«Am schlimmsten ist die stille Triage»

Von Covid-19 sind Betagte und Arme überproportional betroffen. Das liegt auch an unserer Gesellschaft, sagt die Medizin­ethikerin und Ärztin Tanja Krones. Und: Das Schweizer Gesundheitssystem funktioniert nur in guten Zeiten.

Ein Interview von Daniel Binswanger (Text) und Philip Frowein (Bilder), 21.12.2020

Die Spitäler sind am Limit. Der Bundesrat hat neue Massnahmen erlassen, aber noch ist offen, ob sie ausreichen, um die Situation in den Kliniken zu verbessern. Wie weit gehen die ethischen Verpflichtungen der Schweizer Regierung gegenüber den kranken und vulnerablen Bürgerinnen? Erhalten Covid-Patienten noch die ihnen zustehende Behandlung? Findet bereits eine Triage aufgrund von Ressourcen­knappheit statt? Und wenn triagiert werden muss: Wie macht man das auf die menschlich vertretbarste Weise?

Es sind brutale Fragen, mit denen die Schweiz heute konfrontiert ist. Tanja Krones, Co-Leiterin des Klinischen Ethik­komitees am Universitäts­spital Zürich, ist mitverantwortlich für die Triage-Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, die letzte Woche aktualisiert worden sind und auf deren Grundlage Entscheide über Leben und Tod gefällt werden. Tagtäglich ist die Gesundheits­expertin in der grössten Klinik der Schweiz konfrontiert mit der Situation, mit den Fragen, welche Patientinnen priorisiert werden sollen, wie man die Ressourcen­knappheit am besten verwaltet und was ethisch noch vertretbar ist. Und was nicht.

«Dieses ‹Wir sind stark, wir sind gut, wir haben es im Griff› lässt uns in der Schweiz manchmal den Blick für die Realitäten verlieren»: Tanja Krones.

Frau Krones, die Lage ist angespannt. Wie erleben Sie das aus der Perspektive der Verantwortlichen für klinische Medizin­ethik im grössten Spital der Schweiz?
Die letzte Woche war schlimm. Es war tatsächlich so, dass wir kurzfristig gar kein freies Bett mehr hatten. Das ist extrem belastend. Wir haben jetzt wirklich Situationen, in denen die Nerven blank liegen. Wir sind am Anschlag.

Das Universitäts­spital Zürich hat ein maximales Stress­niveau erreicht. Nimmt da die generelle Pflege­qualität bereits ab?
Ich habe den Eindruck, gerade die Ärztinnen und Pflege­fachkräfte, die sich um die Corona-Patienten kümmern, geben alles. Das Problem ist eher: Wir sind wie auf einem endlosen Marathon, und wir haben grosse Angst, dass wir um Weihnachten einbrechen. Man kann Reserven mobilisieren in Krisen­situationen, es ist erstaunlich, wozu die Leute fähig sind. Aber ein Ausnahme­kraftakt kann nicht ewig andauern.

Zur Person

Tanja Krones ist Ärztin und Soziologin. Seit 2009 ist sie leitende Ärztin am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizin­geschichte sowie Geschäfts­führerin des Klinischen Ethik­komitees des Universitäts­spitals Zürich. Sie ist mitverantwortlich für die soeben aktualisierten Triage-Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften.

Sie sagen, Sie versuchen, die Triage zu vermeiden. Aber Sie müssen vermutlich schon heute sehr hart priorisieren.
Ja, wir müssen priorisieren. Wir müssen nicht dringende Operationen verschieben, um die nötigen Kapazitäten sicher­zustellen. Dafür analysieren wir jeden Fall sorgfältig: Ist ein Eingriff wirklich unverzichtbar, können wir ihn verschieben oder gibt es einen anderen Patienten, dessen Behandlung wir gefahrloser hinaus­zögern können? Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften hat gerade die Triage-Richt­linien überarbeitet und neu aktualisiert. An diesen Leitlinien der Akademie habe ich als Mitglied der Nationalen Ethik­kommission ebenfalls mitgearbeitet.

Weshalb brauchte es neue Triage-Richtlinien?
Als die Akademie die erste Version der Triage-Richtlinien dieses Jahr veröffentlichte, gab es relativ wenige Reaktionen in der Öffentlichkeit, vermutlich, weil die erste Welle damals schon am Abflachen war und wohl der Eindruck vorherrschte, es handle sich um rein theoretische Fragen. Heute gibt es eine intensive öffentliche Debatte, was grund­sätzlich zu begrüssen ist. Die Richt­linien richten sich zwar an die auf den Intensiv­stationen tätigen Fach­personen, werden aber auch von Laien gelesen. Dabei ist deutlich geworden, dass gewisse Passagen teilweise zu knapp formuliert waren, was in der Bevölkerung zu Miss­verständnissen führte. Ziel der Richt­linien ist das Gegenteil: Klarheit schaffen durch schweizweit einheitliche Kriterien. Es hat sich gezeigt, dass gewisse Anpassungen sinnvoll sind.

Welche?
Zum Teil wurde geltend gemacht, das Alter der Patientinnen sei ein zu hoch gewichtetes, zu absolutes Bewertungs­kriterium. Deshalb wurden die Richt­linien in der Folge konkretisiert durch die in der Alters­medizin standard­mässig angewandte sogenannte Gebrechlichkeits­skala: Ausschlag­gebend ist also der generelle gesundheitliche Zustand eines hochbetagten Menschen und nicht das rein chronologische Alter. Das wiederum hat die Behinderten­verbände auf den Plan gerufen. Sie sorgen sich darum, dass dieses Kriterium fälschlicher­weise auch für Menschen mit Behinderungen angewendet wird. In der neuen Überarbeitung haben wir stärker präzisiert und verdeutlicht, dass allein die kurzfristige Prognose entscheidend ist.

Was heisst das genau?
Die geschätzte verbleibende Lebens­zeit wird nicht mit in die Abwägung einbezogen, sondern es zählt ausschliesslich die Vorgabe, möglichst viele akut bedrohte Leben zu retten. Leben sollen gerettet werden, nicht Lebensjahre.

Enthalten die Richt­linien auch Aussagen zu den generellen Rahmen­bedingungen für die medizinische Versorgung der Bevölkerung, die gewährleistet werden müssen?
Die neuen Richtlinien bringen auch deutlich zum Ausdruck, dass die Behörden und die Politik eine ethische Verpflichtung haben, was die Entlastung der Spitäler angeht. Zudem sprechen sie die internationale Solidarität an.

Internationale Solidarität?
Denken Sie zurück an die erste Welle. Da konnten zwar Menschen aus Frankreich in der Schweiz behandelt werden, aber warum haben wir damals keine Patienten aus Italien in die Schweiz übernommen? Das ist doch sehr erklärungs­bedürftig. Es wurde damals aus den Reihen der Politik gesagt: Patienten aus Italien konnten wir keine aufnehmen, weil die Tessiner Spitäler damals voll waren. Aber das ist natürlich unsinnig: Weshalb soll man Patientinnen aus der Lombardei nicht in Zürich behandeln? Italienische Patienten wurden schliesslich auch nach Deutschland ausgeflogen.

Und was folgt für die neuen Richt­linien daraus?
Die Richtlinien halten fest, dass die Gesellschaft und damit die Politik verpflichtet ist, Menschen­leben zu schützen. Im Extremfall bedeutet dies auch eine Verpflichtung zu inter­nationaler Solidarität. Wir Medizin­ethikerinnen haben uns jetzt auch dahinter­gestellt, dass die Spitäler sich nun direkt an die Medien wenden und lautstark sagen: Es muss sofort etwas geschehen.

Sie haben aber doch zu Beginn des Gesprächs gesagt, die Triage könne weiterhin vermieden werden?
Bisher haben wir es in der Schweiz auch mit einer Priorisierung und nicht mit einer echten Triage zu tun. Auch wenn wir jetzt die Kreise enger ziehen müssen und eine Behandlung vielleicht nicht mehr für sinnvoll erachten, die wir zu Nicht-Corona-Zeiten gemacht hätten – was natürlich schwierige Entscheide sind und uns sehr wehtut. Wenigstens können wir aber dazu Sorge tragen, solche Entscheide nach transparenten und ethisch vertretbaren Kriterien zu fällen. Am schlimmsten ist die stille Triage.

Stille Triage?
Wir stellen fest, dass es viele Patienten gar nicht mehr in die Spitäler schaffen, auch wenn sie sehr krank sind. Sie werden nicht mehr überwiesen. In manchen Pflege­heimen und Hausarzt­praxen scheint die Haltung vorzuherrschen: Wenn eine schon 85 ist, hat es keinen Sinn mehr, das Spital­system zu belasten. Die behalten wir bei uns. Dies ergibt nur dann Sinn, wenn die Patientin selbst eine Einweisung nicht mehr möchte und eine ausreichende Palliativ­versorgung gewähr­leistet ist. Wir bekommen deshalb wohl viele Fälle gar nicht mehr zu Gesicht. So kann aber auch keine Beurteilung unsererseits erfolgen, und der Patient bekommt unter Umständen keine faire Chance.

Eine Statistik des Kantons Genf hat gezeigt, dass die überwiegende Mehrzahl der Verstorbenen über 80-jährig ist, dass aber auf den Genfer Intensiv­stationen nur ein ganz kleiner Bruchteil der Behandelten in diese Alters­kategorie gehört. Wie erklären Sie sich dieses Missverhältnis?
Solche Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das ist die stille Triage. Es gibt aber noch einen anderen zentralen Punkt. Es bestehen soziale Unter­schiede bei den Todes­fällen, über die viel zu wenig geredet wird.

Wie meinen Sie das?
Corona ist eine soziale Krankheit. Wer stirbt? Es ist vorderhand zwar nur ein Erfahrungs­wert, weil wir in der Schweiz die soziale Klasse, das heisst primär die Einkommens­klasse der Verstorbenen, nicht erheben. Ich bin aber mit vielen Beobachterinnen der festen Überzeugung, dass es vorwiegend die Armen sind, die sterben.

Wie stellen Sie das fest?
Man weiss, dass bei den hospitalisierten Covid-Patienten im mittleren Alter viele in prekären Berufen arbeiten und deshalb besonders exponiert sind, weil sie nicht im Homeoffice arbeiten können. Diese Menschen sind auch ganz generell in einem schlechteren gesundheitlichen Zustand als der Durchschnitt der Bevölkerung. Richard Horton, der Chef­redaktor des «Lancet», hat für Corona den sehr treffenden Begriff der «Syndemie» lanciert. Corona ist weniger eine Pandemie als eine Syndemie: Tödlich wird das Virus ganz besonders da, wo es zusammen­trifft mit ungünstigen sozialen Bedingungen.

Die Opfer-Asymmetrien können wir statistisch feststellen. Seit mehreren Wochen hat die Alters­gruppe der über 80-Jährigen die mit Abstand höchsten Ansteckungs­raten. Diejenigen Mitbürgerinnen, die am besten geschützt werden müssen, sind dem Virus de facto am stärksten ausgesetzt.
Das liegt an den Pflege­heimen. Unter den heutigen Bedingungen ist es extrem anspruchs­voll, die Hoch­betagten in den Pflege­heimen zu schützen – und immer wieder gelingt es tragischer­weise nicht. Auch hier vollzieht sich übrigens eine Form der stillen sozialen Triage: Bei alten Menschen, die vielleicht gebrechlich sind, aber zu Hause leben können, weil sie sich eine private Betreuung leisten können, ist die Ansteckungs­gefahr geringer als bei einer Heim­bewohnerin, die von wechselndem Pflege­personal betreut wird und schon deshalb mehr Kontakte hat. Wer zu Hause wohnt, wird im Bedarfs­fall auch eher in ein Spital überwiesen. Die Heime überweisen nur noch wenige ihrer Bewohner – obwohl wir sie natürlich aufnehmen, wenn die medizinischen Voraussetzungen gegeben sind und die Patienten eine Intensiv­behandlung auch wirklich wollen.

Hat das nicht auch damit zu tun, dass man im Frühjahr Kampagnen organisiert hat, um die Heim­bewohnerinnen dazu zu bringen, Patienten­verfügungen zu machen? Sie haben sich damals auch dafür starkgemacht.
Patientenverfügungen sind eine extrem sinnvolle Sache. Aber es geht bei diesen Verfügungen selbst­verständlich nicht darum, dass die Leute unreflektiert oder gar aufgrund äusserer Erwartungen darin einwilligen sollen, sich nicht behandeln zu lassen. Wenn sie jedoch aufgrund ihrer eigenen Wert­vorstellungen und Überlegungen keine Intensiv­behandlung mehr wollen, muss das festgehalten werden. Wir würden sogar eine Körper­verletzung begehen, wenn wir jemanden gegen seinen Willen intensiv­medizinisch behandelten. Aber es geht auch um die Äusserung des Lebens­willens. Wenn jemand sagt, ich bin 86, ich bin im Pflegeheim, aber ich möchte behandelt werden, sollte ich schwer erkranken, dann ist das selbst­verständlich zu respektieren. Und so jemand hat das Anrecht auf eine Behandlung, wenn diese medizinisch indiziert ist und in einer Knappheits­situation die Triage­kriterien der Akademie der Medizinischen Wissenschaften bei dem Patienten nicht zutreffen.

Man muss aber fürchten, dass dieses Recht nur noch sehr partiell gewährt wird?
Diese Gefahr besteht. Wobei wir auch festhalten müssen, dass diese Fälle rein medizinisch nicht einfach zu bewerten sind. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass gerade hochbetagte Menschen mit Corona bei einer zu intensiven Behandlung schneller sterben. Die Intensiv­mediziner sind deshalb aus strikt behandlungs­technischen Gründen zurück­haltend damit, einen über 80-Jährigen an die Beatmungs­maschine zu hängen: Das kann die Prognose auch verschlechtern.

Tanja Krones: «Eigen­verantwortung ist in Schönwetter­zeiten gut …»
« …in Schlechtwetter­zeiten ist sie als Leitprinzip nicht brauchbar.»

Die Schweiz hat seit Wochen sehr hohe Todes­zahlen und will sich bisher immer noch nicht zu einem harten Lockdown entscheiden. In Deutschland ist die Sterblichkeit deutlich niedriger, und der Lockdown wurde durchgesetzt. Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Ich habe da vermutlich meine ganz eigene Brille auf, diejenige einer migrierten Deutschen, die seit zehn Jahren in der Schweiz lebt und zwei Seelen in ihrer Brust hat. Was ich aus meiner Perspektive sehe, ist der Swissness-Faktor, der uns in der Schweizer Gesellschaft teilweise daran hindert, den schwierigen Dingen ins Gesicht zu sehen. Wir glauben sehr lange, wir sind doch gut, wir haben gar kein Problem. Dieses «Wir sind stark, wir sind gut, wir haben es im Griff» lässt uns manchmal den Blick für die Realitäten verlieren. Das ist meines Erachtens ein wichtiger Faktor, weshalb wir jetzt in eine so dramatische Lage gekommen sind.

Jetzt sehen wir schon seit Wochen, dass die Mortalität viel zu hoch ist. Da muss es doch noch andere Gründe geben, weshalb wir immer noch nicht sehen wollen, dass wir die Dinge nicht im Griff haben.
In dramatischen Krisen zeigen sich in jedem Land spezifische Schwächen, auch bei uns. Ich bin überzeugt, die Mortalität ist auch dadurch stärker geworden, dass wir in unserem Gesundheits­system auch grosse Lücken haben, die schon lange vor der Corona-Krise bestanden. Gemäss den WHO-Kriterien verfügt die Schweiz auch nicht über eine vollumfängliche universal health coverage. Der Grund­gedanke der WHO-Bewertung von Gesundheits­systemen liegt darin, dass alle zentralen Gesundheits­leistungen, die der Daseins­fürsorge dienen, solidarisch finanziert werden müssen. Da haben wir grosse Lücken, zum Beispiel bei der Palliativ-Care und in der Pflege­versicherung. Die Schweiz hat ja gar keine obligatorische Pflege­versicherung. Generell setzen wir sehr stark auf Individualismus im Gesundheits­system, etwa mit den Kopf­prämien und den Franchisen.

Das führt zwar zu einer hohen finanziellen Belastung der niederen Einkommen, aber die Abdeckung ist doch gut.
Es ist ein gutes Modell, wenn es uns gut geht, aber ein schlechtes Modell, wenn es uns schlecht geht. Es gibt in der Sozial­epidemiologie das berühmte inverse care law von Julian Tudor Hart: Je stärker ein Gesundheits­system auf maximale Eigen­verantwortung und maximale Ökonomisierung setzt, desto weniger gut versorgt werden diejenigen, welche medizinische Hilfe am meisten brauchen – also die sozial Schwachen und ökonomisch Benachteiligten, die gesundheitlich in der Regel am vulnerabelsten sind. Neben den Pflege­heimen und der Palliativ-Care ist auch die IV bei uns stark unter­finanziert. Und alle diese Bereiche sind im Moment maximal belastet. Das kann nicht gut gehen. Wir müssen den Solidaritäts­gedanken systemisch stärken und die Lücken schliessen.

Seit fast einem Jahr predigen unsere Politiker pausenlos, nur die Eigen­verantwortung könne gegen Corona helfen. Sie hingegen sagen: Die hohe Gewichtung der Eigen­verantwortung im Gesundheits­system trägt zu den hohen Todes­zahlen bei.
Wie gesagt: Eigenverantwortung ist in Schönwetter­zeiten gut, wenn es den meisten von uns gut geht. In Schlechtwetter­zeiten ist sie als Leitprinzip nicht brauchbar. Da braucht es zum einen Solidarität. Und zum anderen für die Eindämmung der Ansteckungs­zahlen einheitliche, klare Regeln; Eigen­verantwortung reicht leider nicht.

Wie nimmt sich denn auf dieser Ebene der Vergleich zu Deutschland aus?
Deutschland hat im Gegensatz zur Schweiz eine Pflege­versicherung, die auch solidarisch finanziert ist. Palliativ-Care ist in Deutschland ein Teil der Regel­versorgung geworden, viel weitgehender als in der Schweiz. Die Bundes­republik hat zudem auch ein Hospiz- und Palliativgesetz. Sie liegt im weltweiten Ranking des «Quality of Death Index» zur affordability of palliative care auf Rang 6, die Schweiz auf Rang 18. Diese Unter­schiede machen sich nun bemerkbar. Da müssen wir uns bewegen.

Wir sollten aus dieser Krise also auch lernen?
Corona ist das Brennglas, das die Schwächen jedes Landes hervorbringt. Wir können das nutzen. Zum Beispiel sehen wir jetzt in aller Deutlichkeit, dass wir unbedingt Konzepte für kleine Pflege­heime entwickeln müssen. Wir sollten wegkommen von diesen Gross­institutionen. Wir müssen mehr Leute ausbilden für die Pflege, und wir müssen kleine Wohn­gruppen haben, die in die Städte kommen, wie in den Nieder­landen. Es ist viel zu riskant, wenn die Hoch­betagten in Gross­institutionen zusammen­leben, irgendwo auf der grünen Wiese. Jedes Jahr haben wir Krankheits­wellen in den Pflege­heimen, auch ohne Covid-Epidemie. Jedes Jahr gibt es Ansteckungen und Todes­opfer im Winter, wenn auch nicht so viele wie dieses Jahr. Da haben wir bisher einfach weggeschaut. Nicht nur in der Schweiz, auch in Deutschland. Diese System­faktoren müssen wir ändern.

Eine Voraussetzung dafür ist aber auch, dass wir mehr Pflege­kräfte haben.
Ja, wir brauchen mehr hoch qualifiziertes Personal, besonders auch mehr gut ausgebildete Kräfte in der Alten­pflege. Das müssen wir attraktiver machen. Teilweise werden schon heute gute Löhne bezahlt, zum Beispiel in der Intensiv­pflege, die einen sehr hohen Qualifikations­grad voraussetzt. Hier ist das Problem eher, dass der Job extrem fordernd ist und viele Pflegende es ganz einfach nicht schaffen, hundert Prozent zu arbeiten. In der Alten­pflege hingegen sind die Löhne wirklich extrem tief, und häufig ist auch die Ausbildung ungenügend. Wir müssen den Pflege­beruf generell so attraktiv machen, dass er für eine Maturandin oder einen Maturanden eine gute Perspektive bietet. Sonst können wir eine angemessene Versorgung gar nicht gewährleisten.

Frau Krones, zum Schluss: Was muss jetzt geschehen?
Die Reproduktions­zahl muss sofort stark runter. Die Fallzahlen müssen runter. Wir schaffen das sonst nicht.