Was der zweite Pandemiewinter in der Schweiz bringt
Eine fünfte Welle? Mit Ausweitung der Zertifikatspflicht? Oder gar weniger Massnahmen? Die realistischen Szenarien.
Von Marie-José Kolly, 01.11.2021
«Prognosen sind immer mit Unsicherheit behaftet»: ein Satz, den viele Datenjournalistinnen vermutlich im Schlaf rezitieren könnten, gern auch mit erhobenem Zeigefinger. Genau deshalb machen viele Journalisten und Wissenschaftlerinnen solche Unsicherheiten jeweils auch sichtbar: in ihren Worten und in ihren Grafiken.
Wir hätten Ihnen heute gern solche Modelldaten in Grafiken gezeigt (und natürlich die Fehlermargen dazu, denn Prognosen sind immer … Sie wissen schon). Das wird in dieser Form aber leider nicht möglich sein.
Wissenschaftler, gebrannt vom sogenannten Präventionsparadox, sind noch vorsichtiger geworden: Seit Pandemiebeginn haben sie immer wieder Modelle öffentlich präsentiert, Unsicherheiten ausgewiesen und zugeschaut, wie Politikerinnen darauf beruhend Massnahmen beschlossen. Und oft haben sie später Kritik geerntet, weil die modellierten Prognosen nun nicht eingetroffen waren.
Natürlich nicht: Man hatte ja aufgrund der Prognosen gehandelt. Damit sie nicht eintreffen. (Und ab und zu hat man Annahmen getroffen, die rückblickend nicht die richtigen waren – das gehört in den Bereich der Unschärfe von Prognosen.)
Was wir stattdessen tun
Keine Prognosedaten also. Wir können hier dennoch auf mögliche Pandemieszenarien für den Spätherbst und den Winter blicken:
Mit Zahlen aus der Vergangenheit, die uns gelehrt haben, wie sich Sars-CoV-2 zu dieser Saison und in dieser Bevölkerungsstruktur verhält.
Mit aktuellen Zahlen, die eine immer klarere Sprache sprechen.
Und anhand von Szenarien, die Wissenschaftlerinnen gern teilen, mündlich statt in Tabellen. Denn Worte wirken weniger absolut als Kurven, die den möglichen Verlauf der Pandemie bis März zeichnen. Und sie erlauben mehr Differenzierung.
Die kurze Antwort zu dem, was kommt: Vorbei ist es noch nicht, und ganz vorbei wird es vermutlich noch lange nicht sein. Das optimistische Szenario sieht vor, dass wir knapp über den Winter kommen könnten ohne zusätzliche Massnahmen und ohne Überlastung des Gesundheitssystems. Im pessimistischen Szenario könnte es aber durchaus auch nochmals brenzlig werden, in mancher Hinsicht sogar brenzliger denn je.
Der Winter naht
Diejenigen, die jetzt aufgrund der vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen die Verhältnismässigkeit der noch geltenden Massnahmen infrage stellen, haben mindestens zwei Dinge nicht im Blick: Erstens ist die Belastung des Gesundheitssystems jetzt schon hoch. Und zweitens ist im Umgang mit Phänomenen, die sich exponentiell verhalten – etwa Virusverbreitung –, Vorbeugen zentral. Reagieren reicht nicht: Wer gegen das exponentielle Wachstum eine Chance haben will, muss antizipieren.
Vor einem Jahr hat die Schweiz lange zugewartet, dann hat uns die zweite Welle mit voller Wucht umgeworfen. Sie stieg rapide an, kurz nachdem die Temperaturen eingebrochen waren.
Und just jetzt ist es wieder so weit: Der Spätsommer ist passé, vielleicht haben auch Sie Wollpullover und Handschuhe schon aus dem Estrich geholt. Es ist kühl in der Schweiz seit rund zwei Wochen.
Die niedrigeren Temperaturen und die damit einhergehende trockenere Luft wirken sich aus auf die Überlebensmöglichkeiten von Viren – in der Luft, auf unseren Schleimhäuten – sowie auf unser Verhalten: Wir treffen Freunde und Familie wieder vermehrt in Innenräumen und lüften vielleicht weniger, weil die Jacke nicht immer griffbereit ist.
Nachdem also die Neuinfektionen und die Spitaleintritte über mehrere Wochen abgenommen haben, nehmen nun die Infektionen wieder zu – und auch bei den Spitaleintritten zeichnet sich eine Trendwende ab.
Das widerspiegelt sich im Reproduktionswert, der das Infektionsgeschehen beschreibt. Steigt er über 1, wachsen die Infektionen exponentiell. Das geschah vor einem Jahr kurz nach der Septembermitte. Und dieses Jahr kurz nach Oktoberbeginn:
Die Trendwende ist also da. Die grosse Frage ist:
Ob das nun eine Trendwende à la 2020 wird, mit einem R-Wert zwischen 1,5 und 2, der die Infektionen rasch und weit nach oben treibt (was, etwas verzögert, entsprechende Spitaleintritte nach sich zöge).
Oder ob sich der Reproduktionswert auf dem aktuellen Niveau einpendelt, irgendwo zwischen 1,2 und 1,3. Was bedeuten würde: 10 Infizierte stecken im Mittel 12 oder 13 weitere an. Das ist fraglos exponentielles Wachstum, aber bedeutend langsameres Wachstum, als wenn 10 Infizierte 16 oder 17 weitere anstecken wie Anfang Oktober 2020. «Ich hoffe, dass der Wert nicht über 1,3 steigt. Mit höheren Reproduktionswerten gehen die Infektionszahlen zu schnell hoch, und wir geraten sofort wieder in Schwierigkeiten», sagt der Epidemiologe Christian Althaus zur Republik.
Wie sich die Lage entwickeln werde, könne man noch nicht mit Bestimmtheit sagen, sagte Patrick Mathys vom Bundesamt für Gesundheit in der vergangenen Woche an einem Point de Presse. Und auch Althaus schaut gebannt auf die nächsten paar Wochen.
Das Infektionsgeschehen betrifft manche Kantone etwas mehr als andere, manche Altersgruppen etwas mehr als andere. Aber die Unterschiede zwischen den Gruppen werden zunehmend kleiner, jedes Alter und jede Region erfährt wieder mehr Virusübertragungen. Unter den geimpften Personen betrifft es auch die älteren je länger, desto mehr: Ihr Immunschutz nimmt ab, ihr Anteil unter den Covid-19-Patienten im Spital nimmt langsam zu.
So bleibt die Belastung auf Intensivstationen relativ hoch: Mehr als 10 Prozent der Plätze sind mit Covid-19-Patientinnen belegt, mehrheitlich nicht geimpften. Und sie liegen mittlerweile länger dort als bei früheren «Wellen», denn sie sind nun im Mittel jünger und die Behandlungsmöglichkeiten breiter. Unter den Mitarbeitenden der Spitäler sind, nach anderthalb Jahren Pandemie, viele erschöpft: keine gute Voraussetzung für einen harten Winter.
Das erklärte Hauptziel in der Schweiz, an der sich auch die Bekämpfung der Epidemie ausrichtet, ist aber die «Aufrechterhaltung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Pflege».
Was wir gegen Sars-CoV-2 in der Hand haben
Wir haben die Maskenpflicht in bestimmten Innenräumen: im öffentlichen Verkehr etwa oder in Geschäften. Wir haben die Zertifikatspflicht, die Geimpften, Genesenen oder Getesteten sowie Betrieben in einem kontrollierten Rahmen Freiheiten zurückgibt. Und wir haben inzwischen vermutlich zwischen 70 und 80 Prozent der Bevölkerung, die vor schweren Verläufen geschützt sind: 63 Prozent dank einer Impfung. Und weitere mit Immunschutz aus einer vergangenen Infektion.
Diese Impfquote von 63 Prozent – wie ist sie zu beurteilen? Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité sagte Ende September zur deutschen Impfquote, damals rund 64 Prozent: «Die Zahlen sehen übel aus.» Und auch der Schweizer Immunologe Daniel Speiser sagt: «60 Prozent sind schlecht, 70 Prozent deutlich besser – aber auch nicht genügend.»
Der Best Case
Zum absoluten Best Case sagt Christian Althaus: «Wenn alle geimpft wären, wäre die Lage in den Spitälern auch im Winter mit grosser Wahrscheinlichkeit zu managen.» Das bestmögliche Szenario wäre also, eine viel höhere Durchimpfung zu erreichen.
Aber auch wenn wir mit sehr, sehr viel Optimismus davon ausgehen, dass ab der nationalen Impfwoche im November das Impftempo rasant steigt, etwa auf die Werte vom Frühling 2021; und dass alle bisher nicht immunen Einwohnerinnen eine Impfung holen: Auch dann würde es aus rein logistischen Gründen ein paar Wochen dauern, allen ihre erste Spritze zu verabreichen. (Das Bundesamt für Gesundheit formuliert für diese Impfwoche übrigens weder Prognosen noch Ziele, sondern eine Hoffnung: «So viele wie möglich.»)
Und dann wird es eine Weile dauern, bis diese Personen eine zweite Spritze bekommen. Und bis sie den vollständigsten Immunschutz, den die Impfung bieten kann, aufgebaut haben. Wer Mitte November die erste Spritze bekommt, wird erst in den Weihnachtsferien vollständig immun.
Wenn die Infektionen also schneller steigen als im bestmöglichen Szenario das Impftempo – was dann tun?
Möglich ist das Übliche: mehr Abstand oder weniger Kontakte, mehr Lüften, mehr Homeoffice, strengere Maskenpflichten. Im schlimmsten Fall: Schliessungen von Grossveranstaltungen, Bars, Fitnesscentern, Schulen. Das ist möglich, das will aber niemand.
Der Worst Case
Die Durchimpfung ist niedrig, sehr viele – schätzungsweise rund 1,6 Millionen – Personen sind noch empfänglich für Sars-CoV-2. Delta verbreitet sich superschnell: Es kann viele von diesen Leuten in kürzester Zeit erwischen. Rund 2 Prozent erkranken zurzeit schwer und benötigen Spitalpflege. Die Rechnung ist einfach: Steigt die Impfrate nicht wesentlich, sind bis zu 30’000 weitere Hospitalisierungen möglich.
Die Frage ist schlicht, wie sich diese potenziellen künftigen Hospitalisierungen auf die kommenden Monate verteilen werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Epidemie nicht zu schnell zunimmt. So oder so: «Mit dem jetzigen Reproduktionswert – 10 Personen stecken im Mittel 12 oder 13 weitere an – könnten wir mittelfristig Probleme bekommen», sagt Althaus.
Trotz der aktuellen Massnahmen ist also das Szenario einer Überlastung des Gesundheitswesens noch möglich: Simulationen des European Centre for Disease Prevention and Control für europäische Länder legen nahe, dass mit der aktuellen Impfquote das Maximum der Hospitalisierungen diesen Winter höher liegen könnte als das Maximum des vergangenen Jahres. Auch weil damals strengere Massnahmen galten als jene, mit denen die Schweiz und viele andere europäische Länder durch den kommenden Winter kommen möchten.
In diesem Worst-Case-Szenario sähen sich Spitäler vermutlich zur harten Triage gezwungen – falls keine weiteren Massnahmen ergriffen würden, die Kontakte einschränken. Althaus sagt: «Wir sind immer noch in einer Situation, in der man künftig vielleicht doch noch die Notbremse ziehen muss.»
Vielleicht.
Und damit zu einem weiteren Szenario.
Der In-between-Case
«Wenn die Infektionen und Hospitalisierungen nur langsam in den Dezember hinein steigen, kann es klappen», sagt der Epidemiologe Althaus.
Mit einem niedrigeren Grundstock an Virusübertragungen und hospitalisierten Covid-Kranken wären wir zwar in einer besseren Ausgangslage. Man müsse jedoch auch auf eine Verhaltensänderung der Menschen zählen, sagt Althaus: Immer wieder mal reagiere die Bevölkerung eigenverantwortlich auf das Wissen um eine angespannte epidemiologische Lage. Der eine verzichtet dann auf den Besuch eines Fussballspiels, die andere lädt nur Geimpfte, Genesene oder Getestete zur Geburtstagsparty ein – auch ohne offizielle Regeln.
Dennoch: «Es ist und bleibt ein heisses Spiel.»
Ausblick
Irgendwann werden so viele Leute immun sein, dass die Epidemie zur Endemie wird: einem Virus, das in der Bevölkerung zirkuliert, ohne diese ganz grossen, exponentiellen «Wellen» zu verursachen.
Aber es könnte Jahre dauern, bis Sars-CoV-2 für uns alle vielleicht ähnlich harmlos wird wie ein Erkältungsvirus. Denn bis sich in allen Altersgruppen eine robuste Immunität aufbaut, vergeht viel Zeit. Und das Virus wird vermutlich auch das Gesundheitssystem noch lange nach diesem Winter beschäftigen. Auch dann möglicherweise bedeutend stärker als die Grippe: «Denn die geht nicht schon im Oktober richtig los», sagt Althaus. Sondern typischerweise erst im Januar.
Noch eine Erinnerung zum Schluss: Delta hat uns einen schwierigen Herbsteinstieg verschafft. Und diese Variante, die ungefähr doppelt so ansteckend ist wie Alpha, die Infizierte (etwas) kränker macht und Impfungen (etwas) weniger wirksam, scheint irgendwie der Gipfel des Übels zu sein. Darüber sollten wir aber nicht vergessen, dass Sars-CoV-2, solange es zirkuliert, auch mutiert, und dass dabei nach wie vor weitere Varianten entstehen können, die uns das Leben noch schwerer machen können.
Im Moment schauen Wissenschaftlerinnen auf AY.4.2: eine Variante, aus einem Delta-Strang entstanden, die sich in britischen Haushalten noch etwas leichter überträgt als besagtes Delta. Sie wurde in der Schweiz in den vergangenen zwei Monaten rund 50-mal nachgewiesen und ist unter Beobachtung.