Der Basel-Report – Teil 1

Festgesetzter Demonstrant: Sind Versammlungs­freiheit und freie Meinungs­äusserung in Basel noch gewährleistet? Jan Müller/www.ajourmag.ch

Was ist los in dieser Stadt? Der Tag im November, der Basel nicht mehr loslässt

Eine Frau soll acht Monate ins Gefängnis, weil sie an einer Demonstration war, die eskalierte. Wie eine Prozessreihe in Basel den Rechtsstaat Schweiz auf den Prüfstand stellt. Der Basel-Report, Teil 1.

Von Anja Conzett und Daniel Faulhaber («Bajour»), 24.11.2020

Die Gerichtsschreiberin verliest das Urteil hastig. Acht Monate, so viel ist klar, aber das entscheidende Wort geht im Tempo unter.

Es ist etwas nach 16 Uhr an einem Montag­nachmittag diesen September, und einen Moment lang ist es still im Saal des Straf­gerichts Basel-Stadt. Neben der Angeklagten und dem in anderer Sache bereits freigesprochenen Neben­angeklagten, den beiden Anwälten und drei Angehörigen sitzen noch drei Jusstudenten und zwei Journalisten im Raum.

Am Ende ist es die Angeklagte selbst, die nachfragt: «Unbedingt?»

«Unbedingt», sagt der Richter.

Die Angeklagte lacht trocken.

Für acht Monate soll die 28-jährige Frau ins Gefängnis. Ihr wird vorgeworfen, am 24. November 2018 an einer Demonstration gegen eine Stand­kund­gebung der rechts­extremen Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) teilgenommen zu haben. Es ist eine Gegen­demonstration, die eskaliert. Einige Teilnehmende werfen Bier­flaschen und Steine in Richtung Polizei. Nicht die Angeklagte. Das hält das Urteil klar fest.

Ihr wird keine aktive Gewalt an Personen oder Sachen vorgeworfen. Vermummt hat sie sich auch nicht. Vorbestraft ist sie ebenfalls nicht, und geständig ist sie auch, was die Teilnahme an der Demonstration betrifft.

Aber was wird ihr denn überhaupt vorgeworfen, dass sie acht Monate ins Gefängnis muss?

Dass sie anwesend war und sich nicht aus der Menge entfernt hat, als die Polizei sie dazu aufforderte.

Acht Monate unbedingt.

Was ist los in Basel?

I. Die Demonstration

Ende November 2018. Der Tag, der Basel auch noch zwei Jahre später beschäftigen wird, ist ein kalter Tag, diesiges Licht. Und es ist einiges los.

Auf dem Claraplatz, 200 Meter vom Messe­platz entfernt, demonstrieren LGBTQI-Aktivistinnen gegen die SVP-Selbstbestimmungs­initiative. Auf dem Theaterplatz protestieren Gewerkschaften gegen Massen­entlassungen der Novartis. In der Innenstadt findet der alljährliche Stadtlauf statt, der Weihnachts­markt feiert Eröffnung – und dazu kommen eine Stand­aktion der Pnos gegen den Uno-Migrations­pakt auf dem Messeplatz sowie eine bewilligte Gegen­demonstration, die einen halben Kilometer Luftlinie entfernt auf eine Wiese verschoben wurde.

Und dann sind da noch jene Menschen, die dort gegen die Pnos demonstrieren wollen, wo sie auch wirklich ist.

Ein Tag wie ein Pulverfass.

Er finde es mutig, dass die Pnos-Aktion angesichts dieser Stress­belastung überhaupt bewilligt worden sei, sagte SP-Präsident Pascal Pfister. Seine Partei hatte, wie alle politischen Parteien mit Ausnahme der SVP, zur bewilligten Gegen­demonstration auf der Dreirosen­anlage aufgerufen.

«Man darf nicht nur in den sozialen Medien ‹schlimm, schlimm, schlimm› schreiben, aber öffentlich nichts gegen solches Gedanken­gut tun», begründet der FDP-Politiker Marc Schinzel seine Protest­teilnahme gegenüber der «Basler Zeitung». «So einen Widerstand darf man nicht nur den Linken überlassen. Da müssen auch die Bürgerlichen auftreten.»

In derselben Partei wie Schinzel sitzt auch Baschi Dürr, FDP-Regierungs­rat des Kantons Basel-Stadt und Vorsteher des Justiz- und Sicherheits­departements. Dieses beurteilt, ob Demonstrations­­gesuche bewilligt werden oder nicht.

Die Juso fordert Dürr dazu auf, der Neonazi-Partei die erteilte Bewilligung wieder zu entziehen. Die rechtliche Grundlage dafür ist gegeben, wenn sich abzeichnet, dass die Situation aus dem Ruder laufen könnte. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass Basel bereits gesprochene Bewilligungen wieder zurückzieht, wie ein Blick in die Statistik zeigt.

Doch offenbar fehlt der politische Wille: Er habe die Pnos-Kundgebung nicht einfach verbieten können, sagt Baschi Dürr rückblickend. «Wir müssen immer abwägen zwischen dem Recht auf freie Meinungs­äusserung und dem Versammlungs­recht einerseits und der öffentlichen Ordnung andererseits», sagt er gegenüber SRF.

So kommt es an jenem 24. November am Basler Messeplatz zu skurrilen Szenen. Eine Stunde bevor die Pnos-Kundgebung offiziell angesagt ist, stehen Rechts­extreme unter dem Messe­turm und rauchen nervös Zigarette um Zigarette. Die Fahnen mit dem Partei­symbol, einem Morgenstern auf rot-weissem Grund, haben die Männer noch eingerollt. Und so ist der ihnen gegenüber­stehenden, rasch wachsenden Gruppe von Gegen­demonstrantinnen nicht ganz klar, wer hier zu wem gehört.

Man beäugt sich, scannt Frisuren, Kleider, sucht Symbole verräterischer Zugehörigkeit. Aber in der Signal­landschaft zwischen links und rechts sind die ehemals einschlägigen Token – Springer­stiefel, Millimeter­schnitt, Bomber­jacke – schon lange keine verlässlichen Anhalts­punkte mehr.

In diesen Minuten der Lager­sortierung ist die Stimmung gespannt, Stress liegt in der Luft, während sich die Lücke zwischen der Pnos und der schnell wachsenden Gruppe auf der anderen Seite langsam verkleinert.

Die Polizei hat offenbar gutschweizerisch mit einem pünktlichen Demonstrations­beginn gerechnet. Weit und breit sind keine Beamten zu sehen.

Dann geht es schnell.

Ein paar einzelne Gegen­demonstranten brechen aus der Masse aus und stürmen auf die Pnos zu. Beschimpfungen fliegen hin und her. Einige der Rechts­extremen weichen zurück, andere positionieren sich, als wollten sie sich tatsächlich auf einen Faust­kampf mit der zahlen­mässig weit überlegenen Masse einlassen. In diesem Augenblick hätte alles passieren können. Aber es bleibt bei diesem kurzen Tumult, als würden beide Seiten auf eine Art offizielles Start­signal warten.

Kurz vor 14 Uhr, der Messeplatz ist längst rappelvoll, stürmt aus einer Seiten­gasse ein Polizei­trupp in Vollmontur heran und bildet eine Kette zwischen der Pnos und den Gegendemonstrantinnen.

Die seltsam aufgekratzte Stimmung der Ratlosigkeit kanalisiert sich augenblicklich in routinierte Bahnen, als wäre endlich irgendein Fehler im Gesamtbild kaschiert. Als wären die späten Gäste einer Verabredung eingetroffen, und endlich darf angestossen werden.

Die Pnos rollt die Fahnen aus. Die Gegner bringen ihre Transparente in der ersten Reihe in Stellung, der ganze Platz skandiert: «Basel nazifrei!» Und dazwischen die Polizei.

Die Gegendemonstration ist noch grösser als erwartet. In den Anklage­schriften der Staats­anwaltschaft wird später von 500 Menschen die Rede sein, aber das ist selbst konservativ geschätzt vollkommen unrealistisch. Die Medien einigen sich auf 2000 Teilnehmerinnen.

Alle sind da. Politische Verbände und Parteien, die Juso, Leute mit Antifa-Fahnen, Kurdinnen, der Revolutionäre Aufbau, Familien mit Kindern, Studenten und Schülerinnen. Auf den Polizei­bildern wird man später sehen, dass viele ältere Menschen mitunter in der ersten Reihe vor den Polizisten standen.

Hinter der Polizeikette ist kurz Baschi Dürr zu sehen. Er trägt einen Hut und einen grauen Mantel und will sich offenbar mit eigenen Augen ein Bild von der Situation machen. Dürr pflegt in Interviews zu sagen, er stehe für eine liberale Polizei­taktik, gebe nur die grosse Flucht­linie vor. Augen­mass ist einer seiner Lieblings­begriffe. Im Einsatz aber, da entscheide im konkreten Fall jeweils der Einsatz­leiter, was zu tun sei, sagt Dürr.

Gut abgeschirmt hinter der Polizeikette: Rechtsextreme mit Pnos-Flaggen. Georgios Kefalas/Keystone

Der Einsatzleiter entscheidet: Die Pnos wird durch einen engen Korridor auf die Rückseite des Messe­turms auf einen Parkplatz geschleust und ausser Sichtweite der Teilnehmer der Gegen­demonstration gebracht. Die Basler Polizei hat Unterstützung aus den Korps benachbarter Kantone sowie aus Zürich und Bern erhalten. Die uniformierten Beamtinnen riegeln die Pnos-Kundgebung ab, so gut es geht. Die Gegen­demonstration versucht mehrmals, zur Pnos durchzudringen – vergeblich. Ein Helikopter kreist über der Stadt. Ein ziemliches Durcheinander.

Zwei Stunden später kommt es auf der Kreuzung Mattenstrasse Ecke Rosental­strasse zur Eskalation.

II. Die Eskalation

Die Polizei hat den Einsatz minutiös und aus verschiedenen Perspektiven gefilmt. Die Video­aufnahmen, die der Republik und «Bajour» vorliegen, sind das Haupt­beweismittel für die später einsetzende Strafverfolgung.

Demonstranten skandieren Parolen. Bob Marley singt aus mitgebrachten Boxen «everything’s gonna be alright». Ein Absperr­band markiert den Mindest­abstand zur Polizei. Als es zu Boden fällt, bleiben die Demonstrantinnen hinter der gebotenen Linie. Alle bis auf einen.

Ein einzelner Demonstrant torkelt vor der Linie hin und her, in der Hand hält er ein Bier, die Jacke sitzt ihm schief auf der Schulter. Er wirft den Demonstranten hinter ihm Kusshände zu. Nach einer Weile lösen sich zwei Demonstrantinnen aus der Reihe, gehen zu ihm hin.

Jetzt hört man die Stimme eines Polizei­beamten am Megafon. Was er sagt, ist in der Aufzeichnung der Polizei­kamera nicht ganz zu verstehen. Irgendetwas mit «zurück» oder «Schluss»?

Dann ist plötzlich Chaos.

Die Polizei feuert mehrere Salven Gummi­schrot in die Menschen­kette. Über eine Minute lang knallt es ununterbrochen. Mit jedem Schuss fliegen 35 Gummi­teile durch die Luft, «Schilder hoch!», ruft immer wieder ein Beamter, während weiter­geschossen wird.

Ein Demonstrant wird von einem Gummi­geschoss im Gesicht getroffen und bleibt blutüberströmt auf der Strasse liegen – er trägt bleibende Schäden am Auge davon. Ein anderer blutet heftig aus der Stirn. Einige Demonstranten suchen Schutz, wo sie können, ein kleiner Teil bleibt einfach stehen, das Gummi prasselt auf Körper und Transparente.

«Mittel sparen», ruft der Einsatz­leiter immer wieder, und irgendwann: «Stopp! Stooopp!»

«Schilder hoch», ruft der Einsatzleiter.

«Achtung, Stein von rechts.»

Tatsächlich: Nun fliegen Steine, Bier­büchsen und aufgehobenes Gummi­schrot auf die Beamten. Die Kamera der Polizei filmt hektisch hin und her, zoomt an Gesichter ran und wieder weg.

Demonstranten und die Polizei stehen sich noch eine ganze Weile gegenüber im zornigen Patt. Auf Umwegen können die Pnos-Anhängerinnen von der Polizei aus dem Hinterhof geschleust werden. Vereinzelt kommt es zu Scharmützeln zwischen Antifaschisten und Leuten von der Pnos. Um halb sechs am Abend beruhigt sich die Lage.

III. Die Strafverfolgung

Danach setzt eine Straf­verfolgung ein, wie sie Basel noch nicht gesehen hat. 335 Gigabyte Videomaterial werden ausgewertet, vor Ort wird an Flaschen, Bier­büchsen und Steinen DNA sichergestellt. Daten­banken werden angezapft, der Nachrichten­dienst zurate gezogen, sogar Interpol wird ersucht, Auskunft über die Identität einzelner Teilnehmer der Gegen­demonstration zu geben.

Es kommt zu Haus­durchsuchungen in Basel, Baselland, Zürich, Luzern. Ende November 2019 veröffentlicht die Staatsanwaltschaft gar die unverpixelten Fotos von 20 Demoteilnehmern auf ihrer Website. Und ermittelt schliesslich gegen über 60 Personen.

Seit Juli 2020 laufen die Prozesse. Insgesamt hat die Staats­anwaltschaft 38 Anklage­schriften eingereicht. Allesamt fordern sie hohe Freiheits­strafen – auch bei Menschen, die an jenem Tag einfach demonstriert und keine Gewalt angewendet haben.

IV. Der Tatbestand

Der Hauptanklagepunkt ist bei allen Fällen der gleiche: Landfriedens­bruch sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte.

Landfriedensbruch – Artikel 260 des Straf­gesetz­buches – ist eine kleine Anomalie im Schweizer Strafgesetz. Grundsätzlich gilt im Rechtsstaat, dass man nur für Straftaten verurteilt werden kann, die man selbst begangen hat. Nicht so beim Landfriedensbruch:

Wer an einer öffentlichen Zusammen­rottung teilnimmt, bei der mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalt­tätigkeiten begangen werden, wird mit Freiheits­strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

Landfriedensbruch trifft in der Regel Hooligans und Demonstrantinnen. Wichtig zu wissen ist aber: Die blosse Teilnahme an einer Demonstration – auch an einer nicht bewilligten – lässt sich im Sinne der von der Verfassung garantierten Rechte auf freie Meinungs­äusserung und Versammlungs­freiheit per se nicht juristisch verfolgen. Wenn aber einzelne Demonstranten Gewalt anwenden, kann das unter dem Tatbestand des Landfriedens­bruchs auch jenen angelastet werden, die danebenstehen, ohne gewalttätig zu werden.

«Letztlich kommt der Landfriedens­bruch dann zum Zug, wenn der Straf­verfolgung die Beweise für Gewalt­akte fehlen», sagt Peter Albrecht, emeritierter Rechts­professor der Universität Basel und ehemaliger Gerichts­präsident des Straf­gerichts Basel-Stadt. «Dabei sein genügt.»

Mit anderen Worten: Statt im Zweifel für den Angeklagten gilt beim Landfriedens­bruch in dubio pro magistratu – im Zweifel für die Behörde. «Dagegen kann man sich nur schwer wehren», sagt Professor Albrecht, der die jüngsten Entwicklungen in Sachen Landfriedens­bruch mit einer gewissen Beunruhigung verfolgt.

V. Die Auslegung

Der Straftatbestand des Landfriedens­bruchs stammt aus dem Mittelalter. Damals wurde er eingesetzt, um Verstösse gegen die Gesetze der herrschenden Monarchen zu ahnden. Die Monarchie ist längst verschwunden, der Landfriedens­bruch präsent wie nie. Von 1990 bis 1999 wurden gemäss Bundes­amt für Statistik pro Jahr im Schnitt 43,8 Erwachsene verurteilt. Von 2000 bis 2009 waren es 136,2. Von 2010 bis 2019 195,6 im Schnitt pro Jahr.

Harte Strafen für Landfriedens­bruch sind aber nach wie vor ungewöhnlich. So wurden 2015 bei 186 Verurteilungen 152 Personen mit einer bedingten Geldstrafe bedacht. Das geht aus einer Motion hervor, die der CVP-Ständerat Beat Rieder 2017 einreichte. Er forderte damals, dass der Landfriedens­bruch zwingend mit Freiheits­strafen einhergeht. Die Verschärfung des Gesetzes scheiterte am Nationalrat.

In Basel scheint man das Ergebnis dieser Diskussion verpasst zu haben. Oder man will einfach neue Tatsachen schaffen: Bei den 13 Prozessen, die im Rahmen der Anti-Pnos-Demonstration geführt wurden, wurden fast ausschliesslich Freiheits­strafen verhängt. Bislang nur eine unbedingt.

Woher die Härte?

In Basel werde immer repressiver gegen Demonstranten vorgegangen, sagt Andreas Noll. Der Straf­verteidiger vertritt Klientinnen in den laufenden Verfahren. Die Härte der Staats­anwaltschaft sei die eine Seite. «Das kann ich fast noch verstehen, das ist ihre Rolle», sagt Noll. «Aber manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dass sich das Gericht als Teil der Straf­verfolgungs­behörde sieht.»

Bei einem älteren Fall, den Noll behandelte – und bei dem es ebenfalls um Landfriedens­bruch ging –, veranlasste die zuständige Richterin, dass zusätzliche DNA-Analysen gemacht würden, die zur Beweis­last gegen den Angeklagten beitragen sollten. «Wenn Richter plötzlich Aufgaben der Staats­anwaltschaft übernehmen, ist das befremdlich.»

Auch SP-Grossrat und Straf­verteidiger Christian von Wartburg kritisiert den Umgang mit Artikel 260. Ihn stört vor allem, dass die Hürde, wegen Landfriedens­bruchs verurteilt zu werden, sehr tief angesetzt wird.

«In Deutschland wird der Tatbestand Land­friedens­bruch auf die eigentlichen Gewalt­täter eingeschränkt. In der Schweiz verlangte das Bundes­gericht früher zumindest noch die Billigung der Gewalt­tätigkeiten», sagt von Wartburg. Gegenwärtig verlange das Bundes­gericht jedoch keine manifeste Billigung mehr, sondern nur noch, dass die Person für den unbeteiligten Beobachter als Teil der Menge erscheint.

Von Wartburg sieht in dieser Hand­habung eine Bedrohung der Versammlungs­freiheit und der freien Meinungs­äusserung: «Wer heute in Basel mit der Absicht aus dem Haus geht, friedlich zu demonstrieren, geht ein erhöhtes Risiko ein, am Ende des Tages eines schweren Vergehens bezichtigt zu werden.» Er befürchtet einen Chilling-Effekt.

VI. Der Richter

Nicht nur die Straf­verteidiger äussern scharfe Kritik an der Basler Auslegung des Artikels 260. Auch Peter Albrecht, der selbst über 25 Jahre am Strafgericht Basel-Stadt Urteile sprach, hinterfragt die Verurteilung der jungen Frau zu acht Monaten Gefängnis. «Ein von meiner Warte aus – ohne Akten­einsicht zu haben – hartes Urteil.»

Zum Beispiel: Dass die Angeklagte in ihrem Schluss­plädoyer die Teilnahme an der Anti-Pnos-Demo mit den Worten rechtfertigt, es sei notwendig, gegen Nazis aufzustehen, und ankündigt, das auch weiter zu tun, wird ihr vom Gericht als schlechte Prognose ausgelegt.

Allein aus der Äusserung einer politischen Meinung eine Rückfall­gefahr abzuleiten, hält Albrecht für falsch. Auch, dass der Richter bei der mündlichen Urteils­begründung ein laufendes Verfahren gegen die Frau anführte, kritisiert der Altrichter scharf: «Freiheits­rechte und die Unschulds­vermutung sind elementare Grund­sätze unseres liberalen Rechts­staates. Solange jemand nicht verurteilt ist, gilt er als unschuldig. Punkt.»

Albrecht war während seiner Zeit als Richter über die Kantons­grenzen hinaus dafür bekannt, dass er die Anklage der Staats­anwaltschaft immer sehr kritisch untersuchte. Seine liberalen Urteile haben ihn bei den Straf­verfolgungs­behörden nicht beliebt gemacht, heisst es. Albrecht sagt: «Vielleicht habe ich es in puncto Beweis­würdigung genauer genommen als andere – ich habe sicher nie blind der Polizei geglaubt. Im Zweifel immer für den Angeklagten.»

Friedlich gegen Rechtsextreme demonstrieren? In Basel ein Risiko. Georgios Kefalas/Keystone

Besonders bei Anklage­punkten wie Landfriedens­bruch sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte werde er hellhörig. «Da habe ich schon oft Zweifel gehabt, ob die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Staats­anwaltschaft und der Polizei wirklich genügend ausgeprägt ist», sagt er.

Seine Kritik am Urteil gegen die 28-Jährige hatte Albrecht auch unmittelbar nach dem Prozess in einem Artikel in der «BZ Basel» geäussert.

Der verantwortliche Richter, René Ernst, SP, rechtfertigte daraufhin sein Urteil in der «Basler Zeitung» in einem ausführlichen Interview. Unter anderem mit den Worten: «Sie (die Angeklagte) ist in dieser Szene bekannt und hat etwas zu sagen.»

Weiter sagte Ernst: «Ich kann akzeptieren, dass das Urteil oder die Strafhöhe oder die Frage, ob unbedingt nötig war, diskutiert werden. Aber wenn der Schuld­spruch grundsätzlich infrage gestellt wird – da sollte man sich schon mit den Fakten besser vertraut machen.»

Besonders der letzte Satz hinterlässt bei einigen Straf­verteidigern in der Prozess­reihe, darunter auch bei Noll und von Wartburg, mehr als einen bitteren Beigeschmack. Als Replik haben sie einen offenen Brief in der «Basler Zeitung» und auf «Bajour» publiziert.

Richter Ernst, so das Schreiben, nehme mit seinen Äusserungen eine Bewertung der Gegen­demonstration als Ganzes vor, was einer Vorverurteilung der übrigen Angeklagten gleichkomme. Und da Ernst auch amtierender Gerichts­präsident sei, müsse davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um die Haltung des Gesamt­gerichts handelt. «Ein solches Vorpreschen während laufenden Straf­verfahren ist beispiellos.»

Die Verteidigerinnen verlangen mit Berufung auf den Verdacht der Befangenheit, dass ein anderes Gericht die Prozesse weiterführt. Im Stadtkanton Basel bedeutet das, dass ein anderer Kanton die Verfahren übernehmen müsste.

Das Gericht lehnt die Forderung ab. Das war zu erwarten. Es erklärt aber nicht, warum das Straf­gericht Basel-Stadt so harte Strafen verhängt.

Ein möglicher Grund ist der sogenannte Anchoring Bias. Mehrere Studien haben festgestellt, dass die Höhe der Straf­forderung der Staats­anwaltschaft einen Einfluss auf das Urteil hat – je härter die Forderung, desto härter das Urteil.

VII. Die Eskalationsspirale

«Als Richter will man immer auch verhindern, dass gegen ein Urteil Berufung eingelegt wird – egal ob vonseiten der Angeklagten oder des Staats­anwalts», sagt Andreas Noll.

Sollte das tatsächlich eine Strategie des Straf­gerichts Basel-Stadt sein, ist sie in der Prozess­reihe bemerkens­wert erfolglos. Selbst wenn die Richterinnen harte Strafen verhängen, legt die Staats­anwaltschaft Berufung ein – sogar beim Urteil acht Monate unbedingt.

Die Forderung der Staats­anwaltschaft: zwölf Monate unbedingt.

Noll erklärt sich die Härte des Gerichts auch noch anderweitig: «Die Richter sind es doch leid und müde, immer wieder über Landfriedens­brüche zu urteilen. Vielleicht versprechen sie sich von den harten Urteilen, dass endlich mal Ruhe ist in Basel.»

Sicher ist, wer mit Szene- und Justiz­kennerinnen aus Basel spricht, hört immer wieder: Es ist eine Eskalations­spirale im Gang, die sich immer tiefer in die Stadt schraubt. Wann das anfing, darüber gehen die Meinungen auseinander. Manche sagen, der Auslöser war der sogenannte Favela-Protest.

Im Mai 2013 baut der Künstler Tadashi Kawamata im Rahmen der Art Basel ein «Favela Café» in Elends­viertel-Optik. Ungefähr 100 Personen protestieren gegen die als geschmacklos empfundene Kunst­installation, indem sie eine Party daneben feiern. Die Polizei stürmt die feiernde Gruppe und stellt die Musik­anlage sicher, setzt dabei Gummi­schrot und Pfeffer­spray ein. Verhaftungen gibt es keine.

Eine Chronologie der Eskalation

Das Folgende ist eine Auswahl von Versammlungen, die seit dem Favela-Protest in Basel zu Polizei­einsätzen, Verhaftungen oder Straf­verfahren geführt haben.

Mai 2014, die Pappteller-Affäre: Als Erinnerung an den Favela-Protest wollen Kunst­studentinnen während der Art Basel eine Menschen­kette bilden und mit Papptellern vor dem Gesicht an den willkürlichen Polizei­einsatz erinnern. Die Polizei verbietet die Aktion, und als dann trotzdem mehrere Menschen mit Papptellern in der Nähe des Messe­platzes auftauchen, werden sie von der Polizei kontrolliert und in Untersuchungs­haft gebracht. Sie müssen sich ausziehen, und ihnen wird DNA entnommen. Im Februar 2017 kommt das Appellations­gericht zum Schluss, die Polizei habe unverhältnis­mässig gehandelt.

März 2016, der Matthäuskirchen-Eklat: Im Rahmen des Kirchen­asyls, das Flüchtlingen von der Matthäus­kirche gewährt wird, kommt es zu einer unbewilligten Demonstration, die schliesslich blockiert wird, die Polizei setzt Gummi­schrot und Tränengas ein. Eine über 60-jährige Demonstrantin wird von einem Polizei­geschoss am Kopf getroffen und leicht verletzt.

April 2016, der Plattformkrawall: Nach einem Spiel des FC Basel gegen den FC Zürich kommt es vor dem Stadion zu Ausschreitungen, die Polizei schiesst Gummi­schrot, ein Mann verliert sein Augen­licht. Es kommt zu einem Verfahren gegen den Schützen, bei dem der Polizist mit Hinweis auf Notwehr freigesprochen wird.

Juni 2016, «Basel 18»: Bei einer unbewilligten Demonstration gegen Rassismus, Repression, Vertreibung und Gentrifizierung kommt es zu diversen Sach­beschädigungen. In einem aufsehen­erregenden Sammel­prozess gegen 18 mutmassliche Teilnehmerinnen der Demo wird gegen alle dieselbe Anklage erhoben. Das Gericht verurteilt 15 von ihnen zu Freiheits­strafen wegen qualifizierter Sach­beschädigung, Landfriedens­bruchs, Gewalt gegen Beamte und weiterer Delikte.

Januar 2018, die Homeparty-Räumung: Die Polizei stürmt eine private Party mit dem Einsatz von 2 Kastenwagen, 5 Fahrzeugen und 20 Beamten. Der Vorwurf: Ruhestörung. Die Anwesenden seien vorwiegend «der Partyszene und teilweise der linksextremen Szene zuzuordnen», sagte der Polizei­sprecher später. 5 Personen verbringen bis zu 36 Stunden in einer Polizeizelle. Ihnen wird DNA entnommen. Sie müssen wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte und Hinderung von Amtshandlungen vor Gericht.

Mai 2020, Tag der Arbeit: Trotz der Corona-Verordnung des Bundes, wonach Menschen­ansammlungen mit mehr als 5 Personen verboten sind, zieht eine Demo mit rund 300 Menschen durch die Stadt. Die meisten wahren Abstand, viele tragen Maske. Die Polizei kontrolliert diverse Personen, mehr als 45 erhalten einen Strafbefehl und werden zu Geldstrafen von 1600 Franken verurteilt.

Juni 2020, 1 Jahr Frauenstreik: Ein Jahr nach dem grossen schweizweiten Frauenstreik findet in Basel eine kleine, covidbedingt unbewilligte Demo statt. Die Polizei kesselt die vornehmlich weiblichen Demonstrantinnen auf einer Brücke ein, fotografiert und büsst jede einzelne Teilnehmerin mit 100 Franken. Als die Basler Nationalrätin Sibel Arslan zu vermitteln versucht, wird sie von der Polizei am Arm gepackt und davongeführt.

Juli 2020, Staats­anwaltschafts-Protest: Nachdem die Anklage­schriften in den «Basel nazifrei»-Prozessen verschickt sind, kommt es vor den Büros der Staats­anwaltschaft zu einer Demonstration, an der rund 100 Personen teilnehmen. Die Polizei greift ein, führt Personen­kontrollen durch, die Demonstranten bleiben friedlich. Im Herbst erhalten sie trotzdem Vorladungen. Ihnen wird vorgeworfen, sich nicht auf Geheiss der Polizei entfernt zu haben. Beobachter schildern aber, dass die Demonstrantinnen so eingekesselt wurden, dass sie sich gar nicht entfernen konnten.

Strafverteidiger Andreas Noll attestiert der Staats­anwaltschaft einen «gewissen Übereifer», wenn es um linke Demonstrationen geht: «Das ist auch in Bezug auf Personal­aufwand und Ermittlungs­kosten eine Frage der Verhältnismässigkeit.»

Die regelmässigen Zusammen­stösse von Straf­verfolgung und Demonstrantinnen in Basel werden polizei­intern als Katz-und-Maus-Spiel bezeichnet, wie ein Beamter Noll gegenüber explizit erklärt haben soll. «Die Polizei und die Staats­anwaltschaft fühlen sich provoziert. Es ist, als ob sie glaubten, die Demonstranten gingen nur auf die Strasse, um ihnen Ärger zu machen.»

Leistet sich die Basler Straf­verfolgung auf Kosten der Steuer­zahlerinnen eine Privat­fehde mit einem Teil der Bevölkerung?

Und falls ja – was bedeutet das für Basel, wenn jene Behörde, bei der das Gewalt­monopol liegt, sich so gebärdet?

VIII. Die Kontrolleure

Das Departement für Justiz und Sicherheit Basel-Stadt nimmt schriftlich dazu Stellung: «Die Kantons­polizei hält die Meinungs­freiheit hoch und ermöglicht, wann immer es geht, die Durch­führung von Demonstrationen. (...) Nur ganz wenige Kund­gebungen werden nicht bewilligt oder führen zu polizeilichen Interventionen. Gleichbleibend ist weiter auch der Auftrag, Delikte im Rahmen von Kund­gebungen (zum Beispiel Sach­beschädigungen) zu verhindern oder zu verzeigen. Welchem politischem oder anderweitigem Milieu mutmassliche Täter zugehören, spielt dabei keinerlei Rolle.»

Ob die Polizei sich jeweils korrekt verhalte, könne er nicht beurteilen, sagt Altrichter Albrecht. «Das müsste untersucht werden.»

Es ist die alte Frage: Wer kontrolliert die Kontrolleure?

Im Fall der Nazifrei-Demonstration wurde Anzeige gegen die Polizei und den Mittel­einsatz erstattet. Die Anzeige ist bei der Staats­anwaltschaft hängig, der Ausgang unklar.

Die Erfahrung zeigt aber: Sich in Basel bei der Staats­anwaltschaft über die Polizei zu beschweren, kann für Demonstrantinnen gefährlich werden.

Hinweis: In der Box zur Chronologie der Eskalation haben wir den Matthäuskirchen-Eklat falsch datiert. Korrekt ist der März 2016. Wir entschuldigen uns dafür.

Zur Kooperation mit «Bajour»

Am Prozess, an dem die 28-Jährige zu acht Monaten unbedingt verurteilt wurde, waren unabhängig voneinander zwei Journalisten akkreditiert. Anja Conzett für die Republik und Daniel Faulhaber für «Bajour». Als das ungewöhnlich harte Urteil feststand, entschieden Conzett und Faulhaber, ihre Recherchen zusammenzulegen und einen gemeinsamen Hintergrund­beitrag zu schreiben, der in beiden Medien erscheint. Daniel Faulhaber ist Preisträger der Kategorie Newcomer des Zürcher Journalisten­preises, seit sechs Jahren Journalist in Basel, seit 2019 bei «Bajour». Er hat mehrere Prozesse in der Reihe «Basel nazifrei» besucht und war an der Demonstration vom 24. November 2018 als freier Reporter vor Ort.

Der Basel-Report

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