Zu intensiv

Seit heute gelten neue harte Pandemie­massnahmen. Der Grund: Auf den Intensiv­stationen der Spitäler können zu wenig Betten betrieben werden – weniger als in vergangenen Wellen. Aber warum eigentlich?

Von Lukas Häuptli (Text) und Till Lauer (Illustration), 20.12.2021

Wann haben Sie letztmals eine Nacht durch­gearbeitet? Eine ganze Nacht, sagen wir neun Stunden lang?

Durchgearbeitet, hoch konzentriert, weil halb konzentriert tödlich sein könnte?

Pflegefachpersonen auf den Intensiv­stationen der Schweizer Spitäler machen das in bemerkens­werter Regelmässigkeit. Tagdienst, Spätdienst, Nachtdienst. Drei Schichten, die letzte dauert meist von 22 bis 7 Uhr. Die Pflege­fachfrauen betreuen da schwerst kranke Patienten, immer mehr sind schwerst kranke Covid-Patienten. Sie steuern die überlebens­notwendige Medikamenten­abgabe. Überwachen Herz, Lunge, alles. Rund um die Uhr.

Die Arbeit auf der Intensiv­station gilt als eine der anspruchs­vollsten in der Pflege überhaupt. Mit der Corona-Pandemie und der steigenden Zahl von Patientinnen ist sie noch anspruchs­voller geworden. Und noch belastender.

Belastender zum Beispiel deshalb, wie eine Pflege­fachfrau erzählt: «Stirbt ein Patient, muss alles ruckzuck gehen. Beatmungs­gerät abschalten, Katheter entfernen, Toter aus dem Zimmer raus, Toter in den Kühlraum rein. Schliesslich wartet bereits der nächste Schwerst­kranke auf das Bett.»

10 Prozent der Betten fallen weg – mindestens

Tag für Tag weist der Bund aus, wie viele der 873 offiziell zertifizierten Betten noch frei sind auf den Intensiv­stationen oder, wie sie offiziell heissen, Intensiv­pflegestationen (IPS) der Schweizer Spitäler. Ende letzter Woche waren es 149. Die Zahl ist gegenwärtig eine der ganz harten Währungen in der politischen und gesellschaftlichen Debatte darüber, wie schlimm oder nicht schlimm die Corona-Lage in der Schweiz ist.

Fälschlicherweise, denn die statistische Genauigkeit trügt. Das Problem auf den Intensiv­stationen ist nicht die Zahl der freien Betten. Sondern die Zahl der Pflege­fachfrauen, welche die Patienten in diesen Betten betreuen können.

Es sind, so viel steht fest, zu wenige. Und es werden immer weniger. Auf fast allen Intensiv­pflege­stationen fehlt gegenwärtig spezialisiertes Pflege­personal, auf manchen Stationen fehlen auch die spezialisierten Ärztinnen.

Wegen des personellen Notstands müssen zahlreiche Spitäler jetzt gar einen Teil ihrer zertifizierten Intensiv­betten schliessen. Das hat eine Umfrage der Republik bei einem guten Dutzend Kliniken in der Schweiz ergeben.

Da heisst es zum Beispiel:

  • «Als Folge personeller Engpässe müssen mitunter kurzfristig Betten gesperrt werden.» (Universitäts­spital Zürich)

  • «Aktuell sind mehrere zertifizierte Betten geschlossen, da uns trotz der Personal­verschiebungen aus dem Bereich der Anästhesie für den Vollbetrieb der Betten das Personal fehlt.» (Insel­spital Bern)

  • «In der Klinik, die mit 22 zertifizierten Betten über eine grosse IPS verfügt, können aufgrund des Fachkräfte­mangels zurzeit leider nicht alle Betten betrieben werden. Die Klinik ist dazu gezwungen, die Kapazität teilweise um zwei bis vier IPS-Betten zu reduzieren.» (Hirslanden Zürich)

  • «Wir verfügen über total 36 zertifizierte Intensiv­plätze. Davon können wir aktuell 27 betreiben.» (Kantons­spital St. Gallen)

Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Unter dem Strich fallen derzeit rund 10 Prozent der 873 zertifizierten Intensiv­pflege­station-Betten wegen fehlendem Pflege­personal weg, wie eine Hochrechnung der Republik ergibt. Womöglich sind es gar mehr.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt Hans Pargger, Chefarzt der Intensiv­station des Universitäts­spitals Basel und Präsident der Kommission, welche die Intensiv­betten in der Schweiz zertifiziert. Das Personal reiche lediglich für 750 bis 800 Betten auf Intensiv­pflege­stationen, sagte er gegenüber Tamedia. «Alles, was darüber hinausgeht, hat bereits Abstriche bei den Betreuungs­standards oder die Verschiebung von geplanten Eingriffen zur Folge.»

Gegenwärtig liegen auf den Intensiv­stationen der Schweizer Spitäler über 700 Patienten; mehr als 40 Prozent von ihnen sind schwerst kranke Covid-Patientinnen. Die grosse Mehrheit von ihnen ist nicht geimpft. Wegen der hohen Auslastung und des fehlenden Personals müssen Ärzte mittlerweile auch Triage-Entscheide fällen und dringliche Operationen verschieben, wie unter anderem ein Beitrag der «Rundschau» von SRF zeigt.

Christina Schumacher von der Berner Sektion des Schweizerischen Berufs­verbands für Pflege­fachpersonal sagt dazu: «Vor allem die hohe Zahl der ungeimpften Covid-Patienten und -Patientinnen bringt das System der Intensiv­stationen an den Anschlag.»

«Das Personal ist müde und frustriert»

Währenddessen verschärft sich der Pflege­notstand fast täglich.

Einerseits werden immer mehr Covid-Patienten auf die Intensiv­stationen eingeliefert, deren Betreuung noch aufwendiger ist als diejenige der anderen Patientinnen.

Andererseits fallen mehr und mehr Pflege­fachpersonen aus. Die einen müssen in Quarantäne, die anderen erkranken, die dritten kündigen. «Aufgrund von Kündigungen und Krankheits­ausfällen hat sich der Personal­mangel auf der Intensiv­station im Vergleich zum Vorjahr verschärft», sagt Petra Ming, Sprecherin des Berner Insel­spitals. Zudem: «Nach bald zwei Jahren Pandemie verschärft sich die Lage auch wegen der allgemeinen Erschöpfung des Personals», sagt Anita Kuoni vom Kantons­spital Baselland.

Noch deutlicher wird Dorit Djelid, Sprecherin des Spital­verbands H+: «Es ist kein Ende des Tunnels in Sicht. Das Personal ist müde und frustriert. Die Bevölkerung könnte Solidarität zeigen, indem sie sich vorbehaltlos impfen liesse. Doch das macht sie nur ungenügend.»

Seit Ausbruch der Pandemie haben 10 bis 15 Prozent aller Intensiv-Pflege­fachpersonen in der Schweiz gekündigt. Selbst die Pflege­initiative, welche die Stimm­berechtigten am 28. November 2021 wuchtig angenommen haben, wird am Personal­notstand kurz- und mittelfristig wenig ändern. Bis deren Forderungen nach zusätzlichen Ausbildungs­plätzen und besseren Arbeits­bedingungen auf Gesetzes- und Verordnungs­stufe umgesetzt sind, wird es Monate dauern.

Fünf Jahre Studium

Wer sich – trotz alldem – vorstellen könnte, als Pflege­fachfrau oder Pflege­fachmann auf einer Intensiv­station zu arbeiten, sollte ein paar Fakten kennen:

  1. Es braucht dafür ein dreijähriges Studium an einer Fach­hochschule oder einer höheren Fachschule sowie ein zweijähriges berufs­begleitendes Nachdiplom­studium. Letztes Jahr schlossen rund 250 Personen dieses Zusatzstudium ab. Der Anfangs­lohn liegt zwischen 5000 und 7000 Franken, dazu kommen Schicht­zulagen von ein paar hundert Franken pro Monat.

  2. Wie überall in den Spitälern leisten festangestellte Pflege­fachpersonen auf den Intensiv­stationen regelmässig Spät-, Nacht- und Wochenend­dienste. Das ist wenig familien- und freundeskreis­verträglich.

  3. Wegen der physisch und psychisch äusserst anspruchs­vollen, anstrengenden und belastenden Arbeit auf den Intensiv­stationen betreut eine spezialisierte Pflege­fachfrau grundsätzlich einen einzigen Patienten. Das ergibt für eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung einen Bedarf von 2,5 Vollzeitstellen. Grundsätzlich. Wegen des Personal­mangels kommen mittlerweile auf eine Pflegende bis zu drei Patientinnen – und die Pflegende ist längst nicht mehr immer eine Spezialistin, sondern oft eine Pflege­fachperson ohne Zusatz­ausbildung oder ein Student, der diese noch nicht abgeschlossen hat.

Die letztes Jahr ausgebildeten Intensiv­pflegerinnen reichen angesichts des Bedarfs der Spitäler nirgends hin. Deshalb suchen die Kliniken weiter nach spezialisierten Arbeitskräften. Und sie locken mit zusätzlichen Anreizen. Sie erhöhen die Löhne (wie etwa das Kantons­spital Baselland) oder gewähren zusätzliche Freitage (wie die Hirslanden-Kliniken).

Weil sie so dringend zusätzliches Personal brauchen, konzentrieren die Spitäler ihre Suche fast ausschliesslich auf den Temporär-Arbeits­markt. «Bei uns treffen jeden Tag zahlreiche Anfragen für diplomiertes Intensiv­pflegepersonal ein», sagt Conny Bacher von der Stellen­vermittlungs-Firma Careanesth. Und die Geschäfts­führerin einer anderen Vermittlungs­firma, die ihren Namen nicht in den Medien lesen will, sagt: «Spitäler suchen für ihre Intensiv­stationen zum Teil sehr kurzfristig Pflege­personal. Es kann sein, dass eine Pflege­person innert ein paar Stunden nach der Anfrage mit ihrer Arbeit auf der Intensiv­station anfangen soll.»

Meist bleibt die Suche allerdings erfolglos: «Wegen der Pandemie funktioniert auch der Temporär-Arbeits­markt nicht mehr», sagt Anita Kuoni, Sprecherin des Kantons­spitals Baselland. Und Michael Bommel, Chef der Vermittlungs­firma Medical Jobs Schweiz, sagt: «Es ist nahezu aussichtslos, Pflege­fachpersonen für eine Intensiv­station zu finden.»

Das gilt für die Suche in der Schweiz, das gilt aber auch für die Suche im Ausland. Da hatten die Spitäler in der Vergangenheit immer wieder erfolgreich Pflege­personal angeworben. Allein in den letzten Jahren migrierten mehr als 20’000 Personen aus dem Ausland in die Schweiz, um hier als Pflege­fachleute zu arbeiten. Bekannt sind diese Zahlen, weil die Fach­abschlüsse aus den Herkunfts­ländern der Migrierenden in der Schweiz anerkannt werden müssen; der Bund hat das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) mit der Beurteilung der entsprechenden Gesuche beauftragt.

Mittlerweile stammt rund ein Drittel der etwa 80’000 Pflege­fachleute aus dem Ausland. Das ist auch Folge davon, dass in der Schweiz schlicht zu wenig entsprechende Fachkräfte ausgebildet werden.

3100 Pflegefach­personen aus dem Ausland – allein im ersten Corona-Jahr

Jetzt zeigt sich, dass die Zahl der ausländischen Pflege­fachpersonen in der Schweiz während der ersten Phase der Pandemie stark gestiegen ist. 2020, im ersten Corona-Jahr also, bewilligte das Schweizerische Rote Kreuz rund 3100 Gesuche von Ausländern um Anerkennung ihrer Abschlüsse. Das waren rund 20 Prozent mehr als 2019, wie ein Auswertung des SRK zeigt.

Die meisten der neu anerkannten Pflege­fachfrauen stammten aus Frankreich (rund 1750 Personen), gefolgt von Deutschland (rund 450), Italien (300), Belgien (knapp 150) und Portugal (100). Andere kamen aber auch aus Rumänien, Brasilien, Indien, Kasachstan oder Burkina Faso.

«Die Zunahme der Gesuche von ausländischen Pflege­fachpersonen ist auf die Corona-Pandemie zurückzuführen», sagt Marc Bieri vom Schweizerischen Roten Kreuz. «Wegen der Pandemie haben Spitäler und Heime deutlich mehr Bedarf an zusätzlichem Personal.»

Die Nachfrage nach Pflege­personal aus dem Ausland ist in der Pandemie weiter gewachsen. Doch offensichtlich ist das Angebot begrenzt. Darauf deutet, dass im laufenden Jahr die Zahl der entsprechenden Gesuche wieder leicht gesunken ist, aber immer noch bei fast 3000 lag.

Marc Bieri sagt dazu: «Während der Corona-Pandemie hat jedes Land versucht, seine Pflege­fachpersonen zu halten.» In der Tat haben zahlreiche Staaten in den letzten Monaten die Löhne ihres Pflege­personals erhöht und deren Arbeits­bedingungen verbessert – aus Angst, dass sie in andere Länder abwandern.

Das heisst: Der internationale Kampf um das rare Gut «Pflege­personal» ist endgültig entbrannt.

Der sieht zum Beispiel so aus: Die Schweiz holt einen Teil ihres Pflege­fachpersonals aus Deutschland, Deutschland wiederum aus Polen, Polen aus der Ukraine und die Ukraine aus Moldawien. Oder so: Die Schweiz rekrutiert Personal in Frankreich und Frankreich in Togo. Mal ist die Kette länger, mal kürzer, immer aber fehlen am Ende der Kette die Menschen. Meist ist das dort, wo die Gesundheits­versorgung sowieso nur schlecht funktioniert.

Das Phänomen wird beschönigend als «Care-Migration» beschrieben. Und weniger beschönigend als «Medical Braindrain». Die Welt­gesundheits­organisation WHO kritisiert es seit Jahren, ihre Mitglied­staaten haben 2010 einen «Verhaltens­kodex für die gren­züberschreitende Anwerbung von Gesundheits­fachkräften» verabschiedet. Der Kodex enthält allerdings lediglich Empfehlungen, ist entsprechend unverbindlich und hat in der Praxis bis jetzt kaum etwas bewirkt.

Und die Schweiz?

«Das Thema der Migration von Gesundheits­personal steht seit mehreren Jahren auf der internationalen Agenda», sagt Katrin Holenstein vom Bundesamt für Gesundheit. «Die Schweiz trägt sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene dazu bei, diese Heraus­forderung anzugehen.»

Auch das tönt ziemlich unverbindlich. Und ändert nichts daran, dass das Schweizer Gesundheits­wesen noch immer über­durchschnittlich viele im Ausland ausgebildete Pflege­fachleute beschäftigt, wie die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung, festhält.

Der harte Kampf um das Pflege­personal zeigt sich in der Schweiz derzeit auch daran, dass sich zahlreiche Intensiv­pfleger lieber temporär als fest anstellen lassen. So können sie auf höhere Löhne und sozial kompatiblere Arbeits­zeiten pochen, wie eine Pflege­fachfrau erzählt. Darauf zum Beispiel, dass sie ausschliesslich am Tag arbeiten können. Den Spitälern bleibt nichts anderes übrig, als auf die Bedingungen der Arbeit­nehmenden einzugehen. Die Folge: Die Nacht­schichten müssen die verbliebenen Fest­angestellten übernehmen.

Sie erinnern sich? Nachtarbeit. Neun Stunden. Hoch konzentriert. Weil halb konzentriert tödlich sein kann.