Zu spät
Die Schweiz bewegt sich gerade auf den zweiten tödlichen Corona-Winter zu. Jetzt bleiben noch drei Optionen. Keine davon ist schmerzfrei.
Eine Analyse von Elia Blülle, Oliver Fuchs und Marie-José Kolly, 26.11.2021
Die Lage ist als sehr ungünstig einzustufen, mit einer Tendenz zu einer weiteren Verschlechterung.
Zurzeit sind schweizweit 20 Prozent der Intensivbetten durch Covid-19-Patienten belegt. Die Bedingungen für Massnahmenverschärfungen sind nicht gegeben.
Was wir alle kaum mehr für möglich gehalten haben, ist tatsächlich eingetroffen: Corona-Alarmzustand. Zum … ja, wievielten Mal?
Die Zahl der Infektionen und Spitaleintritte mit Covid-19 steigt in der Schweiz wieder exponentiell.
Noch hoffen der Bundesrat und die Kantonsregierungen auf ein Wunder. Darauf, dass der erneute Appell an die Eigenverantwortung wirkt, sich die Menschen besinnen, impfen lassen, von selbst einschränken. In der Pressekonferenz vom vergangenen Mittwoch betonte Bundesrat Alain Berset wiederholt die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen.
Doch die Eigenverantwortung, strapaziert von der ersten, zweiten, dritten, vierten Welle, wird sich nun erst recht nicht mehr einstellen.
Viele Geimpfte fragen sich: Wieso sollten sie jetzt noch einmal zurückstecken, wo man ihnen doch back to normal versprochen hatte?
Und viele Ungeimpfte werden nach einem halben Jahr Bedenkzeit wohl kaum in einem sofortigen Akt der unvermittelten Einsicht ihre Impftermine buchen. Die Schweizer Politik hat es verpasst, sie kommunikativ früh mit ins Boot zu holen. Dieses Versäumnis jetzt noch aufzufangen – das wird mindestens schwierig, und es ist wahrscheinlich unmöglich.
Die wissenschaftliche Taskforce rechnet damit, dass die Spitäler bereits im Dezember an ihre Grenzen kommen werden. Was jetzt? Was gibt es noch für Optionen? Reale, nicht irgendwelche Luftschlösser?
Keine, die man wirklich wollen kann. Denn alle Auswege, die noch zur Verfügung stehen, kollidieren jetzt entweder mit fundamentalen Grundrechten oder sie sind sehr ungerecht. Es sind im Kern drei.
1. Der Shutdown: Die Kollektivierung aller Konsequenzen
Seit Montag gelten in Österreich wieder die ganztägigen Ausgangsbeschränkungen. Ohne triftigen Grund darf niemand vor die Tür. Ein Déjà-vu: Die Intensivstationen drohen überfüllt zu werden, und die Regierung zieht mit dem Shutdown die Notbremse.
Sollte in der Schweiz die Inzidenz – also die Zahl der Infektionen pro 100’000 Einwohnerinnen – auf dasselbe Tempo beschleunigen wie in Österreich, droht auch uns wieder dasselbe Szenario wie vor einem Jahr: geschlossene Restaurants, abgesagte Konzerte und Homeoffice.
Von solchen Inzidenzwerten sind wir nicht mehr allzu weit entfernt. Wobei in der Schweiz gleichzeitig viel weniger getestet wird – und viele Fälle unentdeckt bleiben.
Mittlerweile wissen wir, dass ein Shutdown zwar ein effektives Instrument ist, um die Pandemie kurzfristig unter Kontrolle zu bringen, eine Überlastung des Gesundheitswesens abzuwenden. Doch die finanziellen und psychischen Konsequenzen sind – je nach Bevölkerungsgruppe – massiv.
Auch heute würde ein Shutdown die Intensivstationen wohl vor einer Überlastung schützen. Doch anders als vor einem Jahr müsste sich die Bevölkerungsmehrheit dabei nicht mehr mit den besonders gefährdeten Personen solidarisieren. Sondern mit den Ungeimpften – also jenen, die sich gegen den Schutz entschieden und so ein erhöhtes Risiko eingehen.
Anders gesagt: Vor einem Jahr schützte die Mehrheit eine Minderheit, die keine Wahlmöglichkeit hatte und sich vor der drohenden Gefahr einer schweren Erkrankung nicht schützen konnte. Heute hingegen schützt sie die Minderheit, die eine Wahl hatte und hat.
Neben Patientinnen, deren Immunsystem wegen ihres Alters oder einer Erkrankung trotz Impfung keinen starken Immunschutz aufgebaut hat, liegen grösstenteils Ungeimpfte im Spital. Mit einem erneuten Shutdown müssten alle gemeinsam deren selbst gewähltes Risiko tragen.
Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Mehrheit, die sich hat impfen lassen. Eine Kollektivierung der Konsequenzen. Das Versprechen, mit der Impfung die Normalität zurückzuerlangen, würde gebrochen. Das Problem nur vertagt: Bleibt die Impfquote und damit die Gesamtimmunität in der Schweizer Bevölkerung tief, werden wir in absehbarer Zeit keinen endemischen Zustand erreichen – also jenen Zeitpunkt, bei dem die meisten Menschen immun sind und die Zahl der Erkrankungen nicht mehr exponentiell wächst.
«Wir müssen die Impflücken schliessen», sagte der Virologe Christian Drosten kürzlich zum Norddeutschen Rundfunk. Sonst wird der nächste Winter wieder zum Problem. Zu einem noch grösseren, falls eine noch ansteckendere Virusvariante entstehen sollte.
So hangeln wir uns von Welle zu Welle zu Welle zu Welle zu Welle, bis wir alle entweder geimpft, genesen – oder gestorben sind.
2. Das Impfobligatorium: Ein schwerer Eingriff in die Grundrechte
In Österreich soll die Impfung ab Februar obligatorisch sein. Und auch in Deutschland denken Politikerinnen laut über eine mögliche Impfpflicht nach. Bundesrat Alain Berset unterband ähnliche Diskussionen früh und bekräftigte am Mittwoch erneut, der Impfentscheid würde «freiwillig» bleiben.
In der Schweiz sieht das Epidemiengesetz vor, dass Bund und Kantone Impfungen von gefährdeten Personengruppen und bestimmten Personen unter engen Voraussetzungen für obligatorisch erklären könnten.
Gemäss geltendem Recht kann aber niemand gezwungen werden, sich impfen zu lassen.
Die Bundesverfassung garantiert die persönliche Freiheit und schützt damit die Bevölkerung vor staatlichen Eingriffen in die körperliche und geistige Integrität. Eine allgemeine Impfpflicht würde Heerscharen von Möchtegern-Märtyrern schaffen, wirkte in einigen Milieus wohl kontraproduktiv auf die Impfmotivation und wäre ein schwerer Eingriff in die Grundrechte.
Einfacher wäre es, den Impfdruck zu erhöhen, indem nur noch Genesene und Geimpfte ein Zertifikat erhielten und der Nachweis ausgeweitet würde – etwa auf den öffentlichen Verkehr. Aber auch dafür dürfte es bereits zu spät sein. Das haben die Ereignisse in Österreich gezeigt. Die dortige Regierung hat in der Verzweiflung einen harten Lockdown erst nur für Ungeimpfte beschlossen. Und ist damit bereits nach wenigen Tagen gescheitert.
3. Triage nach Impfstatus: Radikale Eigenverantwortung
Ohne erneuten Shutdown oder einen explosiven Anstieg der Impfquote blieben noch zwei Szenarien: Entweder schrammen wir an der Katastrophe vorbei – mit geschlossenen Augen, gekreuzten Fingern, Zehntausenden Booster-Impfungen und dem Selbstschutz derjenigen, die noch mögen.
Oder das Gesundheitswesen gerät wieder an den Anschlag. Das bereits ausgebrannte Personal ginge noch einmal durch die Hölle. Und die Spitäler müssten ethisch schwierigste Entscheide fällen: selektionieren, wer nach den üblichen Schweizer Standards behandelt werden sollte – und wer nicht.
Es droht eine Situation, in der Spitäler ihre Patienten priorisieren müssen, und im schlimmsten Fall sogar die Triage. Gibt man auf einer vollen Intensivstation einem geimpften 75-jährigen Covid-Patienten den Vorzug oder einer ungeimpften schwangeren Covid-Patientin? Einer Person, die dringend eine Herzoperation bräuchte? Oder einem ungeimpften 40-Jährigen, dessen Infektion einen schweren Verlauf nimmt?
Überlastung bedeutet auch, dass eine Patientin die Intensivstation nach einer Tumoroperation früher verlassen muss, weil sie die spezialisierten Mediziner und Pflegerinnen weniger dringend benötigt als der intubierte Covid-19-Patient. Zusätzlich droht bei Engpässen in den Spitälern auch eine sogenannte «stille Triage» – dabei werden Menschen mit niedrigerer Lebenserwartung gar nicht mehr vom Altersheim ins Spital gebracht.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat ihre Richtlinien während der Pandemie mehrmals überarbeitet und um Kriterien für die Triage bei Ressourcenknappheit ergänzt. Im letzten Halbjahr ertönte im Widerspruch zu diesen Richtlinien immer wieder die radikale Idee, Geimpfte bei einer schweren Covid-19-Erkrankung auf den Intensivstationen zu bevorzugen. Vonseiten der Politik, aber auch im Republik-Dialog.
In letzter Konsequenz würde die Eigenverantwortung – so, wie sie der Bundesrat propagiert – genau das verlangen: Der geimpfte 75-Jährige, dessen geschwächtes Immunsystem auf die Impfung ungenügend reagiert hat, müsste den Vortritt bekommen. Und jene, die sich bewusst gegen den Immunschutz entscheiden, müssten ihm diesen Vortritt auch gewähren.
Eine solche Ungleichbehandlung von Ungeimpften ist mit den Werten unserer Gesellschaft (und der Medizin) jedoch ebenso wenig vereinbar wie eine Verweigerung ärztlicher Behandlung und Pflege für Raucherinnen und andere Menschen, deren Erkrankung unter anderem durch ihren Lebensstil hätte zustande kommen können.
So oder so: Jede Form von Triage ist eine Bankrotterklärung des Staates.
Die Quittung
Ungeimpfte nicht behandeln: geht nicht. Impfpflicht: geht kaum. Und die Geimpften in einen weiteren Shutdown zu schicken, wäre ungerecht und würde all jene bestrafen, die sich vernünftig an die Empfehlungen halten.
Die Langzeitfolgen von Ungerechtigkeit kennen wir: Zynismus, Misstrauen, Verständnislosigkeit und irgendwann dann auch Wut.
Die Politik reagierte in der Schweiz immer wieder, anstatt zu agieren. Sie schreckte davor zurück, eine laute, wissenschaftsskeptische Minderheit zu verärgern, anstatt auch die Bedürfnisse der stillen Mehrheit zu gewichten. Und die Verantwortungsdiffusion hat sich nie aufgelöst: Am Mittwoch verlangte der Bundesrat Massnahmen von den Kantonen, die ihrerseits am Donnerstag den Bund zum Handeln aufriefen. Die gleiche alte Leier. Jedes. Verdammte. Mal. Von. Neuem.
Jetzt, nach fast zwei Jahren Pandemie, kommt die Quittung dafür. Die wissenschaftliche Taskforce des Bundes rechnet damit, dass die Schweiz in drei Wochen ähnliche Inzidenzen verzeichnen wird wie Österreich heute. Und steigen sie weiter an, dürften die Spitäler bereits im Dezember voll sein.
Frohen Advent allerseits.