz» mit dem «Bürokratie­monster» und der «Kosten­bombe» an. Die Pro-Seite schlug zurück mit «Für Klima und Biodiversität» (Grüne), «Mehr Klima­schutz heisst mehr Innovation und Arbeits­plätze» (die bürgerliche Kampagne), oder «Mehr Klima­gerechtigkeit» (so der kommunistisch rote SP-Flyer).

  • Die richtigen Wörter. Wenn man im konservativen Lager punkten will, bedeutet ein Schlagwort wie «Gerechtigkeit» schon Game over. Mit «Fairness» bleibt man im Geschäft.

  • Argumente, die im Mittel­land verstanden werden. Etwa: «Wer die Umwelt vergiftet, soll einen kleinen Teil der Kosten eigen­verantwortlich tragen. Drum eine moderate Abgabe auf fossiler Energie.» Oder: «Wer normal lebt, bekommt Geld zurück, wer viel rumjettet, zahlt drauf – faire Rechnung statt Giesskannen­prinzip.» Oder noch kürzer: «Wer dreckelt, soll zahlen.» (Mit Dank an Olivia Kühni, Wirtschafts­reporterin und Mittelland­spezialistin der Republik.)

7.2. Durch Haltung
Mut überzeugt nicht die andere Seite, aber wenigstens die eigenen Leute.

So hätte es zur SVP-Portemonnaie-Debatte ein paar Dinge zu sagen gegeben:

  • Zu Subventionen I: Keine neue Industrie ist je ohne Subventionen gebaut worden. Punkt.

  • Zu Subventionen II: Der Bund fördert seit Jahrzehnten Haus­besitzer durch Subventionen, Infrastruktur und Steuer­abzüge. Wird von ihnen eine winzige Gegen­leistung verlangt, wird gejammert. Glauben sie da im Ernst, dass sie immer nur profitieren können?

  • Zum Portemonnaie: Ja klar werden Flüge, Öl und Benzin teurer. Das ist ja auch der Sinn einer Lenkungs­abgabe. Dass das Richtige nicht aus Moral gemacht werden muss. Sondern weil es sich lohnt.

  • Zur Marktfreiheit: Es kann nicht angehen, dass ganze Branchen – etwa Ölindustrie, Pestizid­hersteller, Grossbanken – das Geschäfts­modell haben, dass die Steuer­zahler gratis die Folgen ihrer Geschäfte aufräumen.

  • Dazu, dass alles nichts bringt, weil die Schweiz zu klein ist: «Ich bezahle durchschnittlich 70’000 Franken Steuern pro Jahr und trage so 0,01 Promille zum Steuer­aufkommen des Kantons Bern bei. Wieso bezahle ich das? Bin ich doof?» (So neulich in der Republik der Klimaforscher Thomas Stocker.)

7.3. Durch Neugier
Wie kann das moderate CO2-Gesetz so unter Wasser kommen? Im gleichen Land, in dem wenige Monate davor die weit radikalere Konzern­verantwortungs­initiative das Volksmehr schaffte?

Okay, die Kampagne zur Konzern­verantwortungs­initiative hatte weit mehr Zeit: Sie lief über Jahre. Die CO2-Kampagne hatte nur drei Monate.

Doch der echte Vorteil war, so Oliver Classen, Sprecher von Public Eye, dass das Thema neu war. Es war noch nicht lange her, als man entdeckt hatte, dass die Schweiz das Zentrum des weltweiten Rohstoff­handels war. Deshalb hatte die Initiative auch eine Menge Stoff zum Erzählen. Und eine verblüffende Botschaft: Welch unerwartet langen Hebel die Schweizer Bevölkerung zur Regulierung von Geschäfts­praktiken auf der halben Welt hat.

Dagegen ist das Problem CO2 schon seit 30 Jahren ungelöst. Alles scheint gesagt.

Doch, genau besehen, so Classen, hätte man mit etwas Mut auch durchaus Dinge einarbeiten können, die während der Kampagne auf dem Weg passierten. Allein am 26. Mai 2021 passierten drei weltverändernde Dinge:

  1. Ein niederländischer Richter zwang den Ölmulti Shell, seine Geschäfts­strategie radikal zu ändern. Er verurteilte Shell, seine CO2-Emissionen bis 2030 um 45 Prozent zu senken – weil die Erderwärmung den Niederlanden enormen Schaden zufüge. Zum ersten Mal haftet damit ein multi­nationaler Konzern für CO2-Emissionen. (Hier ein Interview der NZZ mit Roger Cox, «dem meistgehassten Anwalt der Unternehmenswelt».)

  2. Mit 61 Prozent der Stimmen widersetzten sich die Aktionärinnen des Ölkonzerns Chevron dem eigenen Verwaltungs­rat und verlangten vom Konzern eine substanzielle Senkung des CO2-Ausstosses.

  3. Gleichentags wählten die Aktionäre des Ölmultis Exxon Mobil ebenfalls gegen den Widerstand der Firmen­spitze zwei neue, umwelt­freundliche Mitglieder in den Verwaltungsrat.

Das heisst: Plötzlich sieht dieses Land sehr alt aus. Während die restliche Welt so aussieht, als wären Konzern­verantwortungs­initiative und CO2-Gesetz gleichzeitig angenommen worden.

Es hätte also durchaus Storys zu erzählen gegeben, die aktueller gewesen wären als die, ob das Benzin wirklich 12 Rappen teurer wird.

Kurz: Die Kampagnen haben es vermasselt.

8. Gegenthese: Eine Kampagne verändert fast nichts

Fragt man den Politologen Claude Longchamp, sind die Umstände für ein Abstimmungs­resultat weit wichtiger als die Qualität der Kampagne. In der Tat ist sensationell wenig Neues passiert:

  • Die Stimmen­verteilung im National­rat war beim CO2-Gesetz fast identisch wie bei der Abstimmung zur «Energie­strategie 2050».

  • Die Ausgangs­lage implizierte nie einen erdrutsch­artigen Sieg. Eher ein 60/40-Szenario.

  • Die kantonalen Abstimmungen über die Energie­gesetze zeigten, dass die SVP mit der Kosten­debatte eine wirksame Angriffs­waffe hat.

  • Andererseits hat das CO2-Gesetz ein weit positiveres Medien­echo als damals die Energie­strategie. Was eher für einen Erfolg spricht.

  • Die politischen Fronten lagen damals exakt genau so wie heute, mit Ausnahme der Wirtschafts­verbände Economie­suisse und der Swissmem, die damals ein Nein und heute ein Ja empfahlen.

  • Die Pro-Contra-Verteilung innerhalb der Wähler­schaft der einzelnen Parteien bei den Umfragen 2021 sind fast aufs Loch gleich wie 2017: bei FDP, SVP, CVP, SP, Grünen.

Kurz: In den letzten vier Jahren ist der Kern des politischen Betriebs bemerkens­wert stabil geblieben. Was heisst, dass nichts so wild ist, wie es aussieht: Die FDP etwa war 2017 genauso gespalten wie heute.

9. Coronapolitik

Nur eine einzige Gruppe hat ihre Haltung signifikant geändert: die parteilosen Wählerinnen. Sie sind beim CO2-Gesetz wesentlich skeptischer als bei der Energiestrategie.

Der Faktor, der die Meinungen gekehrt hat, liegt – so Longchamp – auf der Hand: das Coronavirus. Die parteilosen Wähler sind heute wesentlich politik-, beamten-, wissenschafts­kritischer als früher.

Man sah das im Kleinen, als der ETH-Professor Reto Knutti, eine weltweit anerkannte Autorität der Klimaforschung, das SVP-Klimapapier auseinandernahm. Und der SVP-Nationalrat Christian Imark ihm kühl in einem anderen Medium antwortete: «Sie sind ein Aktivist.»

Man sieht es im Grossen: Traditionell haben Behörden­vorlagen wie das CO2-Gesetz Rücken­wind. Doch jetzt nicht mehr. Im Gegenteil herrscht Skepsis – gegen­über allem, was den Status quo bedroht. Speziell gegenüber teuren Vorlagen: Das Kinder­geld der CVP wurde locker abgeschmettert, die Kampf­flieger der Armee kamen nur mit einem Zufalls­mehr von 50,1 Prozent durch.

Mitte-Links ist damit plötzlich wieder referendums­fähig – solang es um Ausgaben geht.

Der grüne Wahlsieg hingegen existiert nur noch in den Köpfen der Sieger; auf der rechten Seite geht es um den Kampf, den eigenen Wohl­stand zu verteidigen.

Was heisst: Der Graben ist noch einmal tiefer geworden. Hört man Parlamentarierinnen zu, ist die Achtung vor dem Handwerk brutal geschrumpft – man sah es bei den wirren Eingaben zu Covid-19.

Gefragt ist immer öfter: die glasklare Position. Ideologie tarnt sich als Transparenz. Verhandlungen hinter den Kulissen gelten mehr und mehr als Verrat am Wähler­willen. Die Verachtung für das politische Handwerk macht Kompromisse weit schwieriger, weil präzis gebaute Vorlagen nicht mehr überzeugen.

Wie tief der Graben geht, sieht man in der FDP, wo die Gegner des liberalen CO2-Gesetzes schlicht behaupten, es sei das Gegenteil von liberal.

Kurz, das CO2-Gesetz läuft hier gleich doppelt gegen den aktuellen Zeitgeist: wegen der Kosten. Aber auch, weil viele Wählerinnen dem Staat nicht mehr zutrauen, kompetente Lösungen zu finden.

10. Politik der Kluft

Gut möglich, dass das Gesetz angenommen wird. Dann denkt am Montag danach niemand mehr an die Kampagne. Doch ebenso ist es möglich, dass am selben Montag die Schweiz plötzlich die Nation sein wird, die gerade in wenigen Wochen die Brücken zur EU und zum Klima­abkommen verbrannt hat.

Sie hat kurz geschlafen. Und wacht auf als Vorbild aller Rechtsnationalen.

Klar ist nur, dass man sich in einer polarisierten politischen Landschaft keine Schläfrigkeit leisten kann. Die Politik wird amerikanischer – nicht nur im Stil, sondern auch in Höhe des Einsatzes. Wie schon bei der Massen­einwanderungs­initiative ist die Stimm­bevölkerung oft 50/50 geteilt – und die hauch­dünne Mehrheit stellt dann die Weichen für eine deutlich andere Zukunft.

Denn bei zwei Lagern existiert so etwas wie eine selbst­verständliche Vorlage nicht mehr. Was passiert, ist vor allem eine Frage der Mobilisierung. Etwa dieses Wochenende beim CO2-Gesetz.

Wer nicht kämpft, wird überrollt.