Denn sie wissen nicht, was sie unterzeichnen

Ein Komitee von Juristen hält die Zertifikats­pflicht für verfassungs­widrig und argumentiert in einer Deklaration mit Halbwahrheiten und Fehlinformationen. Unterzeichnet haben auch namhafte Rechts- und Staatsanwältinnen. Warum bloss?

Von Ronja Beck, 04.02.2022

Eine Unterschrift ist leicht gesetzt. Ein hastiger Krakel genügt. Und nicht immer schaut man sich genau an, was man da eigentlich unterzeichnet. Als ich vor einiger Zeit ein Paket ins Ausland schicken liess, reichte mir der Postbeamte einen Stapel Papiere. Ich kritzelte meinen Namen hin. Ohne Zögern. Vielleicht habe ich damit meine Seele verpfändet, wer weiss. Das Paket jedenfalls kam nie an.

Es gibt Momente im Leben, da überlegt man sich besser zweimal, ob man etwas mit seinem Namen quittieren soll. Um so einen Moment geht es hier. Eigentlich.

Trotz der délicatesse der Angelegenheit haben zahlreiche Rechts­gelehrte in der Schweiz, darunter bekannte Straf­verteidiger und Staats­anwältinnen, ein Schreiben unterzeichnet, von dem sie weder gewusst haben wollen, in welchen Kreisen die Verfasser zirkulieren, noch, was da genau stand.

Es geht, natürlich, um Corona.

Über die Weihnachts­tage – die Hospitalisierungs­zahlen in der Schweiz sind seit Wochen wieder auf hohem Niveau, und die neue Variante Omikron ist auf dem Vormarsch – hat eine Gruppe, die sich «Juristen Komitee» nennt, einen offenen Brief an die Präsidentinnen von National­rat und Stände­rat veröffentlicht. In der Deklaration wird die 2G-Regel, also die Zutritts­beschränkungen für Ungeimpfte in der Schweiz, als verfassungs­widrig bezeichnet. Die Autoren fordern den Bundes­rat auf, sich festzulegen, wie er «die verfassungs­mässige Grund­ordnung» wieder­herstelle, und zu erklären, welchen Nutzen eine Zertifikats­pflicht habe.

Die Verfasser unterfüttern die angeprangerte Verfassungs­widrigkeit über 11 Seiten hinweg mit zahlreichen Argumenten. Nur ein kleiner Teil davon ist juristischer Natur.

Zum grössten Teil befasst sich das Schreiben mit zentralen Elementen dieser Pandemie wie der Überlastung der Spitäler, der Übersterblichkeit, der Rolle der Ungeimpften. Mit zahlreichen Quellen und einer eigens angelegten Statistik wollen die Autoren belegt sehen, dass Bundes­rat und Behörden mit ihren jüngsten Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung masslos übertrieben. Es sei «nicht eine einzige Voraus­setzung für die Einführung eines so rigiden und hochgradig diskriminierenden Regimes gegenüber rund zwei Millionen in der Schweiz lebenden Menschen erfüllt», schreiben sie.

Eine Journalistin der NZZ urteilte, das Komitee sorge mit der Deklaration für «willkommene Frischluft».

Die Frage, welche Grund­rechte in dieser Pandemie eingeschränkt werden und ob diese Einschränkungen verhältnis­mässig sind, ist berechtigt. Die Pandemie ist eine ausser­gewöhnliche Situation, die zu ausser­gewöhnlichen Einschränkungen führt. Nicht in jedem Fall waren diese Massnahmen legitim, fand etwa das Bundes­gericht zum Entscheid der Berner Kantons­regierung, Demonstrationen in Bern nur noch für maximal 15 Personen zuzulassen.

Die Frage ist bloss, mit welchen Argumenten die Einschränkungen kritisiert werden. Das «Juristen Komitee» hat sich für einen kreativen Weg entschieden. Einen, der oft an den Tatsachen vorbeiführt.

Alles normal im Spital?

Da ist zum Beispiel die Sache mit den Spitälern. Das «Juristen Komitee» schreibt, diese seien in dieser Pandemie nicht überlastet gewesen.

Die Autoren führen aus: Es sei kein Problem, dass am 15. Dezember 2021 die Spitäler zu mehr als 80 Prozent (über ein Drittel davon Covid-Patienten) ausgelastet waren. Denn «eine Freiquote von ca. 20 Prozent» deute bei Intensiv­stationen «auf eigentlichen Normal­betrieb hin».

Der angebliche «Normal­betrieb» steht im Gegensatz zu vielen Aussagen aus den Schweizer Spitälern und ignoriert die stille Triage und die Tausenden verschobenen Operationen, um Platz auf den Intensiv­stationen zu schaffen. Dass Covid-19-Patientinnen ein Intensiv­bett über­durchschnittlich lange besetzen und dabei überdurchschnittlich viel Personal beanspruchen und die Spitäler damit über­durchschnittlich stark belasten, bleibt ebenfalls unerwähnt.

Die harte Währung in der Debatte um die Auslastung der Spitäler ist aber ohnehin nicht die Zahl der freien Betten, sondern das verfügbare Gesundheits­personal. Weil viele Pflegende in Quarantäne oder Isolation müssen, stossen die Kliniken schneller an ihre Kapazitäts­grenzen. Weil das Personal zudem erschöpft ist und viele ihren Job an den Nagel hängen, mussten gemäss einer Hochrechnung der Republik rund 10 Prozent der zertifizierten Intensiv­betten in der Schweiz geschlossen werden.

Aber, aber, aber … die Geimpften!

Apropos Spitäler: Es seien, führt die Deklaration weiter aus, «keineswegs die Ungeimpften, welche im Übermass für eine Auslastung des Gesundheits­systems sorgen». Hintergrund dieser Aussage: Zwischen Mitte November und Mitte Dezember 2021 sind fast gleich viele Geimpfte wie Ungeimpfte an Covid-19 verstorben.

Nur sagen diese Zahlen in Wirklichkeit nicht das, was die Juristen behaupten. Der Fehlschluss nennt sich Prävalenz­fehler. Ein Beispiel anhand der Alters­gruppe, in der die meisten Todes­fälle verzeichnet werden, nämlich bisher rund 90 Prozent: die über 70-Jährigen. Unter ihnen ist lediglich ein einstelliger Prozent­satz nicht geimpft. Die Prävalenz der Geimpften in dieser Alters­gruppe ist also sehr hoch. Und dennoch sterben in der winzigen Gruppe der ungeimpften über 70-Jährigen in dem genannten Zeitraum etwa gleich viele Menschen wie bei der sehr viel grösseren Gruppe der geimpften Personen.

Betrachtet man also die verstorbenen Geimpften und Ungeimpften relativ zu ihrer Gesamt­population und nicht bloss in absoluten Zahlen, lasten die Ungeimpften die Spitäler übermässig aus.

An anderer Stelle begehen die Autoren denselben Fehler und behaupten tatsächlich, Geimpfte hätten gar «ein erhöhtes Risiko», an Covid zu sterben. So würden die Geimpften gemäss Daten aus England schliesslich acht von zehn Todes­fällen stellen. Die Quelle: ein anonym verfasster Beitrag auf einem Blog, der regelmässig krude Verschwörungs­theorien zur Pandemie verbreitet. Der Blog veröffentlichte die Behauptung immer wieder aufs Neue. Wahr wurde sie deshalb nicht.

Warum hat das «Juristen Komitee» diesen Fehler begangen? Aus Unbedarftheit? Unwissen? Absicht?

Es ist jedenfalls nicht die einzige Falsch­aussage in der Deklaration.

So wird an anderer Stelle behauptet, die offiziellen Fallzahlen seien als Messgrösse «völlig wertlos», weil die PCR-Tests nicht taugten. Das behaupte selbst die Welt­gesundheits­organisation (WHO). Als Quelle dient ein WHO-Dokument, das in der «Querdenker»-Szene zirkuliert, aber falsch interpretiert wird, wie eine WHO-Sprecherin für einen Fakten­check des Recherche­netzwerks Correctiv richtig­stellte: «PCR-Tests sind verlässlich.»

Wenn dann an einer anderen Stelle der Erklärung des «Juristen Komitees» die Behörden aufgefordert werden, das Entwurmungs­mittel Ivermectin als «medikamentöses Frühbehandlungs­protokoll» zu propagieren, «statt erkrankte Menschen einfach unbehandelt in Isolation zu stecken», obwohl es keine stichhaltige Evidenz dafür gibt, dass Ivermectin bei Covid-19 helfen würde, wie der Hersteller selbst meldete; wenn dann weiter auf die «Great Barrington Declaration» verwiesen wird, die Schutz­massnahmen einzig für Risiko­personen vorsieht, ein Konzept, das von der WHO und führenden Fachexperten als unethisch, gefährlich oder als von Pseudo­experten verfasster Blödsinn bezeichnet wird – wenn nun all diese Dinge zu dem Vorher­gegangenen dazu­kommen, dann muss das in der Frage gipfeln:

Wer zum Geier hat diese Deklaration eigentlich verfasst?

Hinter der Kulisse

Auf meine erste Mail antwortet das Komitee zügig und freundlich: Haupt­autoren der Deklaration seien Philipp Kruse und Markus Zollinger, mit Unterstützung einer «wissenschaftlichen Mitarbeiterin aus dem Medizinal-/Pharma­bereich», die ohne Namen bleibt. Kruse und Zollinger sitzen im inzwischen fünfköpfigen «Committee Board» des «Juristen Komitee». Man findet sie auf der Website.

Was man nach kurzer Recherche ebenfalls findet: Philipp Kruse und Markus Zollinger pflegen enge Verbindungen zu massnahmen­kritischen Gruppierungen. Kruse, Steuer­anwalt in Zürich, sitzt im Beirat der «Freunde der Verfassung». Er ist wiederholt an Corona-Demonstrationen als Redner aufgetreten. In der Pandemie hat er sich einen Namen gemacht als Fürsprecher für Eltern, die sich gegen die Masken­pflicht an den Schulen zur Wehr setzen. Dieser Kampf hat ihn bereits bis vor Bundes­gericht geführt – erfolglos. In einem auf Youtube veröffentlichten Gespräch von vergangenem Frühling mit Michael Bubendorf, damals noch Vorstands­mitglied der «Freunde der Verfassung», bezeichnet Kruse Anpassungen im Covid-Gesetz als «Basis für ein Apartheid-System»; in seiner 1.-August-Rede spricht er von einem sich nähernden «kollektiven Notwehr-Zustand».

Markus Zollinger ist ehemaliger Assistenz­staatsanwalt in Zürich. Seine Stelle hat er vergangenes Jahr gekündigt, als er – gemäss eigenen Aussagen wegen interner und öffentlicher Posts, in denen er die Massnahmen kritisierte – nicht zum Staats­anwalt befördert wurde. Nach seiner Kündigung outete er sich als Vorstand bei «Wir für Euch», einer Gruppe von massnahmen­kritischen Polizisten. Der Verein wurde vergangenen Herbst mit einem fragwürdigen Video bekannt.

Konfrontiert mit dem Vorwurf, dass sie in ihrer Deklaration Halbwahrheiten verbreiteten, halten die beiden Autoren in einer 14-seitigen Stellung­nahme an ihren Darstellungen fest. Die Stellung­nahme haben die Autoren zudem – inklusive meiner Mail­anfrage – gleich selbst, und ungefragt natürlich, auf ihrer Website veröffentlicht und allen zugeschickt, die die Deklaration unterzeichnet haben.

So viel zur Deklaration. Damit endet die Geschichte.

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Damit endet sie natürlich nicht.

Über 300 Juristinnen haben die Deklaration nämlich mit Rang und Namen unterzeichnet. Aber haben sie auch gelesen, was genau sie da unterzeichnet haben?

«Scheibe, das ist nicht gut»

In der langen Liste findet sich zum Beispiel der Name Ursula Uttinger. Sie ist ausgewiesene Datenschutz­expertin und sass für die FDP viele Jahre im Zürcher Gemeinde­rat. Bis zum Jahres­wechsel leitete sie die Rechts­abteilung des Kantons­spitals Aarau (KSA). Das ist jenes Spital, in dem ein leitender Intensiv­pfleger arbeitet, der vergangenen Dezember in der «Arena» von SRF dramatische Szenen aus der Intensiv­station schilderte. Und dessen Infektiologe sich deshalb wiederholt für eine 2G-Regelung aussprach.

Wenige Wochen nach der dramatischen Live­schaltung aus dem KSA hat Ursula Uttinger ihren Namen unter eine Deklaration setzen lassen, die von einer Überlastung der Spitäler nichts wissen will.

Wie geht das? Anruf bei Ursula Uttinger.

Sie sei keine Corona-Leugnerin, betont sie am Telefon, ohne dass ich danach gefragt hätte. «Ich habe mich zur Unterzeichnung entschieden, weil ich als Datenschutz­spezialistin persönlich erschrecke, wie die Überwachung von Einzel­personen zunimmt.» Dass man sich überall ausweisen müsse, um Eintritt zu erhalten, sei in den 1980er-Jahren noch undenkbar gewesen. Sie habe «ein bisschen Angst vor der Macht, die der Staat ausübt».

Die Deklaration, sagt Uttinger, habe sie vor Unterzeichnung gemeinsam mit einer anderen Juristin durchgelesen. Beide befanden, dass sie «eigentlich verhebe», sagt Uttinger: «Genauer hab ich den Text aber nicht mehr überprüft.»

Konfrontiert mit den Halbwahrheiten und Fehlinformationen im Schreiben, sagt die Juristin: «Wenn Sie mir jetzt sagen, dass gewisse Dinge in diesem Text nicht stimmen, muss ich sagen: Scheibe, das ist nicht gut.»

Uttinger bestätigt am Telefon, dass, entgegen der Deklaration, die Geimpften das Gesundheits­system nicht gleich oder gar stärker belasteten wie die Ungeimpften. Die Hinter­gründe der Autoren seien ihr nicht bekannt gewesen.

Ursula Uttinger sagt, sie habe bei ihrer Unterzeichnung auf das Urteil der vorhin erwähnten Juristin vertraut. «Und wissen Sie, als Politikerin bin ich ganz häufig angefragt worden: Unterstützen Sie das, unterstützen Sie jenes. Und dann sagt man schneller mal zu, ohne dass man etwas bis ins letzte Komma hinterfragt hat.»

Keine Zeit für den Fakten­check

Ursula Uttinger ist nicht die einzige profilierte Juristin, die jetzt sagt, sie sei sich nicht genau bewusst gewesen, was sie da unterzeichnet habe. So ging es offenbar auch Andreas Noll.

Noll ist ein bekannter, medien­gewandter Straf­verteidiger aus Basel, der unter anderem Angeklagte in den umstrittenen «Basel nazifrei»-Prozessen vertreten hat.

Auf eine kurze Interview­anfrage meinerseits antwortet Andreas Noll mit einem 7000-Zeichen-Mail – nicht zur Publikation gedacht, wie er am Ende schreibt. Als wir telefonieren, betont er zu Beginn erneut, sich zur Deklaration nicht äussern zu wollen. Das Telefonat dauert danach fast eine Stunde. Auch das: nicht zum Zitieren.

Schliesslich nimmt Andreas Noll dann doch schriftlich Stellung zu meinen Fragen, warum er unterzeichnet habe, ob ihm die Fehl­informationen in der Deklaration und die Verbindungen der Autoren bewusst gewesen seien und ob dieses Wissen etwas an seiner Haltung ändere.

Es ärgere ihn, schreibt Noll, dass der Klima­wandel – «die wirkliche Bedrohung der Menschheit» – während der Pandemie «aus der Öffentlichkeit verschwunden ist». Seine Unter­zeichnung sei als Gegen­stimme zu dieser Entwicklung gemeint. Doch auch die juristische Argumentation der Verfasser habe ihn überzeugt, seien «die rechtlichen Grund­lagen der Corona-Massnahmen und deren Implikationen für das rechts­staatliche Gefüge» doch «höchst problematisch».

Die Verbindungen der Verfasser und die fragwürdigen bis falschen Stellen in der Deklaration seien ihm nicht bewusst gewesen. Ob dieses Wissen seine Haltung ändere, könne er nicht sagen. Dafür müsste er die Quellen selber «eingehend studieren», wofür ihm die Zeit fehle. Die Corona-Massnahmen blieben für ihn «rechtlich problematisch», schreibt Noll. «Genauso problematisch wie der Umstand, dass das Thema Corona-Massnahmen teilweise sehr stark von Kreisen aus dem rechten Spektrum okkupiert wurde und wird.» Es traue sich «so manch einer» nicht, öffentlich seine Meinung kundzutun. Aus Angst, «in diese Ecke geschoben zu werden».

Neben Uttinger und Noll gehört auch Tomas Poledna zu den bekannten Namen, die unter der Deklaration zu finden sind. Poledna ist Titular­professor für Öffentliches Recht an der Universität Zürich und ein in den Medien häufig zitierter Rechts­gutachter. Er begrüsse, dass «eine grössere Bewegung» entstehe, welche die 2G-Pflicht infrage stelle, sagt Poledna am Telefon. «Alles andere als 1G – und G steht für Getestete – ist meines Erachtens nicht verhältnis­mässig.» Er habe die Deklaration unterzeichnet, weil sie ebenjene Verhältnis­mässigkeit ins Zentrum stelle.

Zur Argumentation und zu den Verfassern will er sich hingegen nicht äussern. «Ich habe keinen Fakten­check gemacht und würde auch nicht jedes Wort und jede Quelle im Text unterschreiben. Da mache ich meine eigenen Recherchen.»

Das Schweigen der Staats­anwältinnen

Meine eigenen Recherchen führen mich indes zu den Staats­anwaltschaften von Zürich und Aargau. Wobei «Recherchen» vielleicht nicht das präzise Wort ist, haben sich die Staats­anwältinnen doch gleich selbst mitsamt beruflicher Funktion unter die Deklaration setzen lassen.

Als Beamte kommt ihnen in dieser Angelegenheit eine besondere Rolle zu. Sie unterstehen einer Treue­pflicht – während und ausserhalb der Arbeits­zeiten. Staats­anwälte müssen «die Interessen des Kantons in guten Treuen wahren», so schreibt es das Personal­gesetz des Kantons Aargau vor, wo Nicole Burger, die ebenfalls ihre Unterschrift unter die Deklaration setzte, als Staats­anwältin amtet.

Wahrt man diese Interessen noch, wenn man öffentlich ein Schreiben unterzeichnet, das mit einer Reihe von weitherum als solche bekannten Fehl­informationen gegen bestehende Corona-Massnahmen agitiert? Und was ist, wenn man als Staats­anwältin mit einem Verstoss gegen jene Zertifikats­pflicht konfrontiert wird, die man doch – die Unterschrift unter der Deklaration bezeugt es – als verfassungs­widrig erachtet? Ist eine unbefangene Unter­suchung so noch möglich?

Dazu hätte ich gern die Ansichten von Nicole Burger gehört. Doch die Kontakt­aufnahme mit der früheren SVP-Stadtrats­kandidatin gestaltet sich schwierig. Eine erste Nachfrage nach ihren Kontakt­daten beim Präsidium der SVP Aarau, deren Präsident ihr Lebens­partner ist, bleibt über Wochen ohne Antwort.

Als es mir kraft des Internets doch gelingt, ihre Telefon­nummer aufzutreiben, und ich sie anrufe, wird die Sache allerdings erst richtig verzwickt.

«Grüezi Frau Burger, hier ist Ronja Beck», sage ich.

Dann herrscht Stille.

Lange Stille.

Noch mehr Stille.

Dann sagt die Stimme am anderen Ende, sie höre leider gar nichts. Und legt auf.

Waren das Verbindungs­probleme? Oder ghostete mich die Staats­anwältin gerade eben?

Ich rufe noch einmal an. Doch Nicole Burger geht nicht mehr ran. Eine Text­nachricht bleibt unbeantwortet. Weitere Versuche tags darauf bleiben erfolglos, eine zweite Text­nachricht bleibt ohne Antwort.

Eine artverwandte Kommunikations­bereitschaft zeigt Daniel Regenass, auch er Staats­anwalt, in Zürich, noch dazu in stellvertretender Leitungs­funktion bei der Staats­anwaltschaft Zürich-Limmat. Er will meine Fragen zuerst nur schriftlich beantworten. Als ich sie ihm schriftlich zukommen lasse – zum grossen Teil handelt es sich um dieselben Fragen, die andere Unterzeichnende beantworteten –, will er auch das nicht mehr.

Bewegung kommt erst in die Sache, als die Zeitungen von CH Media einen kurzen Artikel über die um die Verfassung besorgten Staats­anwältinnen veröffentlichen. Nicole Burger und Daniel Regenass sind auf der Website des «Juristen Komitees» plötzlich nicht mehr als «Staats­anwalt» und «Staats­anwältin» aufgeführt. Sie sind nun «Jurist» und «Rechtsanwältin».

Wie das?

Daniel Regenass habe «gemäss seinen Angaben» die Deklaration als Privat­person unterzeichnet und nicht als Staats­anwalt, schreibt die Zürcher Ober­staatsanwaltschaft auf Anfrage. «Entsprechend hat er nach unseren Informationen von sich aus interveniert, als dies auf der Internet­seite falsch angegeben war.»

Dass Daniel Regenass auf dem PDF der Deklaration weiterhin als «Staats­anwalt» aufgeführt ist, darauf geht die Ober­staats­anwaltschaft nicht ein.

Stattdessen fügt sie ein wenig aussage­kräftiges Statement an: Die Meinungs­freiheit der Mitarbeitenden sei zu respektieren, «solange diese nicht durch die gesetzlich geschuldete Treue­pflicht im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Anstellungs­verhältnisses eine Einschränkung erfährt».

Ob mit seiner Unterzeichnung ein Verstoss gegen die Treue­pflicht vorliegen könnte oder nicht, bleibt offen.

Konkret wird es dafür im Aargau: «Die Unterzeichnung der Deklaration durch Nicole Burger ist, auch unter Funktions­nennung, personal­rechtlich unproblematisch», schreibt der leitende Ober­staatsanwalt Philipp Umbricht knapp.

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Etwas gar knapp vielleicht?

Der frühere Basler Staats­anwalt Markus Mohler ist nämlich anderer Ansicht. Mit der Unterzeichnung der Deklaration und den darin enthaltenen «fakten­widrigen Äusserungen» hätten die Staats­anwältinnen sehr wohl gegen die Treue­pflicht verstossen, urteilt er. Das Entfernen ihrer Funktion auf der Website ändere daran nichts: «Sie können sich ihrer staatlichen Pflicht als hochrangige Funktions­trägerinnen nicht auf diese Weise entledigen», schreibt Mohler. Zudem trage ein solches Verhalten auch nicht zum Vertrauen in die Behörden bei, im Gegenteil.

Auch Nicole Vögeli Galli, Anwältin und Dozentin für öffentliches Personal­recht an der ZHAW, sieht eine Verletzung der Treue­pflicht gegeben. Eine Deklaration zu unterzeichnen, die Corona-Massnahmen für illegitim erachtet, die die öffentliche Hand erlassen hat und umsetzen muss – «damit stellt man sich als Staats­anwältin direkt gegen seinen Arbeit­geber», sagt Vögeli Galli. Das gelte auch, wenn die Unterzeichnung als Privat­person erfolgt sei.

Zudem müsse man sich besonders bei jenen Staats­angestellten, die juristisch für die Beurteilung oder den Vollzug der Massnahmen zuständig sind, fragen, ob sie ihre Arbeit noch unbefangen durchführen können. Und ob sie das Ansehen der öffentlichen Hand noch wahren. «Je nachdem verunsichert man mit so einer Unterzeichnung auch die Bevölkerung», sagt Vögeli Galli.

Damit nennt die Anwältin das Wort der Pandemie: verunsichert.

Alle waren wir mal verunsichert in den letzten zwei Jahren. Das hat viel damit zu tun, dass sich Meinungen und wissenschaftliche Evidenz tagtäglich gegenüber­stehen und auf den ersten Blick nicht immer klar ist, was jetzt eigentlich was ist.

Deshalb lohnt es sich manchmal, etwas genauer zu überprüfen. Nur so erkennt man, wenn es sich bei vermeintlicher Frisch­luft in Wirklichkeit um alten Stunk handelt.

PS: Verunsichert waren offenbar auch die Autoren der Deklaration. Von der journalistischen Anfrage der Republik aufgescheucht, liessen sie offenbar kurzerhand einen mutmasslich Verbündeten aufbieten: den Journalisten Lukas Hässig vom Finanz­portal «Inside Paradeplatz». Hässig meldete sich kurz vor Redaktions­schluss dieses Beitrags bei der Republik: Ihm sei «zu Ohren gekommen», dass «Anwalt Kruse» Fragen gestellt worden seien. Und dass die Republik die schriftlich und eingeschrieben geschickten Rückfragen des Anwalts nicht beantwortet habe. Was wiederum ihn «wundernehme»: ob es dafür einen bestimmten Grund gebe.

Der Grund sei hiermit nachgereicht: Die Autorin hatte andere Prioritäten. Nämlich diesen Text zu schreiben.