Covid-19-Uhr-Newsletter

Warum so impfindlich?

20.09.2021

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Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond

Es ist nicht so, dass sich bei den Impfungen früher immer alle einig waren.

Als 1904 der brasilianische Präsident Rio de Janeiro in eine moderne Metropole verwandeln wollte, Hunderte Häuser nieder­reissen liess und die Pflicht­impfung gegen Pocken befahl, brachen die «Impfrevolten» aus. Aufgebrachte Bürger zündeten Trams und Autos an, schmissen Steine und attackierten die Polizei mit Messern. 30 Menschen starben.

In dieser Tradition streiten wir uns heute wieder: in der Familie, unter Freunden, in den Kommentar­spalten.

«Alle, die sich nicht impfen lassen, sind asoziale Spinner.» Oder: «Die Impflinge gehören offen­sichtlich nicht zu den denkenden Menschen.»

Falls Sie den Newsletter von gestern noch nicht gelesen haben: Einer Langzeit­folge von Covid-19 entkommt niemand, nämlich der allgemeinen Gereiztheit.

Bei Twitter regnet es fast täglich Begriffe wie «Idioten», «Trottel» oder «Faschismus».

Was tun, um wieder etwas mehr Gelassen­heit ins Leben zu bringen?

Sieben Empfehlungen zu Ihrer freien Verfügung. Wählen Sie jene aus, die Sie nützlich finden.

1. Nehmen Sie bei Ihrem Gegen­über guten Willen an

Die meisten Menschen – geimpft oder nicht – teilen eine Gemeinsamkeit: Sie haben guten Willen.

Auf irgendeine Art haben alle vor, das Richtige für die Gesellschaft zu tun. Und alle glauben, seriös informiert zu sein – zugegeben: teils aus sehr zweifel­haften Quellen.

Was bedeutet das für Ihre und die allgemeine Gereiztheit?

Eine kitschige Parabel, die seit Jahren im Internet kursiert, könnte vielleicht helfen.

Ein Grossvater sagte einst zu seinem Enkel: «In mir findet ein Kampf zwischen zwei Wölfen statt. Einer ist schlecht, böse, habgierig. Der andere ist gut – er ist ruhig, liebevoll, gross­zügig und vertrauenswürdig.»

Der Junge dachte einen Moment nach und fragte dann: «Welcher Wolf wird gewinnen?»

Der alte Mann lächelte. «Der Wolf, den du fütterst.»

2. Impfwiderstand ist oft allzu menschlich

Längst nicht alle der etwas über 3 Millionen Noch-Ungeimpften sind Aluhüte, die fürchten, eine finstere Elite wolle uns alle vergiften. Hier einige andere Gründe, wieso sich Menschen nicht impfen lassen:

a) 7 Prozent aller Erwachsenen dürften gemäss Unter­suchungen von einer Spritzen­phobie betroffen sein, die so stark ist, dass sie sich nicht impfen lassen.

b) Menschen, die sich vor Krankheiten fürchten, lassen sich oft nicht gerne impfen. Sie haben Angst vor den – bei den Corona-Impfstoffen teils wirklich starken und unangenehmen – Immunreaktionen.

c) Ausserdem sind Menschen von Natur aus miserabel in Wahr­scheinlichkeits­rechnung. Die Gefahr einer unbekannten Impfung scheint für viele ähnlich gross wie das Risiko einer unbekannten Seuche. (Was – siehe dieses charmante Video – ein Irrtum ist.)

d) Viele Menschen, die sich in ihrer persönlichen Freiheit angegriffen sehen, reagieren mit starkem Wider­stand. Zertifikate, Überzeugungs­versuche und Werbe­kampagnen lösen bei ihnen das Gegenteil des beabsichtigten Ziels aus: Sie machen dicht.

e) Das Internet fühlt sich oft an wie der geplatzte Schädel eines paranoiden Geheim­agenten. Studien haben gezeigt, dass selbst der ober­flächliche Kontakt mit verschwörungs­theoretischen Botschaften die Impf­bereitschaft vieler Menschen senkt. Und wie im Moment ist es im Netz fast unmöglich, dem Unfug auszuweichen. Das Zeugs bleibt an einem kleben.

f) Kinder ab 12 können sich erst seit Ende Juni impfen lassen. Schwangeren Frauen wurde die Impfung gerade erst empfohlen. Manche Allergikerinnen warten, bis der Bund den Impfstoff von Johnson & Johnson einkauft. Das alles dauert.

Disclaimer: Daneben gibt es natürlich auch Menschen mit schlechten Gründen. Wie Upton Sinclair mal sagte: «Es ist schwierig, einen Menschen dazu zu bringen, eine Sache zu verstehen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er sie nicht versteht.»

3. Es gibt Gründe, offizielle Empfehlungen erst mal genau zu prüfen

Vorab: Die Redaktion der Republik ist nach bald zwei Jahren Recherche überzeugt, dass Impfen bei weitem das Beste ist, was Sie in dieser Pandemie tun können. Sowohl für sich selber wie für alle anderen.

Trotzdem ist nicht völlig irrational, wer die Impfung, die Wissenschaft oder die Behörden mit Verdacht betrachtet. (Aber schicken Sie bitte ausgewiesenen Expertinnen keine Youtube-Videos zu. Einzige Ausnahme: Es ist aus der «Sendung mit der Maus».)

a) Behörden haben immer wieder falsche Prognosen und Versprechen gemacht – etwa, dass Masken nicht wirken, dass das Contact-Tracing funktionieren wird, dass ein Covid-Zertifikat nicht über Privilegien entscheiden wird. Zum Teil passierte das aus Wurstigkeit, zum Teil aus Desorganisation («Der Weltuntergang? Das ist Sache der Kantone»), zum Teil aus politischer Klug- oder Feigheit.

Doch entscheidender ist: Es gibt kein Patent­rezept. Kein einziger Staat ist elegant durch die Pandemie gekommen. Kein Wunder, verwirrt das, wenn die Verantwortlichen selbst verwirrt sind.

b) Ja – und die Wissenschaft hat blinde Flecken. So verbreiteten professionelle Impfgegner, die Impfung mache unfruchtbar. Was Unfug ist. (Verhüten Sie nicht mit Pfizer!) Aber nicht völlig daneben­liegt: Eine Menge Frauen haben nach der Impfung eine heftigere Periode und ein brutaleres PMS. Nur gibt es dazu bis heute keine klare Studie oder Erklärung dazu. Das, weil – wie seit jeher – bei Medikamenten zuerst und vor allem an Männer gedacht wurde.

c) Die Herstellerinnen dieser Impfungen gehören nicht gerade zu den sympathischsten Firmen der Welt. Pfizer macht im Schnitt mit jeder Spritze 25 bis 30 Prozent Profit. Johnson & Johnson steckte tief drin im amerikanischen Opioid-Skandal. Moderna wird vorgeworfen, seine enormen Gewinne in Steuer­paradiese zu verschieben.

4. Sie haben nicht die Pflicht, andere Leute vom Impfen zu überzeugen (oder davon abzubringen)

Ja, es wäre grossartig, wenn Sie die wichtigsten Menschen in Ihrer Nähe überzeugen könnten.

Doch das ist wirklich nicht Ihr Job. Sie sind ja nicht das Bundesamt für Gesundheit. (Obwohl dieses seinen Job auch nicht besonders effizient macht.)

Wenn Sie es bis jetzt nicht geschafft haben, müssen Sie nicht weiter insistieren. Das kostet nur Nerven und Freundschaften.

5. Überhaupt überzeugen Sie niemanden mit Reden

Sicher – nach Monaten der Pandemie haben Sie eine ganze Salve von zündenden Argumenten im Köcher. Nur: Lassen Sie sie zu Hause.

Denn Hand aufs Herz: Wurden Sie je von jemandem durch ein Dauer­feuer von Argumenten überzeugt?

Die Wahrscheinlichkeit ist gross: Nein.

Im besten Fall wurden Sie überrollt. Will man eine Haltung ändern, ist es weit effizienter bei einem hartnäckigen Streit, seinem Gegen­über recht zu geben. Dann entspannt sich dieses und ändert verblüffend oft die Meinung.

Es ist wie überall: Man verführt nicht durch Reden, sondern durch Zuhören.

6. Fallen Sie nicht auf die Fanatiker rein

Eine der übelsten Neben­wirkungen von prominenten Anti-Corona-Möchtegern-Helden wie Herrn Hildmann oder Herrn Rimoldi ist, dass durch ihre Grellheit alle Ungeimpften als Geiseln genommen werden. Und als bescheuerte Fanatiker dastehen.

Machen Sie den Herren nicht die Freude, alle in ihren Topf zu werfen. So sehr das auch reizt.

7. Bleiben Sie stets höflich und haben Sie Geduld

So gut wie alle Unter­suchungen zu Bösartigkeit im Netz zeigen: Sie ist ansteckend – auf einen üblen Post oder Tweet folgt mit grösserer Wahrscheinlichkeit ein weiterer übler.

Was heisst: Verhalten Sie sich in Debatten stets grossherzig. Gutes Benehmen ist noch ansteckender als das Corona­virus (sogar in der Delta-Variante).

Die Zeit arbeitet für das Impfen. Deshalb, weil allein aus Gründen der Bequemlichkeit immer mehr Zögerer ins Impf-Lager wechseln werden. Und die Ungeimpften immer weiter in die Minderheit kommen.

Geben Sie der Sache also noch ein paar Monate. Wer dann immer noch nicht impft, hat entweder wirklich Angst, einen exotischen, aber guten Grund – oder halt wirklich einen Knall.

Holen Sie diesen Leuten einen Kaffee oder einen Schnaps aus der nächsten Bar. Sie können ihn wahrscheinlich beide brauchen.

Zum Schluss: Was seither geschah

Dass es diesen Newsletter jetzt wieder gibt, kommentierte eine Leserin (mit dem exzellenten Twitter-Namen @lumpazza) gestern so:

«Fühlt sich an wie nach Hause kommen, nach zwei Wochen Ferien in der Sonne. Und leider hat vor der Abreise niemand die volle Geschirrspül­maschine angemacht.»

Der Abwasch wird einige Ausgaben dauern. Erster Spülgang – was seit dem Frühling Wichtiges geschah:

  1. Man weiss jetzt wirklich definitiv ganz sicher: (Medizinische) Masken schützen Sie und andere. Im September ist dazu eine riesige Studie erschienen. Die Forscherinnen haben dafür 340’000 Menschen in 600 Dörfern in Bangladesh beobachtet – und das Ergebnis ist sehr überzeugend.

  2. Die Impfung hat sich bewährt. Weil jetzt genügend Menschen schon länger geimpft sind, gibt es nun solide Zahlen ausserhalb der klinischen Studien. Zum Beispiel aus Italien: Der Schutz vor Spital, Intensiv­station und Tod liegt dort bei deutlich über 90 Prozent – auch mit Delta. Ob bestimmte Menschen oder vielleicht sogar alle bald eine Auffrischung brauchen, dazu mehr in einer der kommenden Ausgaben.

  3. Weiterhin weiss niemand sicher, was uns das alles eingebrockt hat. Ein Laborunfall in China? Das überflüssigste Meeting aller Zeiten zwischen einem Marderhund und einer Fledermaus? Vernünftige Menschen argumentieren seit Monaten auf beiden Seiten. Glauben Sie niemandem, der sich schon absolut sicher ist.

Was Sie ignorieren können, ohne etwas verpasst zu haben:

  1. Meldungen wie diese hier von «20 Minuten»: «18 Menschen trotz vollständiger Impfung an Corona verstorben». Warum Sie das nicht beunruhigen muss, haben wir hier aufgeschrieben.

  2. Nicki Minaj. (Ausser Sie arbeiten für das Gesundheits­ministerium von Trinidad und Tobago.)

  3. Alle seither erschienenen Interviews mit Daniel Koch.

So viel für heute. Bis nächsten Montag.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Elia Blülle, Oliver Fuchs, Constantin Seibt und die ganze Crew der Republik

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Falls Sie des Englischen mächtig sind, dieser Twitter-Thread von
Dr. Tom Frieden ist ausgezeichnet. Darin erklärt der ehemalige Leiter der amerikanischen Gesundheits­behörde CDC, was uns alle in den kommenden Monaten erwartet. Und schliesst mit: «Die Mikroben sind mehr als wir, also müssen wir zusammen­arbeiten, um sie zu überlisten.»

PPPPS: Waren Sie lange im Homeoffice und sind Sie nun ganz nervös, wieder ins Büro zu gehen? Sie sind nicht allein.

PPPPPS: Was Sie nächste Woche erwartet: ein Paket mit seriösen Informationen für Schnell­leserinnen und Nerds. Und ein Service zur Zeitersparnis (als Merci dafür, dass Sie bis hierhin gelesen haben).