Coronaviren sind seit zwanzig Jahren das Spezial­gebiet von Christian Drosten – trotzdem: «Vom jetzigen Sars-2 wurde ich überrascht.» Jacobia Dahm/Redux/laif

Herr Drosten, woher kam dieses Virus?

Kaum jemand weiss mehr über Corona­viren als der deutsche Virologe Christian Drosten. Was er von der Theorie hält, Sars-CoV-2 komme aus einem Labor, warum das mit der Herden­immunität bei Menschen nicht funktioniert und seine Antwort auf die wichtigste Frage: Ist die Pandemie jetzt wirklich vorbei?

Ein Interview von Marie-José Kolly, Angela Richter und Daniel Ryser, 05.06.2021

Synthetische Stimme
0:00 / 30:43

Nach über einem Jahr Pandemie scheint das Ende zumindest in Europa absehbar: Immer mehr Menschen sind geimpft oder immun, die Fall­zahlen sinken. Wie blickt der Mann, der 2003 bei der Entdeckung des ersten Sars-Virus eine entscheidende Rolle spielte, auf diese Pandemie zurück?

Wir reisen nach Berlin zu Christian Drosten, Professor an der Charité, der seit zwanzig Jahren zu Corona­viren forscht und in Deutschland unter anderem durch den wöchentlichen NDR-Podcast «Corona­virus-Update» zu einer der bekanntesten Stimmen der vergangenen eineinhalb Jahre wurde. Wie beantwortet der 48-Jährige die Frage, wie diese Pandemie entstanden ist? Er, der quasi über Nacht den weltweit ersten Covid-Test entwickelte?

Am Tag des Treffens beruft US-Präsident Joe Biden eine Kommission ein, die untersuchen soll, ob das Corona­virus aus Versehen aus einem chinesischen Labor entwichen ist. Wie sieht der Experte das?

«Haben Sie Termin, wa?», fragt uns der Sicherheits­mann am Empfang. Wir kramen unsere Papiere hervor mit der erforderlichen Zutritts­bewilligung der Charité, den PCR-Tests und der Quarantäne-Ausnahme­bestätigung der Republik, aber bevor wir ihm die ganze Pandemie­bürokratie aushändigen können, winkt er uns einfach hinein.

Der Weg führt zu einem kleinen Häuschen neben dem weissen Haupt­turm der Charité, ein rotes Backstein­gebäude, von zahlreichen Kameras umzingelt. Ein weiterer Sicherheits­mann direkt vor dem Eingang fragt uns, was wir hier machen. «Erster Stock», sagt er dann und weist uns zur Tür. Auf einem grossen Schild steht dort: «Achtung, Infektions­gefahr».

Wir betreten das Büro, hinter seinem Schreib­tisch erhebt sich Professor Drosten und sagt, wir könnten gerne die Masken abnehmen, er sei schon zweimal geimpft.

Herr Drosten, seit siebzehn Jahren erforschen Sie Corona­viren. Die meisten von uns wissen erst seit Januar 2020, dass solche Viren überhaupt existieren. Wie wurden Corona­viren zum Zentrum Ihrer Arbeit?
2003 steckte sich in Singapur ein Arzt mit einem unbekannten Virus an. Dann flog er nach New York, und dort wurde er krank. Man wusste, dass er in Singapur mit schwer erkrankten Patienten Kontakt gehabt hatte. Auf dem Rückflug landete das Flugzeug für einen Tankstopp in Frankfurt. Der Mann wurde von Bord genommen und auf eine Isolier­station gebracht. Damals arbeitete ich in Hamburg am Tropen­institut, das sich um importierte Infektions­krankheiten kümmert, und hatte gerade eine Labor­methode entwickelt, die Viren bestimmen kann, die man noch nie vorher gesehen hatte. So wurde ich in diese Detektiv­geschichte involviert. Es war zu der Zeit epidemiologisch schon klar, dass da was umgeht, was neu ist, übertragbar und eine Lungen­entzündung auslöst, aber keiner wusste, was das für ein Virus ist.

Wie sind Sie vorgegangen?
Ich war wegen meiner Doktor­prüfung gerade in Frankfurt und besuchte dort Kollegen. Die hatten gerade eine erste Zell­kultur angelegt und gaben mir Proben mit. Ich wandte die neue Methode an, und es zeigte sich: Da waren Sequenzen drin von einem Corona­virus, das man noch nicht kannte.

Und das ist die Geschichte der Entdeckung von Sars?
Danach waren es nur noch wenige Schritte zusammen mit den Kollegen aus Frankfurt, um zu zeigen, dass es dieses Virus war, das den Arzt so krank gemacht hatte. Gleichzeitig gab es bei den Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta weiteres Probe­material von einem zweiten Patienten, einem WHO-Arzt, der in Bangkok auf der Intensiv­station an dieser Krankheit gestorben war. Wir konnten durch eine gemeinsame Unter­suchung darlegen: Zwei Patienten, die sich nie getroffen haben, die aber beide eine indirekte epidemiologische Verbindung nach China gehabt hatten, wo die ersten Ausbrüche dieser Krankheit registriert worden waren, sind durch dasselbe Virus auf dieselbe Art krank geworden.

Wie lange dauerte diese Detektiv­arbeit?
Das Wesentliche ist in einer Woche passiert.

2012, beim Corona­virus Mers, das eine schwere Infektions­krankheit mit oft tödlichem Verlauf auslöst, spielten Sie ebenfalls eine wichtige Rolle.
Man hat damals gesehen, dass dieselbe Krankheit im Mittleren Osten regel­mässig in Kranken­häusern auftaucht und zwischen Kranken­häusern weiter­gegeben wird. Man sah: Da ist ein extrem tödliches Virus. Die ursprünglich Infizierten steckten vielleicht je eine weitere Person an, diese wiederum ebenfalls eine weitere – bevor sich das Virus dann bald totlief. Es wurde also nicht dauerhaft von Mensch zu Mensch übertragen. Trotzdem tauchte es immer wieder auf. Woher? Es musste von einem Tier kommen, das ständig mit dem Menschen in Kontakt ist, am ehesten einem Nutztier.

Wie ging man da vor?
Man schaute alle Nutztier­arten durch. Das war kein langer Prozess.

Und so konnte man das Virus in die Ecke treiben?
Ja. Verschiedene Labore haben sich zusammen­getan und alle Nutztier­proben aus dem Mittleren Osten, die verfügbar waren, auf Anti­körper getestet. Man hat gesehen: Das Kamel isses. Das Virus wird oft von älteren Männern in die Kranken­häuser reingetragen, die mit Kamelen zu tun haben. In Saudi­arabien ist die Kamel­zucht, salopp gesagt, eine Art Männer­hobby.

Was hat man dann gemacht? Alle Kamele erschossen?
Das Allerbeste ist halt, das Virus aus der Quelle wegzuimpfen. Man kann die Kamele ja impfen. Es sind ja Nutztiere, die sind ja verfügbar, die stehen ja rum. Nur haben Kamele zum Teil extreme Verkaufs­preise, und ihre Halter möchten sie oft nicht impfen lassen: Wenn man da reinsticht mit einer Impf­nadel, ist das für viele Besitzer so, wie wenn die S-Klasse einen Kratzer abbekommt. Das löst manchmal ganz ähnliche Gefühle aus.

Sie sagten, dieses Virus werde zwei-, drei-, viermal von Mensch zu Mensch übertragen. Warum läuft sich Mers danach tot, andere Corona­viren aber nicht?
Erst einmal: Ein Atemwegs­virus wie Mers, das sich überhaupt von Mensch zu Mensch überträgt, ist natürlich einer Pandemie viel näher als andere zoonotische Viren wie Tollwut. Tollwut wird zwar immer wieder vom Tier auf den Menschen übertragen, geht dann aber nur selten von Mensch zu Mensch weiter. Entscheidend ist: Viren sind immer an ihren Wirt angepasst, Mers auf das Kamel. Wenn das Virus also lernen will, sich besser von Mensch zu Mensch zu übertragen, dann muss diese Anpassung, die entsprechenden Mutationen also, im Menschen passieren. Das lernt das Virus nicht im Kamel. Dafür sind diese anfänglichen zwei, drei oder vier Generationen von Übertragungen von Mensch zu Mensch absolut essenziell. Trotzdem kommt eine Pandemie nicht so einfach zustande.

Warum?
Ein Virus, das gerade am Anfang einer Pandemie steht, ist noch nicht so hoch ansteckend: Ein Infizierter steckt in der Regel eher knapp eine Person an als fünf oder zehn. Es ist also nur begrenzt viel Virus im Umlauf, und so können nur begrenzt viele Mutationen entstehen. Diese Mutationen sind immer dem Zufall unterworfen. Und ein Zufall, das zeigt die Evolution, führt nur selten dazu, dass ein ziemlich optimierter Organismus noch besser wird. Das Virus steht also meistens kurz vorm Aussterben im Menschen – es sei denn, es produziert schnell genug und per Zufall die richtigen Mutationen.

Eine Pandemie kommt nicht so einfach zustande, sagen Sie. Ist das der Grund, dass Sie trotz jahrzehnte­langer Corona­virus-Forschung von Sars-CoV-2 überrascht wurden?
Dass eine Pandemie kommen kann, ist klar für jeden, der an Viren arbeitet, die vom Tier auf den Menschen springen. Wir hatten mehrere Jahre an Mers gearbeitet und gesehen: Dieses Virus hat den ersten Fuss oder den ersten Zeh in der Tür. Vom jetzigen Sars-2 wurde ich überrascht, weil ich … Ja, also, letztlich, weil ich bis vor kurzem in der naiven Vorstellung lebte, dass der Übergangs­wirt, das waren bei Sars-1 Schleich­katzen und Marder­hunde, dass das im Prinzip kontrolliert ist in China.

Eigentlich ist es ja ganz einfach: «Alle, die sich nicht impfen lassen, werden sich mit Sars-2 infizieren» (Bild: 2007 im Tropen­institut Hamburg). Benno Kraehahn

Was heisst das, dass der Übergangs­wirt kontrolliert ist?
Es ist ja nicht so, dass man davon ausgehen muss, dass Fledermäuse so ein Virus direkt zum Menschen bringen. Ich habe selbst in Feldarbeit Sars-ähnliche Corona­viren in Fledermäusen untersucht. Diese Sars-Viren in Fledermaus­beständen gibt es auch in Europa. Man kann im Labor zeigen, dass sie nicht so leicht von der Fledermaus auf den Menschen übertragbar sind. Also fragt man sich: Welches Tier ist da dazwischen? Oft sind das Nutztiere, die in grossen Beständen zusammen­gepfercht sind, in denen das Virus hochkochen kann. Mit diesen Tieren interagiert der Mensch anders als mit entfernten Wild­tieren wie Fledermäusen. Nehmen Sie Felltiere. Marder­hunden und Schleich­katzen wird lebendig das Fell über die Ohren gezogen. Die stossen Todes­schreie aus und brüllen, und dabei kommen Aerosole zustande. Dabei kann sich dann der Mensch mit dem Virus anstecken. Diese Tiere waren bei Sars-1 eindeutig die Quelle. Das ist wissenschaftlich belegt. Für mich war das eine abgeschlossene Geschichte. Ich dachte, dass diese Art von Tier­handel unterbunden worden sei und dass das nie wieder kommen würde. Und jetzt ist Sars zurückgekommen.

Wie ist es zurück­gekommen?
Es gibt verschiedene Hypothesen. Das ist ja in den Medien gerade wieder ein grosses Thema.

Da gibt es ja die These: Dieses Virus könnte aus einem Labor entwichen sein. Dafür spricht, dass Sars-2 für den Menschen besonders ansteckend ist. Bis jetzt kann man nicht erklären, wie es mittels natürlicher Selektion dazu kam. Bei Mers und Sars kann man das ja. Dann gibt es die These, dass das Virus auf chinesischen Pelz­farmen mutiert ist. Herr Drosten, woher kam dieses Virus?
Ich denke auch in die Richtung der Pelz­industrie. Diese Labor­hypothese, die gibt es natürlich. Wenn man diese rein technisch betrachtet, wenn man einfach das Genom anschaut, ist das im Rahmen des Möglichen. Ich kann aber sagen: Ich kenne die Techniken sehr genau, die man bräuchte, um ein Virus auf diese Art zu verändern. Wenn jemand auf diese Weise Sars-2 entwickelt hätte, dann würde ich sagen, der hat das ziemlich umständlich gemacht. Das hätte man sich nicht so schwer machen müssen.

Wie meinen Sie das?
Es gibt ja eigentlich zwei Labor­thesen. Die eine wäre Böswilligkeit, dass also jemand absichtlich ein solches Virus konstruiert hat. Die andere wäre der Forschungs­unfall, dass also trotz guter Absicht und Wissbegierde ein Experiment schief­gegangen ist. Das Böswillige, also ehrlich gesagt: Da müssen Sie mit Geheim­dienstlern drüber reden. Ich kann das als Wissenschaftler nicht beurteilen.

Und was ist mit dem Forschungs­unfall?
Wenn man sich jetzt überlegen würde, man wollte bestimmte Dinge ändern: Da ist die sogenannte furin cleavage site, die Furin-Spaltstelle, eine genetische Eigenschaft des Stachel­proteins des Virus, das Auffälligste.

Die furin cleavage site: Sie sorgt bei Sars-2 dafür, dass das Virus besser in die menschliche Zelle eindringen kann?
Ja, genau. Also, wir stellen uns vor, jemand wollte schauen, was denn passiert, wenn man einem Corona­virus diese furin cleavage site verpasst, die man von den Influenza­viren kennt: Wird es dadurch bösartiger? Hierfür würde ich das Sars-1-Virus nehmen, und zwar in einer Form, die ich im Labor auch verändern kann. Also einen DNA-Klon. Verstehen Sie mich?

Wir versuchen es. Erklären Sie es uns.
Man kann ein Virus nicht einfach in eine Glasschale legen, und schon macht man damit irgend­welche Experimente. So einen DNA-Klon aus einem Virus aufzubauen, das bedeutet zwei bis drei Jahre molekular­biologische Arbeit. Solche Klone haben Forscherinnen im Übrigen ja auch tatsächlich gemacht aus dem ursprünglichen Sars-1-Virus. Hätte man im Labor also eine Art Sars-2 entwickeln wollen, dann hätte man Änderungen, zum Beispiel diese furin site, in so einen Sars-1-Klon eingefügt. Um so herauszufinden: Macht diese Anpassung das Sars-Virus ansteckender? Aber das war hier nicht der Fall. Der ganze Backbone des Virus ist anders: Sars-2 ist voller Abweichungen zum ursprünglichen Sars-1-Virus.

Was bedeutet das: Der ganze Backbone ist anders?
Lassen Sie es mich mit einem Bild erklären: Um etwa zu überprüfen, ob Anpassungen das Virus ansteckender machen, würde ich ein bestehendes System nehmen, da die Änderung einbauen und das dann vergleichen mit dem alten System. Wenn ich wissen will, ob ein neues Autoradio den Klang verbessert, dann nehme ich ein bestehendes Auto und tausche da das Radio aus. Dann vergleiche ich. Ich baue dafür nicht ein komplett neues Auto. Genau so war das aber bei Sars-2: Das ganze Auto ist anders.

Und das bedeutet?
Diese Idee eines Forschungs­unfalls ist für mich ausgesprochen unwahrscheinlich, weil es viel zu umständlich wäre. Die Idee eines böswilligen Einsatzes irgendeines Geheimdienst­labors irgendwo: Wenn überhaupt, dann käme so etwas wohl nicht aus dem Wuhan-Virologie-Institut. Das ist ein seriöses akademisches Institut.

Was ist für Sie das Plausibelste?
Karnivoren­zucht. Die Pelzindustrie.

Warum?
Ich habe dafür keinerlei Belege, ausser die klar belegte Herkunft von Sars-1, und das hier ist ein Virus der gleichen Spezies. Viren der gleichen Spezies machen die gleichen Sachen und haben häufig die gleiche Herkunft. Bei Sars-1, das ist wissenschaftlich dokumentiert, waren die Übergangs­wirte Marder­hunde und Schleich­katzen. Das ist gesichert. Ebenfalls gesichert ist, dass in China Marder­hunde in grossem Stil in der Pelz­industrie verwendet werden. Wenn Sie irgendwo eine Jacke kaufen mit Pelzkragen, ist das chinesischer Marder­hund, fast ohne jede Ausnahme. Und jetzt kann ich Ihnen sagen, dass es keinerlei Studien gibt in der wissenschaftlichen Literatur – keinerlei –, welche die Frage beleuchten, ob Marderhund-Zucht­bestände oder auch andere Karnivoren-Zucht­bestände, Nerze zum Beispiel, in China dieses Virus, Sars-2, tragen.

Wie ist das möglich?
Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich kann Ihnen nur sagen, man müsste da nur hingehen, Abstriche machen und PCR.

Warum macht man das nicht? Wäre es nicht essenziell zu wissen, wie das Virus zum Menschen gekommen ist?
Es gibt keine veröffentlichte Studie dazu. 2003 und 2004 gab es grosse Studien, die in China gemacht wurden und die für Sars-1 die Verbindung zu Marder­hunden und Schleich­katzen belegten.

Verstehen wir Sie richtig: Die Welt stand ein Jahr lang kopf wegen einer Pandemie, wir machen hier alle einen Riesen­aufwand, damit dieses Virus verschwindet – aber man ist nicht einmal zum möglichen Ursprungs­ort hingefahren und hat dort Abstriche gemacht?
Es gab eine WHO-Besuchs­mission in China. Aber die Zucht­bestände, die in vielen Regionen des Landes verteilt sind, müsste man natürlich systematisch anschauen. Man müsste im ganzen Land Stich­proben machen. Ich weiss nicht, ob chinesische Wissenschaftler das tun. Auszuschliessen ist es nicht. Ich weiss nicht, ob nicht nächste Woche eine Studie rauskommt, die das aufklärt. Das kann alles sein. Ich kann Ihnen bloss sagen: Ich habe dazu keinerlei Informationen.

Warum sind Sie denn eigentlich nicht mit nach China gereist, mit dieser WHO-Kommission?
Ich bin grundsätzlich gerne bereit, mich einzubringen. Im konkreten Fall war es so, dass die WHO, die die Mission zusammen­gestellt hat, nicht auf mich zugekommen ist.

Zurück auf die Pelzfarm: Können Sie uns erklären, wie das funktioniert? Wie kam aus Ihrer Sicht Sars-2 von der Fleder­maus über den Übergangs­wirt, den chinesischen Marder­hund, in den Menschen?
Pelztiere sind Raubtiere. Sie essen Kleinsäuger. Sie jagen in der freien Wildbahn auch Fledermäusen hinterher. Und Fledermäuse haben nur ein kurzes Fenster im Jahr, wo die alle zur gleichen Zeit ihre Jungen kriegen. Da fallen dann jede Menge Neugeborene von der Decke, und die liegen auf dem Boden. Und diese Wild­katzen wissen das. Die gehen in die Fledermaus­höhlen und fressen sich voll. Das ist für die eine Feier­saison, da gibt es viel zu fressen. Und dabei können die sich solche Viren einfangen. Diese Pelz­nutztier­zuchten sind teilweise Wild­zuchten, da werden also immer wieder Wildfänge dazugetan. Darum kann man sich eben auch gut vorstellen, dass solche Viren in diese Zuchten eingeschleppt werden. Und Sie können sich Fernseh­beiträge anschauen, wie das dann funktioniert, diese Fellernte: Das ist eine Industrie mit engem Kontakt zum Menschen, wo dieser sich anstecken kann.

Was kann man tun, wenn man ein Virus in einem solchen Betrieb feststellt?
Das sind Zucht­betriebe. Da ist ein Zaun drum rum. Man könnte alle Tiere impfen. Wenn man einen Impfstoff hätte. Man kann natürlich auch, wie man es in Dänemark gemacht hat, die ganzen Bestände keulen, damit ist das Virus auch wieder weg. Das kommt auch nicht so schnell wieder, jedenfalls nicht in dieser Variante. Was man sich natürlich klarmachen muss: Wenn man jetzt solche Bestände untersuchen würde, würde man vielleicht nicht mehr das Virus finden, das da – möglicherweise – vor anderthalb oder zwei Jahren gewesen ist. Wenn zwischen­durch gekeult wurde. Oder wenn sich das Virus auf eine andere Art totgelaufen hat.

Seit der Jahrtausend­wende haben wir Sars-1 erlebt, Mers, dann Sars-2. Was passiert hier?
Für die beiden Sars-Pandemien kann man sagen: Vor fünfzig, sechzig Jahren, als ein Interkontinental­flug die Ausnahme war und nur Diplomaten zum Beispiel nach China flogen und der Handel mit Asien über Schiffs­container lief – damals hätte sich so ein Virus nicht so leicht verbreitet. Der Reise­verkehr begünstigt, dass eine lokale Epidemie zur Pandemie wird. An der Quelle, beim Übergang vom Tier zum Menschen, ist es so, dass wir Menschen immer mehr Land im Wildtier­bereich nutzen und die Nutztier­haltung intensivieren. Der Fleisch­hunger der wachsenden Menschheit. Je dichter und grösser die Tier­bestände, desto mehr Chancen, dass ein Virus, wenn es einmal in den Bestand eingetragen wird, explodiert und dabei so mutiert wie Sars-2. Je reicher Menschen werden, desto mehr nutzen sie Tiere. Mers ist dafür ein gutes Beispiel.

Inwiefern?
Das Kamel als religiöses Opfertier hat eine lange Tradition, eine sehr hohe Wertigkeit. Aber es kostet auch sehr viel Geld. Arme religiöse Menschen nehmen statt­dessen Schafe. Aber je mehr Leute in jener Region reich wurden, umso mehr Kamele wurden geopfert. So werden heute beispiels­weise zur Hadsch-Saison auf der Arabischen Halbinsel allein als Opfertiere jedes Jahr 40’000 Kamele geschlachtet. Das hat es vor fünfzig Jahren noch nicht einmal in Ansätzen gegeben. Letztlich, wo auch immer auf der Welt, geht es um die Modifikation von natürlichen Systemen: Eine grosse Nutztier­population an irgend­einem Ort ist immer etwas Künstliches. Tier­nutzung gibt es nicht in der Natur. Keine Tierart nutzt eine andere Tierart in dieser Weise.

In der Schweiz wird zwar kaum darüber diskutiert, wie wir in diese Pandemie hineingeraten sind, dafür umso heftiger, wie wir da so schnell wie möglich wieder heraus­kommen: Ein Drittel der Bevölkerung ist inzwischen mindestens einmal geimpft. Restaurants, Bars, Läden, Wellness – alles offen. Der Sommer kommt. Die Infektions­zahlen sinken, zwar noch auf hohem Niveau, aber sie sinken fast kontinuierlich. Ist die Pandemie bei uns, mit unseren Impfraten, vorbei?
Was wir hier als Pandemie diskutieren, ist ja: Eine Infektions­krankheit breitet sich so aus, dass man einschreiten muss, und sei es mit Lockdown-Massnahmen, weil man nichts anderes hat. Nun haben wir etwas Zusätzliches, das Übertragungen noch viel besser reduziert als Kontakt­massnahmen: die Impfung. Beides zusammen und die wärmeren Temperaturen, welche Übertragungen um rund 20 Prozent reduzieren, heisst: Es geht runter mit den Zahlen. Die Kunst ist jetzt, die Massnahmen nicht zu schnell zurückzufahren, sonst schlägt es auch wieder exponentiell zurück. Sondern das mit einem gewissen Augen­mass zu tarieren. Das muss natürlich die Politik machen, welche ja nicht rein wissenschafts­basiert agiert, sondern in einem gewissen Ziel­kompromiss. Wenn es jetzt so weitergeht, mit Augenmass, und wenn man die Pandemie so definiert, wie wir das eben getan haben: dann, ja, die Situation ist dann zu Ende.

Dann haben wir bald Herdenimmunität?
Erklären Sie, was Sie damit meinen.

Herdenimmunität ist, wenn sich, je nach Quelle, 70 oder 80 oder 90 Prozent haben impfen lassen oder immun geworden sind durch Krankheit und dann das Virus nicht weiter zirkulieren kann. Somit sind dann auch die Nicht­geimpften geschützt.
Ja. Das wird hier nicht funktionieren.

Wie meinen Sie das?
Das war von Anfang an ein Missverständnis, wenn man das so aufgefasst hat, dass Herden­immunität bedeutet: 70 Prozent werden immun – egal jetzt, ob durch Impfung oder Infektion –, und die restlichen 30 Prozent werden ab dann keinen Kontakt mehr mit dem Virus haben. Das ist bei diesem Virus einfach nicht so. Alle, die sich nicht impfen lassen, werden sich mit Sars-2 infizieren. Der Begriff Herden­immunität stammt aus der Veterinär­medizin, wo man sich in früheren Jahren tatsächlich solche Überlegungen gemacht hat, zum Beispiel beim Rinderpest­virus, dem Masern­virus der Rinder. Hochübertragbar, aber durch eine Impfung lebenslang abzuhalten. Da kann man eben dann wirklich solche Rechnungen anstellen: Wir haben einen Nutztier­bestand, der ist in sich abgeschlossen – wie viele von den Tieren müssen wir jetzt impfen, damit das Virus nicht zirkulieren kann? Da kommt dieser Begriff her.

Menschen leben nicht in Herden.
Menschen sind keine abgeschlossene Gruppe. Wir haben Reise­verkehr und Austausch und Kontinuität, also auch ohne zu reisen gibt es das Nachbar­dorf, und das hat wieder ein Nachbar­dorf, und so geht es weiter, einmal rund um die Welt. Und so werden sich Viren verbreiten, entsprechend ihrer grund­sätzlichen Verbreitungs­fähigkeit. In ein paar Jahren werden hundert Prozent der Bevölkerung entweder geimpft oder infiziert worden sein. Auch danach wird Sars-2 noch Menschen infizieren, nur werden das keine Erst­infektionen mehr sein. Die Erst­infektion ist ja das Blöde, danach ist die Krankheit, die es auslöst, weniger schlimm. Es wird wahrscheinlich so eine Art, ja, ich will mal sagen: Erkältung werden.

Wir haben in den vergangenen Wochen viel über globale Impf-Ungleichheit gesprochen. Solange Milliarden Menschen noch nicht geimpft sind, kann dieses Virus ja immer weiter mutieren. Oder gehen ihm irgendwann die Tricks aus?
Vermutlich ist Letzteres der Fall.

Warum?
Um das zu verstehen, müssen wir über das Immun­system sprechen. Es sind unterschiedliche Teile des Immun­systems, die uns vor Ansteckung und vor Krankheit schützen. Antikörper, die uns vor Ansteckung schützen, klingen schnell wieder ab und können das Virus nur an ein paar wenigen Stellen erkennen. Wir können uns also relativ bald wieder anstecken, insbesondere, wenn das Virus genau an jenen Stellen mutiert ist.

Aber?
Aber wir werden dabei nur leicht krank. Denn jener Teil im Immun­system, der uns vor Krankheit schützt, ist viel nachhaltiger. Die Impfung schützt uns deswegen vermutlich tatsächlich mehrere Jahre davor, ernsthaft krank zu werden. Dafür sind die sogenannten T-Zellen verantwortlich, über die seit einem Jahr ständig gesprochen wird: Ihnen ist es, anders als den Anti­körpern, ziemlich egal, wenn das Virus ein wenig mutiert: T-Zellen können es anhand vieler verschiedener Merkmale wieder­erkennen. Da kann das Virus ruhig ein paar seiner Merkmale durch Mutationen verlieren.

Das heisst also: Die Sorgen, dass das umher­schwirrende Virus mutiert und die jetzigen Impfungen bald wertlos sind, sind nicht berechtigt?
Was man sieht: Der Unterschied zwischen den Virus­varianten, die auf verschiedenen Kontinenten aufgetaucht sind, ist gar nicht so gross. Es gibt aus virologischer Sicht gute Gründe anzunehmen, dass Sars-2 gar nicht mehr so viel mehr auf Lager hat als das, was es uns bisher zeigen konnte. Corona­viren mutieren grund­sätzlich langsamer und weniger stark als zum Beispiel Grippe­viren, die eigentlich ein viel grösseres Pandemie­potenzial haben. Also eine Mutante, die auf einmal wieder eine schwere Krankheit macht bei der Mehrheit der Geimpften, das kann ich mir nicht vorstellen.

Was ist mit jenen, die ungeimpft auf den Herbst zugehen – den Kindern?
Also rein technisch: Ja, man kann die impfen. Es wird sich kaum irgendwann plötzlich rausstellen, dass die Impfung für Kinder gefährlich ist und es ein unerkanntes Risiko gibt – nach allem, was man heute schon weiss. Die grosse Frage ist die nach dem Eigen­nutzen für die Kinder: Man kann natürlich impfen, damit der Schul­betrieb läuft. Aber was ist mit der Krankheits­last in Kindern? Das kann im Moment keiner ganz genau sagen. Wie viele Kinder haben nach einer Infektion, wenn sie auch mild ist, noch lange Symptome? Soeben ist eine Studie heraus­gekommen, die zeigt: Ungefähr viereinhalb Prozent der infizierten Kinder haben nach einem Monat noch Symptome wie Geruchs­verlust, Geschmacks­verlust, dauerhafte Müdigkeit. Will man das für sein Kind? Vier Prozent sind nicht wenig. Das andere ist das sogenannte Multi­system-Inflammations­syndrom, das bei einem von ein paar tausend auftritt: eine schwere Erkrankung, die bis zu sechs Monate dauern kann. Aus Eltern­perspektive wäre mein Kind geimpft. Klarer Fall. Dieses Risiko möchte ich nicht.

Herr Drosten, in Deutschland wurden Sie mit dem NDR-Podcast «Corona­virus-Update» für viele zur ersten Informations­quelle in dieser Krise. Was hätten Sie damals, als Sie vor über einem Jahr mit dem Podcast begannen, gerne gewusst, was Sie heute wissen?
Wie die Medien funktionieren, das wusste ich damals nicht.

Was meinen Sie damit?
Was mir überhaupt nicht klar war, ist diese false balance, die entstehen kann in der Öffentlichkeit, in den Medien. Und dass man diese nur bedingt korrigieren kann.

False balance?
Dass man sagt: Okay, hier ist eine Mehrheits­meinung, die wird von hundert Wissenschaftlern vertreten. Aber dann gibt es da noch diese zwei Wissenschaftler, die eine gegenteilige These vertreten. In der medialen Präsentation aber stellt man dann einen von diesen hundert gegen einen von diesen zweien. Und dann sieht das so aus, als wäre das 50:50, ein Meinungs­konflikt. Und dann passiert das, was eigentlich das Problem daran ist, nämlich dass die Politik sagt: «Na ja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen.» Das ist dieser falsche Kompromiss in der Mitte. Und das ist etwas, das ich qualitativ nicht kannte. Ich wusste nicht, dass es dieses Phänomen gibt. Ich wusste auch nicht, dass das so hartnäckig ist und sich zwangs­läufig einstellt. Das hat sich ja in praktisch allen Ländern eingestellt, dieses Problem. Alle Wissenschaftler sprechen davon. Dass ich da durch einen Podcast mitten in dieses Spannungs­feld reingerate, war mir nicht klar.

Sie bereuen den Entscheid?
Nein. Ich weiss nicht, ob das ein Grund wäre, deswegen so etwas nicht nochmals zu machen. Ich glaube, das war schon komplett richtig, es gemacht zu haben. Es hatte schon so einige gute Effekte, gerade in der ersten Welle, als auch diese false balance noch nicht so stark war. Die kam erst mit dem Herbst, mit dem Beginn der zweiten Welle. Und die Quittung dafür kam ja in der zweiten Welle dann auch: Diese Politik war einfach orientierungs­los. Dort haben Sie dann auch Leute, die sagen: «Ah, der eine Wissenschaftler hat das gesagt. Ich mag aber den anderen Wissenschaftler lieber, und der hat das andere gesagt.» Und dann fangen die Politikerinnen an, das miteinander zu verhandeln. Dann kommt dieser Kompromiss in der Mitte zustande, der zu einer halbherzigen Lösung führt. Und die verzeiht dieses Virus echt nicht.