Von Polizisten, die glauben, über dem Gesetz zu stehen
Auf einer anonymen Website rufen Schweizer Polizeibeamte Bürgerinnen zum Widerstand gegen Polizistenkollegen auf, die Corona-Massnahmen durchsetzen. Die Republik enttarnt zwei von ihnen. Inzwischen sind sie vom Polizeidienst freigestellt.
Eine Recherche von Daniel Ryser und Basil Schöni, 08.10.2021
Seit einigen Monaten macht in den Echokammern der Gegner von Corona-Massnahmen eine Gruppierung von sich reden, die laut eigenen Angaben aus «kritischen» Angehörigen der Polizei und anderer Sicherheitsbehörden besteht. Die anonyme Vereinigung, die sich «Wir für Euch» nennt und eine gleichnamige Website betreibt, hält die Zertifikatspflicht für widerrechtlich und ruft zum Widerstand gegen diese und alle anderen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf.
Zwei dieser den Staat ablehnenden Vertreter der Staatsgewalt wurden im August von der «Weltwoche» porträtiert – anonym. Viele ihrer Einsätze stünden im Widerspruch zur Verhältnismässigkeit, wurden die beiden Polizisten zitiert. Der Kontakt zu den Beamten, schrieb der Autor, sei über die «Freunde der Verfassung» zustande gekommen, eine Gruppe, welche jene vom Bundesrat erlassenen Corona-Massnahmen bekämpft, die die Polizisten laut ihrem Auftrag umsetzen müssen. Mehrere Dutzend Beamte aus verschiedenen Korps hätten sich als Gruppe zusammengeschlossen und würden die Website «Wir für Euch» betreiben, so die beiden Porträtierten.
Die «Weltwoche» merkte zwar an, dass ein paar Dutzend Beamte angesichts von 26’000 gewerkschaftlich organisierten Polizistinnen eher wenig seien. Doch die drängendsten Fragen wurden nicht gestellt: Warum treten die Beamten anonym auf? Und geht das mit der Treuepflicht von Polizisten zusammen, wenn sie sich öffentlich gegen geltendes Recht stellen und somit gegen ihren Berufsauftrag?
Auf der Website der Vereinigung wurde vor kurzem eine «rechtliche Analyse bezüglich der Covid-Zertifikatspflicht» publiziert, ausgearbeitet «in Zusammenarbeit mit Staatsanwälten, Richtern und Anwälten». Doch auch diese bleiben anonym. Womit nichts überprüfbar ist.
Das Schreiben, in dem die Massnahmen als «widerrechtlich» bezeichnet werden, verbreitete sich mit dem Gütesiegel «Polizei» rasant in den Telegram-Kanälen der radikalen Corona-Massnahmengegnerinnen. Ein Eintrag, der auf das Dokument verlinkt, wurde bis heute über 97’500 Mal gesehen. In mindestens 108 Telegram-Chats finden sich Links auf die Polizisten-Website. An Demonstrationen gegen die Pandemiemassnahmen werden «Wir für Euch»-Visitenkarten herumgereicht. Und der Youtuber «WDCHUR» mit mehr als 30’000 Followern blendet in diversen Videos das Logo der Gruppierung ein – auch wenn der eigentliche Videoinhalt nichts mit der Gruppe zu tun hat.
«Machtapparate der Angst»
Auf der Website der anonymen Polizistinnen, laut eigenen Angaben eine Gruppe mit «mehreren Hundert Unterstützern», steht weiter: «Wir fordern unabhängige Medien. […] Wir fordern eine unabhängige Justiz. Wir fordern unabhängige Wissenschaft. Wir fordern ein kontrollierendes Parlament.»
Prominent platziert ist auch eine Rede des Rechtsanwalts Philipp Kruse, Beirat der «Freunde der Verfassung». Einleitend schreiben die Polizisten: «Folgend einige Worte eines Rechtsanwalts, welche wir von ‹Wir für Euch› so unterstreichen können.»
In dieser Rede heisst es: «Eine so demokratie- und vernunftfeindliche Entwicklung wie unter Bersets Covid-Regime seit März 2020 hat die Schweiz noch nie erlebt.» Oder: «Ausser Kontrolle geratene Machtapparate der Angst türmen Schikane auf Schikane.» Und schliesslich: «Unsere Demokratie, unsere Grundrechte und unser freiheitlicher Rechtsstaat […] sind von innen wie von aussen massiv und auf Dauer bedroht. Wenn kein Wunder passiert, nähern wir uns langsam, aber sicher einem kollektiven Notwehr-Zustand an.»
Die Betonung eines «Notwehr-Zustands» und eines ausser Kontrolle geratenen Machtapparats, in dem Justiz, Medien, Parlament und Wissenschaft nicht mehr unabhängig sind, und das alles auf einer Website, die sich mit dem Label «Polizei» auszeichnet: Polizistinnen, die sich gegen die eigene, demokratisch legitimierte Regierung stellen? Und das in einer Zeit, in der derzeit allein drei Mitglieder der grünen Bundeshausfraktion wegen massiver Drohungen unter Polizeischutz stehen, wie die Republik während der Herbstsession in der Wandelhalle in Erfahrung brachte.
Florian Näf, Sprecher beim Bundesamt für Polizei (Fedpol), das für den Schutz der Bundesparlamentarier zuständig ist, sagt auf Anfrage: «Ich kann bestätigen, dass Polizeischutz schon seit längerem ein Thema ist. Die Situation ist nun seit einiger Zeit angespannt. Sie liegen sicher nicht daneben, wenn Sie das so schreiben.» In jedem Fall, sagt Näf, werde der Schutz der Politiker mit der jeweiligen Kantonspolizei koordiniert.
Die Daten verraten die Namen der Polizisten
Einige Inhalte von «Wir für Euch» grenzen an Verschwörungserzählungen, wie sie in der Corona-Bewegung weitverbreitet sind. Die Polizistinnen schreiben: «Die vorläufigen Erkenntnisse lassen viele Ungereimtheiten, politische und wissenschaftliche Versäumnisse der zuständigen Stellen sowie faktische Unwahrheiten erkennen. Zudem sind – mit bisherigem Stand – diverse Verbindungen zwischen verschiedenen Akteuren in unserem Fokus, die weiterer Abklärungen bedürfen.»
Als Polizisten sehen sie sich sogar in der Pflicht, diesen behaupteten «Verbindungen» nachzugehen: «‹Wir für Euch› wird mit seinen Unterstützern und auf Basis von klassischer Ermittlungstätigkeit alles daransetzen, um die tatsächlichen Geschehnisse zutage zu fördern.»
Wer aber steckt hinter diesen Inhalten?
Eine Analyse der Website führt zu zwei Namen, die in den Metadaten zweier Dokumente als Autoren hinterlegt sind: zu jenem des Zürcher Kantonspolizisten A. sowie demjenigen eines Mannes namens C., der vermutlich ebenfalls Kantonspolizist ist, auf jeden Fall aber wie A. Mitglied des Schiessvereins der Zürcher Kantonspolizei.
Besonders beruhigend wirkt das von aussen nicht: Die Mitglieder von «Wir für Euch» verfügen also nicht nur über Waffen, sie wissen als geübte Schützen auch, wie man damit umgeht. Als Polizist hat A. zudem Zugang zu Adressen von Demonstrantinnen, die sich den Massnahmengegnern entgegenstellen, von Politikerinnen oder auch von Journalisten, die unangenehme Fragen stellen.
Die Republik hat Kantonspolizist A. mit seiner Tätigkeit bei «Wir für Euch» konfrontiert. Bei einem Anruf auf seiner Festnetznummer meldet sich seine Frau. Eine Stunde später ruft A. von einer unterdrückten Nummer zurück.
«Wie kann ich Ihnen helfen?», sagt er.
«Wir rufen an wegen ‹Wir für Euch›. Einerseits sind Sie Kantonspolizist in Zürich, andererseits haben Sie für ‹Wir für Euch› einen Brief an den Polizistenverband verfasst. Darüber würden wir gern mit Ihnen reden.»
«Woher haben Sie diese Informationen? Über meinen Beruf und über eine allfällige Verbindung zu ‹Wir für Euch›?»
«Ihr Name taucht in den Metadaten eines Dokuments auf, das man auf der Seite herunterladen kann. Da steht Ihr Name drin. Den haben wir dann gegoogelt. Da hiess es dann: Zürcher Kantonspolizist. Mitglied in einem Schiessverein. In einem anderen Dokument, einer Vorlage für Strafanzeigen gegen Polizisten, tauchte ein zweiter Name auf, der Name C., kein alltäglicher Name, Mitglied im Schiessverein der Zürcher Kantonspolizei.»
«Wie sind Sie denn darauf gekommen, die Metadaten auszuwerten? Das Dokument ist meines Wissens schon länger auf der Website.»
«Nun, das ist unsere Arbeit. Wir haben ein paar Fragen. Zum Beispiel: Sie werben auf der Seite einerseits mit dem Label Polizei, andererseits treten Sie anonym auf. Diese Heimlichtuerei ist im Polizeikontext sehr irritierend. Was haben Sie zu verbergen?»
Der Polizist sagte nun, er wolle dazu nicht am Telefon Auskunft geben. Weiter sagte er: «Wir leben in Zeiten, wo alles, was man tut, sehr schnell Konsequenzen haben kann.»
«Sie meinen, wenn man als Polizist eine solche Gruppe gründet oder betreibt?»
«Das wäre eine Option. Richtig.»
«Wir treffen Sie gern. Deswegen rufen wir eigentlich an.»
«Sie wollen etwas von mir, also schaue ich, wo wir uns finden, die Bereitschaft ist von meiner Seite vorhanden. Ich nehme selbstverständlich Rücksprache mit der Administration und bin dann gern bereit, Sie zu treffen. Ich will mit der Administration das weitere Vorgehen besprechen und melde mich dann via Signal. Aber ich muss zuerst bei den Leuten abholen, was so die Meinung ist.»
«Wie viele Leute sind Sie denn?»
«Ich kann Ihnen nur sagen: deutlich mehr als zwei.»
Eine Stunde vor dem für vergangenen Dienstag verabredeten Treffen will A. uns via verschlüsselten Messenger einen Treffpunkt mitteilen. Seine Natelnummer will er indes nicht herausgeben.
Das Treffen kommt nicht zustande: Die Chat-Nachricht bleibt aus, der Polizist taucht nicht auf, ist auch nicht mehr zu erreichen. Und offenbar will «Wir für Euch» die Spuren verwischen: Kurz vor dem vereinbarten Treffen werden die Dokumente auf der Website, deren Metadaten zum Kantonspolizisten A. und zu dem anderen Mann geführt hatten, gelöscht und neu hochgeladen – diesmal ohne die Namen in den Metadaten. Für die Republik-Recherche spielt das keine Rolle: Die Daten sind bereits gesichert. Zudem kursieren die alten Metadaten seit zwei Wochen auch im Netz. Die Luzerner Hackerin Tillie Kottmann interessiert sich ebenfalls für die konspirativen Polizisten und hat einen Teil der Daten auf Twitter veröffentlicht.
Damit bleiben die Fragen der Republik unbeantwortet: Was versteht die Vereinigung unter einem «kollektiven Notwehr-Zustand»? Wie viele Richterinnen und Staatsanwälte gibt es in ihrer Organisation? Inwiefern arbeiten die Polizistinnen mit anderen Organisationen der Corona-Bewegung zusammen? Und gibt es unter ihren Mitgliedern auch Angehörige des Bundessicherheitsdienstes – jener Abteilung des Bundesamts für Polizei also, die für den Schutz von Personen und Gebäuden zuständig ist?
«Zwei Beamte freigestellt»
Etwas auskunftsfreudiger als Polizist A. zeigt sich die Zürcher Kantonspolizei. Die Republik hat ihr folgende Fragen gestellt:
Haben Sie Kenntnis von dieser Seite, und wie schätzen Sie die Lage ein?
Sind Polizisten, die glauben, dass wir keine unabhängige Justiz mehr haben, gefährlich? Die Pamphlete veröffentlichen, in denen von «Notwehr-Zustand» gesprochen wird?
«Wir für Euch» behauptet, dass man Dutzende Mitglieder, Hunderte aktive Unterstützer habe. Wie beurteilen Sie das?
Wie verhält es sich mit der Treuepflicht: Auf der Seite von «Wir für Euch» kann man eine Vorlage herunterladen, um Strafanzeigen gegen Polizisten zu stellen, die ihren öffentlichen Auftrag wahrnehmen. Können Sie uns das aufschlüsseln? Geht das mit dem Polizeidienst zusammen?
Würden Sie Beamte, die auf ihrer Website ein Pamphlet publizieren, in dem von einem drohenden «Notwehr-Zustand» gesprochen wird und die Unabhängigkeit der Politik infrage gestellt wird, mit dem Schutz von Politikern beauftragen, zum Beispiel der in den vergangenen Monaten massiv bedrohten SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli?
Wie stellt die Kantonspolizei Zürich sicher, dass Beamte, die offensichtlich eine grosse Nähe zu extremistischen Verschwörungstheoretikern pflegen, ihren Zugang zu Polizeidatenbanken nicht missbrauchen, um Informationen, zum Beispiel Adressen von Personen, an ebenjene Kanäle weiterzuleiten?
Die Kommunikation sei Chefsache, sagt ein Sprecher der Kantonspolizei am Telefon. Die Antwort fällt dann schriftlich aus. Knapp. Eindeutig.
«Zwei Polizisten, die öffentlich zu Strafanzeigen gegen Polizistinnen und Polizisten aufgerufen haben, wurden freigestellt», teilt die Kantonspolizei am Mittwoch auf die Anfrage der Republik mit. «Ein derartiger Aufruf verstösst gegen die Werte der Kantonspolizei und das Gelübde, das jede Polizistin und jeder Polizist vor dem Eintritt ins Korps leistet, und kann das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit und Redlichkeit der Kantonspolizei untergraben.»