Darum hat die reiche Schweiz eine der niedrigsten Impfquoten Westeuropas
Sechs Gründe. Keiner davon ist Impfskepsis.
Eine Recherche von Elia Blülle, Lukas Häuptli, Marie-José Kolly, Olivia Kühni (Text) und Klaas Verplancke (Illustration), 15.11.2021
Zwei Drittel.
Zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung sind mit zwei Dosen gegen das Coronavirus geimpft.
Am letzten Donnerstag waren es etwas über 5,6 Millionen Menschen, am vorletzten etwas unter 5,6 Millionen, dazwischen lag eine Woche, in der der Bundesrat die Impfquote nochmals spürbar erhöhen wollte. Der Erfolg blieb überschaubar. In sieben Tagen stieg die Quote lediglich um 0,58 Prozentpunkte; sie liegt jetzt bei 64,7 Prozent.
Das ist ein schlechter Wert, ein sehr schlechter gemessen an den anderen Staaten in Zentral-, West- und Nordeuropa. In Portugal sind heute 88 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft, in Spanien 80 Prozent, in Dänemark 76 Prozent. In Italien sind es 73 Prozent, in Frankreich 69 Prozent, in Deutschland 67 Prozent. Hinter der Schweiz liegt in dieser Rangliste mit 63 Prozent nur noch Österreich (Stand 13. November). Doch da lassen sich dieser Tage Zehntausende impfen – weil die Behörden nur noch Geimpften und Genesenen, nicht aber negativ Getesteten Covid-Zertifikate ausstellen.
Eigentlich hatte alles ganz gut angefangen. Die Schweiz schaffte es, sich als kleines Land im Alleingang genug Impfstoff zu sichern. Seit Anfang Sommer ist so viel hochwirksamer mRNA-Impfstoff verfügbar, dass jeder, der will, sofort einen Termin bekommt. Das ist respektabel.
Aber eben. Zwei Drittel.
So ist sie halt, die Schweiz. Ein Volk der Freiheitsliebenden, Aufrechten und Unbeugsamen, die sich gegen den behördlichen Imperativ des Impfens wehren, die sich nichts vorschreiben lassen und alles am liebsten selbst entscheiden. Die Schweiz – wieder einmal – als Sonderfall. Das ist die Erzählung, die in diesen Tagen viele gern bemühen.
Doch stimmt diese Erzählung? Dagegen sprechen die hohen Quoten bei den Kinderimpfungen, etwa gegen die Masern; sie liegen teils bei über 90 Prozent. Auch der Medizinhistoriker Flurin Condrau sagte im Interview mit der NZZ: «Historisch gesehen gibt es in der Schweiz (…) keine so ausgeprägte Impfskepsis, die den grossen Impfrückstand erklärt.»
Die Recherche der Republik zeigt, dass andere, handfeste Gründe für die tiefe Impfquote in der Schweiz ausschlaggebend sind.
Es sind im Wesentlichen sechs.
1. Es hätte ein klares Impfziel gebraucht
«Bis Ende Juni sollen alle, die es wünschen, gegen das Virus geimpft sein», sagt Bundesrat Alain Berset im Februar.
«Bis Ende Juni können sich alle impfen lassen, die das möchten», sagt er im März.
«Unser einziges Ziel ist, die Wahlmöglichkeit zu geben: Wer sich impfen lassen will, muss einen Zugang zur Impfung haben», sagt er im April zu SRF.
Monat um Monat sprechen Bundesrat und Kantonsvertreter zurückhaltend vom «Impfangebot». Erst seit Mitte Oktober kennt die Schweiz ein offizielles, konkretes Impfziel: Wenn 80 Prozent der 18- bis 65-Jährigen und 93 Prozent derjenigen über 65 gegen Covid-19 geimpft sind, könnten die noch geltenden Massnahmen fallen.
Trotzdem verwahrte sich der Gesundheitsminister Anfang November auch an der Medienkonferenz zur nationalen Impfwoche gegen konkrete Ziele für diese Woche. Es gehe nicht darum, den Erfolg oder Misserfolg der Veranstaltungen anhand von Eckwerten zu messen: Jede zusätzliche Impfung sei ein Erfolg.
Ganz anders planten etwa Frankreich oder die USA ihren Ausgang aus der Pandemie:
Frankreich setzte Ziele und erhöhte sie Schritt für Schritt: Am 15. Mai zum Beispiel erreichte man wie geplant 20 Millionen Erstgeimpfte und legte gleich das nächste objectif fest: 30 Millionen Erstgeimpfte bis Mitte Juni. Und US-Präsident Joe Biden gab persönlich konkrete Zahlen aus, an denen sich seine Regierung dann freilich auch messen lassen musste: Die USA verpassten etwa das am 4. Mai gesetzte Ziel, dass bis zum 4. Juli 70 Prozent der Erwachsenen mindestens eine Impfdosis erhalten haben sollten, um 3 Prozentpunkte.
Dennoch hatte die Vorgabe bewirkt, dass die involvierten Akteure ihre Planung und ihre Anstrengungen daran ausrichteten. Nachdem Präsident Joe Biden das Ziel der 70 Prozent verkündet hatte, passierten mehrere Dinge: Grosse Impfzentren übergaben immer mehr Impfdosen an kleinere Kliniken und mobile Impfteams. Apotheken verstärkten ihre Aktivitäten bei Covid-gebeutelten Bevölkerungsgruppen. Und das Weisse Haus informierte die Bevölkerung verstärkt über lokale Impfmöglichkeiten.
Wer ein Ziel hat, passt seine logistischen und kommunikativen Efforts an, um es zu erreichen. Er baut sein Angebot so, dass die Leute es auch wollen.
In der Schweiz dagegen hat man zwar eine bestimmte Impfstoffmenge bestellt – dann aber die Leute kommen lassen und geschaut, was passiert. «Sich kein Ziel zu setzen – es ist absurd», sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Suzanne Suggs von der Universität Lugano, die auch Mitglied der Science-Taskforce ist: Das gelte beim Organisieren einer Impfkampagne wie beim Betreiben eines Restaurants. «Sie müssen wissen, wie viele Tische im Lokal stehen und wie gut besetzt sie am Donnerstag-, Freitag- und Samstagabend sein werden, um die richtigen Mengen einzukaufen – und am Ende auf schwarze Zahlen zu kommen.»
Bei anderen Impfungen definieren die Schweizer Gesundheitsbehörden durchaus konkrete Ziele. Bei den Masern etwa: «Elimination». Bei Hepatitis B gemäss dem diesjährigen Schweizerischen Impfplan: «95% der 16-Jährigen bis 2030 vollständig (…) geimpft».
Weshalb nicht für das Virus, das seit bald zwei Jahren die gesamte Gesellschaft lähmt?
Ein Ziel zu kommunizieren bedeutet auch, dass man offen zugibt: Man möchte etwas von der Bevölkerung. Man möchte die individuelle Entscheidung, die jede und jeder eigenverantwortlich fällen darf, lenken. Hierfür hätten Schweizer Politiker, die die Pandemie lange mit Appellen an die Eigenverantwortung begleitet haben, etwas zurückrudern und stattdessen auf kollektive Ziele verweisen müssen.
Nun ist das mit der Eigenverantwortung so eine Sache, wie die Epidemiologin Julia Marcus vor einem Jahr zur Republik sagte: Der Begriff werde von Regierungen gebraucht, «die sich ihrer Verantwortung entledigen wollen».
Besonders sichtbar wird das etwa, wenn die Medienstelle des Kantons St. Gallen – einer der Kantone mit einer der niedrigsten Impfquoten der Schweiz – auf Anfrage der Republik schreibt: «Um 80% zu erreichen, müssen sich somit nochmals sehr viele Menschen in unserem Kanton impfen lassen. Ob dies gelingt, liegt ganz in der Hand der noch ungeimpften Personen. Ob das Ziel somit realistisch ist oder nicht, können wir Ihnen nicht sagen.»
Oder wenn Bundesrat Alain Berset sagt: «Ab dem Moment, wo alle Impfwilligen geimpft sind, ist das Ziel nicht mehr, die Impfunwilligen zu schützen. Ma foi.»
Dahinter steckt aber auch etwas noch viel Grundsätzlicheres. Die Schweizer Politik betont nicht nur die Eigenverantwortung, sie fährt auch tatsächlich und bewusst eine eigene Strategie der Pandemiebekämpfung.
Anders als viele andere Staaten will die Schweiz nicht primär Ansteckungen verhindern, sondern schwere Verläufe bei Personen aus Risikogruppen und damit eine Überlastung des Gesundheitswesens. Sie schützt also nicht jeden, sondern in erster Linie vulnerable Menschen. Das wirkt sich auch auf die Impfstrategie und das wiederum auf die Impfquote aus: «Im Januar 2021 haben wir nicht eine Massenimpfung, sondern eine Risikopersonen-Impfung geplant», sagt Christoph Berger, der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif).
Mit der damals zirkulierenden Alpha-Variante hätte auch die aktuelle Impfquote gereicht, um die Spitäler zu schützen, sagt er. Aber Delta, die seit dem Sommer 2021 dominierende Variante, ist ein anderes Kaliber: sehr viel ansteckender als Alpha. Damit steigt auch die Quote, die es zur Eindämmung braucht.
Ob man sie nun kommuniziert oder nicht.
2. Logistische Probleme
«Vertraulich» steht über dem Schreiben, welches das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am 30. März 2021 an die Kantone verschickt. Darin kündigt das Amt an, dass Moderna am nächsten Tag fast 370’000 Dosen mRNA-Impfstoff in die Schweiz liefern wird.
Es ist die erste grosse Impfstofflieferung und faktisch der Startschuss für das Massenimpfen in der Schweiz. Oder besser: Es könnte der Startschuss sein. Denn der Liefertag ist der Mittwoch vor Ostern, und damit fangen die Probleme an. Die Verteilung des Impfstoffs vom Bund auf die Kantone erfolgt nämlich nicht automatisch, sondern nur auf Bestellung. Längst nicht alle Kantone aber haben die ihnen zustehenden Kontingente bestellt. Deshalb bleibt ein grosser Teil des Impfstoffs beim Bund liegen.
Der Grund dafür: Zahlreiche Kantone können – oder wollen – den bereitstehenden Impfstoff über die Feiertage nicht verimpfen. Manche haben ihre Impfzentren noch nicht in Betrieb genommen, unter ihnen Zürich und St. Gallen. Andere haben sie über die Festtage grösstenteils geschlossen, etwa Bern, Aargau oder Uri. Dritte suchen noch nach geeignetem Fachpersonal. Und vierte wollen den Impfstoff von Hausärzten verimpfen lassen. Nur arbeiten die über die Festtage nicht.
Das alles ist aus zwei Gründen schlecht: Erstens verschärft sich just über Ostern die epidemiologische Lage in der Schweiz. Am 31. März 2021, dem Tag der erwähnten Moderna-Lieferung, meldet das Bundesamt für Gesundheit rund 2100 Corona-Infektionen.
Zweitens weist die wissenschaftliche Taskforce seit Wochen darauf hin, dass der Weg aus der Pandemie nur übers Impfen führt. Und sie hat ausgerechnet, dass jeder weitere Tag in der Pandemie einen volkswirtschaftlichen Schaden von täglich 50 bis 100 Millionen Franken beschert. Auch deshalb ist es entscheidend, ob ein Tag früher oder später geimpft wird.
Gut zwei Wochen später passiert das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen. Das BAG kündigt den Kantonen (die ihre Zentren mittlerweile in Betrieb genommen haben) für Freitag, den 16. April 2021, eine Lieferung von gut 350’000 Moderna-Dosen an. Doch geliefert wird am besagten Freitag nichts, vielmehr verschickt das Amt am Abend ein weiteres Schreiben. Dessen Inhalt: Moderna kann erst am Wochenende liefern, und zwar viel weniger als angekündigt: lediglich rund 70’000 Dosen. Die Kantone müssen deshalb einen Grossteil ihrer Impftermine absagen.
Die beiden Episoden sind symptomatisch für die logistischen Probleme beim Corona-Impfen in der Schweiz.
Dazu passt, dass sich weder der Bund noch die Kantone rechtzeitig um ergänzende Impfangebote bemühen. Mit diesen könnten einzelne Bevölkerungsgruppen ausserhalb der Zentren angesprochen werden, etwa Betagte, Fremdsprachige, sozial Randständige oder Personen, die unschlüssig sind, ob sie sich wirklich impfen lassen sollen. Alternative Impforte können Arztpraxen sein, Apotheken, Impfbusse, Firmen, Schulen oder Impfstände an Grossveranstaltungen wie Musikkonzerten oder Fussballspielen. Ziel: das Impfen möglichst niederschwellig anzubieten.
Schliesslich kommt es zu weiteren – mal kleineren, mal grösseren – Logistikpannen, die das Impfen zusätzlich verzögern:
So funktioniert die Impftermin-Software anfänglich nur mangelhaft – was das Vertrauen in die ganze Kampagne erschüttert.
So kauft der Bund Spritzen, die fürs Corona-Impfen ungeeignet sind.
Und so halten sich längst nicht alle Kantone an die Impfvorgaben des Bundes, die in den ersten Monaten gelten.
«Das Zusammenspiel zwischen Bund und Kantonen verlief nicht immer reibungslos», sagt Rudolf Hauri. Er ist Kantonsarzt von Zug und Präsident der Schweizer Vereinigung der Kantonsärztinnen und Kantonsärzte. Er räumt auch ein, dass zahlreiche Kantone ihre Impfzentren spät in Betrieb nahmen. «Zuerst war ich wie viele andere Kantonsärzte ein Verfechter davon, dass wir die Corona-Impfungen über die bestehenden Strukturen machen. Doch wir merkten schnell, dass das wegen der Logistik nicht mit der erforderlichen Geschwindigkeit geht. Rückblickend muss ich sagen: Man hätte früher auf Impfzentren setzen müssen.»
Aber selbst die beste Logistik nützt nichts, wenn niemand kommt. Man kann Menschen zur Impfung motivieren – oder sie sogar unbewusst davon abhalten.
Je nachdem, was man sagt.
3. Die Impfung ist da, wenn Sie mögen, aber nur, wenn Sie wollen
«Man hat in der Schweiz sehr neutral kommuniziert und die Impfung nie optimal beworben», sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Suzanne Suggs. Das werde dann besonders sichtbar, wenn man sich Reden von Politikern systematisch ansehe: «Der Begriff ‹individuelle Entscheidung› kommt dort unglaublich häufig vor.»
Und das stehe in krassem Gegensatz dazu, wie das Bundesamt für Gesundheit etwa während der HIV-Krise Kondome beworben habe, «auch in gewagteren Statements», sagt Suggs. Eine der Nachrichten habe im Prinzip gesagt: «Benutze ein Kondom, oder du liebst das Leben nicht.»
Diese Zurückhaltung bei der Covid-19-Impfung: Möglicherweise hat sie damit zu tun, dass auch die Behörden an die Erzählung vom Schweizer glauben, der sich nichts sagen lässt. Und damit, dass sie eine laute, impfskeptische Minderheit nicht verärgern wollten.
Christoph Berger von der Impfkommission sagt, man tue sich in diesem Land schwer mit der Frage, wie konsequent man eine Massnahme einfordern solle, die man für richtig halte. Aber er habe teilweise auch sehr kritische E-Mails erhalten, wenn er sich dezidiert positiv zu einer bestimmten Massnahme geäussert habe.
Symptomatisch hierfür ist auch das, was der Immunologe Daniel Speiser von der Universität Lausanne sagt: «Oft scheut man sich, das als Erstes zu sagen, ich tue es jetzt aber: Die Datenlage ist klar, sich nicht zu impfen ist unvernünftig. Impfen ist das Beste, was wir tun können, um die Pandemie zu beenden. Leider ist es heute eine Art Provokation, das zu sagen.»
Ängste vor Widerstand aus wissenschaftsskeptischen Ecken seien verständlich, aber schädlich für den Impffortschritt, sagt Kommunikationswissenschaftlerin Suggs. Und bei Politikern macht sie einen Mangel an Führung aus. «Wenn man dieser lauten Minderheit nicht entschieden entgegentritt und die wissenschaftlichen Erkenntnisse bekräftigt, gibt ihr das eine gewisse Legitimation.»
Die Bevölkerung also drängen? Darum gehe es nicht, sagt Suggs. «Aber gute Leader sind mutige Leader, sie sind gewissenhaft und kommunizieren das, von dem sie wissen, dass es für die Bevölkerung das Beste ist. Dieser Job ist schwierig. Und manchmal gefährlich. Aber es ist der Job, und er muss gemacht werden.»
Wer Angst davor hat, dass ihre politische Kommunikation auf sie zurückfällt, kann auf die Expertise von Kommunikationswissenschaftlern zurückgreifen. «Wie man ein Statement so positioniert, dass es das Publikum zu überzeugen vermag und dennoch präzise und ehrlich bleibt und keinen Raum für Mehrdeutigkeiten zulässt: Das ist wissenschaftlich erforscht», sagt Suggs.
Im vergangenen Winter präsentierte Suggs vor Mitarbeitern des BAG und der Ekif den wissenschaftlichen Konsens dazu, wie man Desinformation am besten kontert. Die Zuhörerinnen vom Bundesamt schätzten den Vortrag der Kommunikationswissenschaftlerin: Sie arbeiten an einer Publikation, die gängige Mythen als solche entlarven soll.
Als diese auf der Website des BAG erscheint, weicht sie stark von der Evidenz aus der Kommunikationswissenschaft ab. Und tut etwas, wovon man weiss, dass es Desinformation aufrechterhält: Sie nennt die jeweils falsche Aussage ganz explizit. Falsche Sätze in fetten Lettern stehen zwischen diskreteren, kleiner gedruckten Textblöcken, die sie widerlegen. Auch Erklärvideos betitelt das Amt wiederholt mit der jeweils falschen Behauptung, anstatt die richtige Aussage in den Vordergrund zu stellen, etwa: «Impf-Mythos #4: Unfruchtbarkeit».
Wer die Texte ganz liest, wer die Videos anklickt, lernt natürlich, dass die Impfung weder unfruchtbar macht noch Gene verändert. Dennoch, das ist bekannt aus der Kommunikationswissenschaft: Die Falschaussage wird hängen bleiben. Deshalb nennt ein guter Faktencheck keine Unwahrheiten, und schon gar nicht im Titel: Er teilt nur mit, was auch wirklich stimmt.
Suggs trifft sich heute in einer beratenden Rolle regelmässig mit dem Bundesamt für Gesundheit. Sie betont auch, dass der Austausch mit denjenigen, die dort für Kommunikation und Kampagnen zuständig sind, häufig viel positiver ausfalle. Manchen im BAG sei es sehr wichtig, Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft umzusetzen. Anderen weniger.
Einer der grössten Fehler der Impfkampagne waren vermutlich die Videos, die sich im Herbst an junge Leute richteten: Sie hätten die Zielgruppe als dumm, als irrational und als verantwortungslos hingestellt, sagt Suggs. «Wer steckt sich schon einen Feuerwerkskörper in die Hose?»
Und die guten Beispiele fänden oft zu wenig Verbreitung: «Sie werden zu wenig gepusht», sagt Suggs. Wer die Chance erhöhen will, dass er Unentschiedene überzeugt, geht auf sie ein: «Sag nicht nur, dass die Impfung wichtig ist, sondern auch, warum sie wichtig ist. Warum sie für Maria wichtig ist und warum für Stefan», sagt Suggs, die auf die hervorragende Kommunikation der französischen Gesundheitsbehörden verweist: Diese ist faktengetrieben, sie ist freundlich und sie spricht verschiedene Zielgruppen an. Und bei aller Präzision und Ehrlichkeit transportiert sie auch Emotionen.
Doch nicht nur in der Kommunikation mit der Bevölkerung machen die Behörden Fehler. Auch intern läuft sie alles andere als reibungslos.
4. Zu wenig Ärzte impfen, wegen Machtspielen ums Geld
Impfzentren waren das Rückgrat der Schweizer Impfstrategie. So viele Menschen in so kurzer Zeit zu impfen, das geht fast nicht anders. Im Frühling setzte das Gesundheitspersonal täglich fast 100’000 Spritzen. Zudem musste der Pfizer-Impfstoff bei so vielen Minusgraden gelagert werden, dass er für Arztpraxen keine realistische Möglichkeit war. Und die Pharmafirma lieferte ihn in so grossen Paketen, dass man sie hätte umpacken müssen – oder sie nur in grösseren Praxisgemeinschaften schnell genug den nötigen Absatz gefunden hätten. Keine Frage: Es gab und gibt gute Gründe für die Schweiz, prioritär auf grosse Impfzentren zu setzen.
«Aber dass man die Hausärztinnen nicht gleichzeitig auch ins Boot geholt hat, war nicht gut», sagt Christoph Berger von der Impfkommission. Denn für viele Menschen – ältere Leute, skeptische Patientinnen oder unsichere, die vor dem Ja zur Impfung ein Vorgespräch möchten – ist der Hausarzt eine wichtige Vertrauensperson. Und mit der Moderna-Impfung und dem Willen zum Umpacken der Impfstoffpakete in Armee- oder Kantonsapotheken wäre es immer noch aufwendig, aber zu schaffen gewesen. «Diese Möglichkeit wurde leider nicht gut genug genutzt», sagt Berger.
Warum eigentlich?
«Es war ein politisches Machtspiel.»
Im Schweizer Gesundheitswesen bleibt jeder Franken zwischen den Akteuren hart umkämpft – auch wenn dabei teure Zeit und noch teureres Vertrauen verloren geht. Dabei verhindern 150 verhältnismässig günstige Impfungen eine richtig, richtig teure Hospitalisation auf der Intensivstation.
Ein Beispiel.
Bei den ersten Verhandlungen dazu, wie viel Geld denn die Hausärzte fürs Impfen erhalten sollen, sitzen verschiedene Akteure am Tisch. Es fehlen: die Hausärzte. «Man hat uns einfach nicht mit an den Tisch geladen», sagt Felix Huber, Präsident der Medix-Praxiskette. «Obwohl wir klare Angebote gemacht haben.»
Stattdessen verhandeln hauptsächlich die Kantone (in Form von Vertretern der Gesundheitsdirektorenkonferenz, GDK) sowie die Krankenversicherer und teilweise das BAG, das die Verhandlungen begleitet. Am einfachsten wäre gewesen, man hätte die Zeit für den Impfakt so vergütet wie bei anderen Impfungen auch: Bei der Masernimpfung zum Beispiel rechnen Ärzte die Kosten für eine Konsultation mit Beratung und Spritze über das übliche Tarifsystem ab, die obligatorische Krankenversicherung bezahlt.
Stattdessen wird ausgehandelt: Die Kosten für den Impfstoff übernimmt hauptsächlich der Bund, die Krankenversicherer beteiligen sich nur mit fünf Franken pro Dosis. Hart umkämpft bleibt allerdings die Frage, wer wie viel vom Rest bezahlen soll: die Zeit für den Impfakt an sich – und der kann aufwendig sein, wenn es darum geht, Leuten allenfalls noch Ängste zu nehmen.
Hier zeigen sich die Krankenversicherer besonders hart, wie mehrere Quellen der Republik bestätigen. Schliesslich einigt man sich auf eine Pauschale von 14.50 Franken. Für Tausende Ärzte im Land bedeutet dies: Für Impfungen zahlen sie drauf. Der erboste Ärzteverband FMH erreicht schliesslich, dass der vergütete Betrag für Impfungen in Arztpraxen auf eigentlich immer noch nicht kostendeckende 24.50 Franken erhöht wird – allerdings auch nur befristet bis Mitte Jahr, dann sollen es wieder nur 16.50 Franken sein. Schliesslich muss die GDK den Kantonen notfallmässig empfehlen, in die Bresche zu springen und die Differenz von 8 Franken zu schultern, um «einen Ausstieg vieler Arztpraxen aus der Impfkampagne» zu verhindern. Was einige auch tun – wiederum befristet bis Ende September.
Erst unlängst, haarscharf vor Beginn der nationalen Impfwoche, lenkten die Krankenversicherer ein – sie bezahlen künftig für Arztpraxen eine Pauschale von 29 Franken pro Impfung.
Warum eigentlich sind Verhandlungen zwischen den Parteien im Gesundheitswesen so zäh, sogar in einer Pandemie?
Unter dem Stichwort «New Public Management» wurde in der Schweiz seit den 1990ern auch das öffentliche Gesundheitswesen nach den Grundsätzen privatwirtschaftlicher Unternehmen umgebaut, und man versuchte es mit künstlichem Wettbewerb auf Effizienz zu trimmen. Kein Wunder, verhandeln die Krankenversicherer so hart: Es ist ganz offiziell ihr Job.
Ob die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten am Schluss gar höher sind und der Bürokratieaufwand immens, darf nicht ihr Problem sein: Sie werden lediglich daran gemessen, ob ihre Erfolgsrechnung stimmt.
Auch die Gesundheitsbehörden haben sich immer stärker auf eine kurzfristige Kostenkontrolle fixiert – statt auf Sinn und Qualität des Angebots. «Dabei ist schlechte Qualität das teuerste, wenn es um Medizin oder Pflege geht», sagt Felix Schneuwly, Krankenversicherungsexperte bei Comparis und früherer Leiter Politik und Kommunikation bei Santésuisse. Und zwar wegen der Folgekosten, die dadurch entstehen. Aber Tarife seien halt einfacher zu überprüfen als Qualität. «Das hat den Dialog erodiert und die Kultur zerrüttet: zwischen Politik und Kassen auf der einen und den medizinischen Leistungserbringern sowie der Pharma- und Medtechindustrie auf der anderen Seite.»
Mit anderen Worten: Hier wird in der Krise etwas sichtbar, was schon länger im Argen liegt.
Man hätte die Ärzteschaft stärker fürs Impfen gewinnen können, sagt Berger von der Impfkommission, und der Ärzteverband hätte stärker signalisieren können, dass die Ärzte auch impfen wollen. Wenn er aus dieser Pandemie etwas gelernt habe, sagt er, dann dies, «dass man aufeinander zugehen sollte – auch wenn man findet, der andere sei ein ‹Tubel›».
Apropos verhärtete Fronten …
5. Auf die politische Instrumentalisierung der Impfgegner muss der Staat eine Antwort haben
Das Café Brändle liegt mitten im Dorf. Unterägeri, Kanton Zug, 9000 Einwohner. Keine zehn Minuten ists zu Fuss bis an den See, keine zehn Minuten mit dem Auto bis zum Denkmal, das an die Morgartenschlacht erinnert.
Thomas Brändle ist Geschäftsführer des Cafés und schreibt fürs Leben gern. Kolumnen zum Beispiel, die er auch auf die Internetseite seines Café geladen hat. Thema: Corona. Da heisst es etwa: «Dass die fragwürdigen, weltweiten Massnahmen Dutzende Millionen Kinder zusätzlich mit dem Hungertod bedrohen, steht im Katalog der Moralisten unter ferner liefen – wenn überhaupt.» Oder: «Sehr viele finden es grossartig, dass ich mich diesem Apartheidregime verweigere.»
«Sich dem Apartheidregime verweigern», das heisst im Café Brändle: Der Besitzer verlangt von seinen Gästen keine Covid-Zertifikate (obwohl es das Gesetz vorschreibt). Und er erstattet Strafanzeigen gegen Polizisten, die im Café die Covid-Zertifikate der Gäste kontrollieren wollen.
Auf Telegram, dem Social-Media-Kanal von Corona-Leugnern und Massnahmenkritikerinnen, wird Brändle dafür gefeiert. So schreibt ein «Anonymous» am 11. Oktober 2021: «Je mehr sich wehren, desto schneller hört dieser Irrsinn auf, denn es geht schon lange nicht mehr um unsere Gesundheit, sondern um die schrittweise Umsetzung der neuen Weltordnung.»
Brändle ist nicht der Einzige in der Gegend, der offen gegen Corona-Massnahmen, -Zertifikate und -Impfungen opponiert. Marco Rima, der Vorzeigekomiker unter den Massnahmengegnern, wohnt im Nachbardorf Oberägeri. Ein Restaurantbetreiber, der wegen Verstössen gegen das Covid-Gesetz bereits gebüsst worden ist, hat sein Lokal nicht weit entfernt auf dem Raten.
«Wir haben im Kanton Zug grössere Vereinigungen, die gegen Impfungen sind», sagt Kantonsarzt Rudolf Hauri. Und er ergänzt: «Wenn zu offensiv für eine Impfung geworben wird, läuft man Gefahr, Personen in die Ecke zu drängen. Das wollen wir nicht. Es könnte zu einer unnötigen Politisierung der Corona-Massnahmen und der Corona-Impfungen führen.»
Die Politisierung von Corona, Corona-Massnahmen und Corona-Impfungen läuft allerdings längst – weil die Gegenseite sie vorantreibt. Schon an den ersten Demonstrationen im Frühling 2020 behaupteten die Teilnehmerinnen, dem Staat gehe es bei der Corona-Bekämpfung nicht um die Gesundheit der Bevölkerung, sondern um die Ausweitung der eigenen Macht. Und um die Einschränkung der Freiheit der Bürger.
Was damals als ausserparlamentarische Politisierung von Corona und Corona-Massnahmen beginnt, erreicht spätestens im Frühling 2021 die institutionelle Politik. Bei der ersten Abstimmung über das Covid-Gesetz beschliesst die SVP Stimmfreigabe, jetzt, bei der zweiten Abstimmung, die Nein-Parole. Mittlerweile hofiert die Partei offen die Massnahmen- und Impfgegner. Wie nahe sich diese und die SVP in der Zwischenzeit gekommen sind, zeigt sich auch an den politischen Kampfausdrücken, die im Gleichklang da wie dort verwendet werden.
«Auffallend ist, dass es im Frühling 2020 noch keinen Zusammenhang zwischen der politischen Ausrichtung und der Frage gab, ob jemand für oder gegen Corona-Massnahmen ist», sagt Politgeograf Michael Hermann dazu. «Das hat sich spätestens im Herbst letzten Jahres geändert. Seither gibt es am meisten Massnahmen- und Impfkritiker in den Reihen der SVP.»
Der letzte Grund hingegen ist nicht neu, er ist so alt wie die Eidgenossenschaft selbst.
6. Föderalismus ist Gift für die Bekämpfung dieser Krise
Föderalismus gilt als Teil der Schweizer DNA: geteilte Macht, geteilte Aufgaben, geteilte Verantwortung. Was die Staatsgründer bereits 1848 in die Verfassung geschrieben hatten, bewährte sich jahrzehntelang – mehr oder weniger jedenfalls. Deshalb sind in der Schweiz noch heute zahlreiche Staatsaufgaben (wie Technokraten es nennen) Verbundaufgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden.
Eine Idee dahinter: Leute vor Ort wissen oft besonders gut, was für Leute vor Ort am besten ist. Auch bei der Bekämpfung einer Pandemie? Nein, ist der Bundesrat überzeugt, als er am 16. März 2020 die «ausserordentliche Lage» ausruft und faktisch einen Shutdown für die Schweiz beschliesst.
Am 19. Juni 2020 – 14 Wochen später – ist aber wieder alles anders: Die Landesregierung hebt die «ausserordentliche Lage» wieder auf. Seither herrscht in der Schweiz ein wildes Hin und Her zwischen Bund und Kantonen. Die Frage: Wer kann soll muss wann was wie anordnen? Die Vernehmlassungsantworten, welche die Kantonsregierungen zu Vorschlägen des Bundes verfasst haben, füllen mittlerweile Ordner.
Der föderalistische Wirrwarr beeinträchtigt auch das Impfen in der Schweiz.
Am Anfang zeigt sich das vor allem darin, dass sich längst nicht alle Kantone an den Impfplan des Bundes halten, der in einem ersten Schritt lediglich Impfungen für besonders gefährdete Personen vorsieht. Einzelne Kantone impfen nämlich bald auch andere Bevölkerungsgruppen und lösen so einen Impftourismus und Impfwettbewerb aus, der dem Impffortschritt der gesamten Schweiz abträglich ist.
Ganz gut sah man das Problem während der nationalen Impfwoche. Einzelne Kantone boten in dieser Woche zahlreiche zusätzliche Impfgelegenheiten an. Der Kanton Zürich beispielsweise richtete im Zürcher Hauptbahnhof ein eigenes Impfdorf ein und offerierte Impfwilligen Raclette und Berliner. Ganz anders etwa der Kanton Obwalden: Er verzichtete fast vollständig auf zusätzliche Impfangebote. Dabei ist gerade dort die Impfquote besonders tief: Lediglich 57 Prozent der Bevölkerung sind bis jetzt doppelt gegen Corona geimpft.
«Beim Impfen hatten wir kein gemeinsames Konzept», sagt Kantonsarzt Rudolf Hauri. «Grundsätzlich waren sich die Kantone einig – in der Umsetzung aber nicht.» Und er kommt zum Schluss: «Ich bin kein Gegner des Föderalismus, aber es gibt Punkte, die wir hinterfragen sollten. Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen neu definieren. Und für eine brauchbare Zusammenarbeit braucht es ein übergreifendes nationales Organ, das in einer solchen Krise die Verantwortung trägt.»
Und jetzt?
Das alles bleibt wichtig, weil das Impfen noch lange nicht aufhören wird: Nun stehen die ersten Auffrischungsimpfungen an. Oder auf Neudeutsch: die Booster.
Auch hier haben sich bereits altbekannte Muster gezeigt: Verschiedene Dokumente des Bundesamts für Gesundheit widersprechen einander, was die Definition der «besonders gefährdeten Personen» betrifft, die eine Auffrischungsimpfung bekommen sollen. Die Medienkonferenz zum Thema war auch für gestandene Journalisten verwirrend. Und schon zeichnen sich logistische Schwierigkeiten ab: Eigentlich wollte man Booster vermehrt über Apotheker und Hausärzte verabreichen, nun scheint das aber zumindest für das Jahr 2022 nur in Einzelfällen möglich zu sein, wie es in einem vertraulichen Papier des Bundesamts für Gesundheit heisst.
Sprechen wir dann in ein paar Monaten über die Booster-Skeptiker, die sich nach den ersten zwei Spritzen partout der dritten verweigern?
Teil der eingangs erwähnten Erzählung ist auch dieser Dreisatz: Die Schweiz ist ein Sonderfall. Die impfskeptischen Schweizer sind ein Sonderfall. Die Impfskeptiker sind ein Sonderfall – und damit im Recht. Sie haben sich nicht zu rechtfertigen.
Diese Erzählung mag zur Politisierung von grundsätzlich wenig politischen Bevölkerungsgruppen taugen – nicht aber als ernsthafte Erklärung für die tiefe Impfquote im Land.
«Dass Schweizerinnen empfindlicher auf Aufforderungen zum Impfen reagiert hätten, halte ich für einen Mythos», sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Suzanne Suggs. Natürlich müsse man verstehen, wie die Dinge in einem Land funktionieren, und das dann verwenden, um Kommunikation, Logistik, Dialogkultur zu verbessern.
Wie?
Das sei wissenschaftlich gut erforscht. «Und wir sind ja nicht nur Schweizerinnen. Wir sind auch Menschen.»
Diesen Menschen muss man Ziele nennen, damit sie sich daran orientieren können. Man muss sie aktiv informieren und ihnen den Zugang zur Impfung möglichst leicht machen. Und man muss sie ernst nehmen: Die etwas kitschige Erzählung von der freiheitsliebenden Schweizerin, die auf gut begründete Impfkampagnen betupft reagieren würde, tut das nicht.
In einer früheren Version schrieben wir von einer Steigerung der Impfquote um 0,58 Prozent – korrekt sind es 0,58 Prozentpunkte. Wir entschuldigen uns für den Fehler.