Das Schulversagen

An den Schweizer Schulen explodieren gerade die Corona-Infektionen. Der Stand der Wissenschaft ist klar: Covid kann auch für Kinder gefährlich sein. Doch die Behörden zaudern und nehmen ihre Verantwortung nicht wahr.

Eine Recherche von Ronja Beck und Marie-José Kolly, 07.09.2021

Wenn es um das Pausen­brot, das Znüni geht, kennen manche Schulen in der Schweiz kein Pardon. Nutella­brötli oder Schoggi­stängeli werden konfisziert, Sandwiches auf ihre gesunden Inhalte kontrolliert. «Bei Gummi­bärchen», sagt die Leiterin einer Primar­­schule in St. Gallen, «wird das Gespräch mit den Kindern gesucht.» Das hat durchaus gute Gründe: Schweizerinnen werden immer dicker. Prävention und Aufklärung über gesunde Ernährung sind da nicht die dümmste Idee. Viele Schulen haben das erkannt und setzen eine gesunde Ernährung für die Kinder mit Akribie und Leidenschaft durch.

Bloss: Diese Gesundheits­vorsorge steht in scharfem Kontrast zum Umgang vieler Schulen mit einem hoch­ansteckenden Virus, das die Intensiv­stationen in der Schweiz gerade wieder in Bedrängnis bringt. Und mit dem sich inzwischen vor allem Ungeimpfte anstecken – darunter viele Kinder und Jugendliche.

Seit der obligatorische Schul­unterricht in allen Kantonen der Schweiz nach den Sommer­ferien wieder begonnen hat und die Kinder und Jugendlichen wieder viele Stunden zusammen in gleichen Räumen verbringen, gehen die Fallzahlen bei den 0- bis 19-Jährigen besonders steil nach oben. Der Kanton Aargau verzeichnete ein Viertel aller Ansteckungen seit Pandemie­beginn in Schulen während der ersten drei Wochen nach diesen Ferien. Im Kanton Zürich kam es letzte Woche zu so vielen Schul­ausbrüchen wie noch nie.

Warum wird das zugelassen? Ist es zu verantworten? Und wie bewertet die Wissenschaft nach dem aktuellen Stand der Forschung das Corona-Risiko für Kinder und Jugendliche? Vor allem aber: Gäbe es Alter­nativen zu einer «Durch­seuchung» ganzer Schul­klassen?

Für das Schul- und das Gesundheits­wesen sind die Kantone verantwortlich. In ihren Zuständigkeits­bereich fällt alles, was während der obligatorischen Schulzeit die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen antasten könnte. Ihre Kompetenz in diesen Fragen haben die Schweizer Kantons­regierungen in den bislang 18 Monaten Corona-Pandemie auch immer und immer wieder betont.

Fragt man die kantonalen Bildungs- und Erziehungs­direktionen, weshalb sie zum Schul­beginn zum Beispiel keine Masken­pflicht anordnen, verweisen die einen nach oben: «Gemäss Empfehlungen des Bundes­amtes für Gesundheit kann auf Masken verzichtet werden, wenn serielle Tests angeboten werden», schreibt die Bildungs- und Kultur­direktion des Kantons Uri auf Anfrage der Republik. Ähnlich argumentiert etwa der Kanton Bern: «Der Regierungs­rat (…) hat die Masken­tragpflicht auf Ende Juni aufgehoben. Dies aufgrund der entsprechenden Entscheide auf Bundes­ebene und der epidemiolo­gischen Lage.» Viele andere, wie zum Beispiel der Kanton Freiburg, zeigen nach unten – etwa auf die Frage, weshalb nicht in jedem Schul­zimmer CO2-Luft­mess­geräte oder Luft­filter­anlagen installiert werden: «Les communes (...) sont responsables des locaux scolaires et des équipements des écoles.»

Die Strategien vieler Kantone im Umgang mit Corona an Schulen zielen auf Schadens­begrenzung ab: Testen, Contact-Tracing, Isolation, Quarantäne. Die präventiven Massnahmen – die meisten Kantone nennen Hände­waschen und Abstand­halten – sind gut gemeint, schützen aber nicht oder nur sehr beschränkt vor Ansteckungen über Aerosole. Die Haltung, dass Kinder – die sich Stand heute erst ab 12 Jahren impfen lassen können – nicht besonders geschützt werden müssten, scheint sich hartnäckig zu halten.

Warum eigentlich?

Kinder und Covid: Der Stand des Wissens

Wir wissen:

  • Kinder können sich mit Sars-CoV-2 infizieren.

  • Sie können das Virus auf andere Menschen übertragen.

  • Sie können an Covid-19 erkranken.

  • Eine Erkrankung kann schwerwiegende Folgen für sie haben.

  • Und Kinder können an Covid-19 sterben.

Was fehlt, ist Präzision: Wie viel weniger wahrscheinlich als bei einer Erwachsenen ist es, dass sich ein Kind ansteckt? Dass es schwer krank wird? Dass es stirbt?

Oder, anders gefragt: Wie gefährlich ist es, sein Kind im Herbst 2021 in die Schule zu schicken?

Hier wird es, wie so oft in dieser Pandemie, etwas kompliziert. Die Studien­lage ist nicht eindeutig und hat sich über die Dauer der Pandemie zum Teil stark verändert. Häufig ist bis heute nicht ganz klar, ob das Virus gewisse Bevölkerungs­gruppen tatsächlich weniger trifft oder ob die Massnahmen das Bild stark verzerren.

Besonders in der ersten Phase der Pandemie zeigten Studien häufig eine tiefe Inzidenz bei Kindern, was übersetzt heisst: Sie steckten sich offenbar seltener an. Wie die amerikanischen CDC in ihrem jüngsten Science Brief zu Schulen anmerken, könnten die tieferen Zahlen unter anderem mit den damaligen Schliessungen von Schulen und Kitas zusammen­hängen: Statt den ganzen Tag auf engstem Raum mit den Mitschülern zu verbringen, blieben die Kinder zu Hause. In Sero­prävalenz-Studien aus den USA, in denen Wissenschaftler Personen auf Anti­körper gegen das Virus untersuchten, zeigten die Kinder und Jugendlichen im September 2020 denn auch häufig kaum Unter­schiede zu den Erwachsenen. Frühe Inzidenz­daten, die auf Testungen beruhten, unter­schätzten also das Infektions­potenzial bei dieser Alters­gruppe.

Zum gleichen Resultat kamen Wissenschaftlerinnen in der Schweiz: In einer Studie aus Genf von Ende 2020 zeigten Kinder, die 6 Jahre oder älter waren, gleich viele Anti­körper wie Erwachsene. In der ersten Sero­prävalenz-Studie, die sie durch­geführt hatten, als die Schulen geschlossen waren, war die Kluft noch deutlich auseinander­gegangen.

Wenn Kinder, die weder geimpft noch genesen sind, mit dem Virus in Kontakt kommen, können sie sich also infizieren – und zwar nicht seltener als ihre älteren Geschwister oder Eltern. Doch wie krank werden sie?

Das Wichtigste zuerst: Kinder sterben (in Ländern mit einem funktionierenden Gesundheits­system) sehr, sehr selten an Covid-19. Wenn sie an Covid-19 erkranken, überstehen Kinder die Infektion in der Regel besser als Erwachsene.

Häufig haben sie nur leichte Symptome – vielleicht etwas Husten, Bauch­weh oder Fieber – oder man merkt ihnen nicht mal an, dass sie infiziert sind. Ein weiterer Grund, warum Kinder eine tiefere Inzidenz zeigten: Wer nicht krank scheint, wird in der Regel auch nicht getestet.

Es gibt jedoch auch Kinder, die es härter trifft. Im Zusammen­hang mit Covid-19 haben Spitäler in verschiedenen Ländern Fälle von PIMS verzeichnet, das ist ein neuartiges Syndrom, das zu Ausschlag, Erweiterungen an den Herz­gefässen, Organ­versagen und im schlimmsten Fall zum Tod führen kann. Rund 100 Schweizer Kinder und Jugendliche sollen laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) in der Schweiz bisher daran erkrankt sein. Alle haben überlebt.

PIMS sei eine Art Spätreaktion, die sich erst Wochen nach einer Infektion zeige, sagt Bjarte Rogdo, Präsident der IG Pädiatrische und Neonatologische Intensiv­medizin der Schweizerischen Gesellschaft für Intensiv­medizin, zur Republik. «Oft auch bei asymptomatischen Infektionen.» Die meisten Kinder würden sich von der Erkrankung erholen. Einige trügen jedoch permanente Veränderungen an den Herz­gefässen davon. Rogdo beobachtet die steigenden Fallzahlen mit Sorge: «Wir vermuten, dass wir bei einer vierten Welle vermehrt Kinder mit PIMS sehen werden.»

Die Schweizer Taskforce geht davon aus, dass eines von 2500 bis 4000 an Covid-19 erkrankten Kindern PIMS erleidet. Der deutsche Virologe Christian Drosten schätzt das Risiko ähnlich ein.

Zum Vergleich: Die Europäische Arznei­mittel-Agentur (EMA) schätzte im April das Risiko, nach einer Astra-Zeneca-Impfung eine gefährliche Sinus­venen­thrombose zu erleiden, auf 1 zu 100’000. Also massiv tiefer. Und doch genug für viele Menschen in Europa, um sich gegen diesen Impfstoff zu entscheiden – oder zumindest abzuwarten.

PIMS ist selten. Doch wenn es ein Kind oder eine Jugendliche erwischt, das schreibt auch das BAG, wird oft ein Spital­aufenthalt zwingend. Im Interview mit der Republik sagte Virologe Drosten zu PIMS: «Aus Eltern­perspektive wäre mein Kind geimpft. Klarer Fall. Dieses Risiko möchte ich nicht.»

Seit Juni 2021 können sich in der Schweiz Kinder ab 12 gegen Covid-19 impfen lassen. Wann eine Impfung auch für die kleineren Kinder möglich sein wird, dazu äussert sich die Zulassungs­behörde Swissmedic auf Anfrage der Republik nicht. «Swiss­medic macht keine Prognosen. Als eine der Wissenschaft verpflichtete Organisation wäre dies nicht zielführend», schreibt der Medien­sprecher. In den USA hofft man, noch in diesem Jahr.

Mit Long Covid drohen weitere Langzeit­folgen

Bis zur Impfung ist PIMS nicht die einzige Folge­erkrankung von Covid-19, die den Kindern droht. Auch Long Covid, also andauernde Krankheits­symptome, ist bei den Kleinen angezeigt. Und die bisher grösste Blackbox.

Selbst bei Erwachsenen ist bis heute nicht klar, wie viele auch nach einer durch­gemachten Covid-19-Erkrankung noch zu kämpfen haben. Studien wiesen tiefe einstellige bis mittlere zweistellige Prozent­­zahlen aus von Erkrankten, die über Monate hinweg noch an Symptomen leiden. Wobei die Symptome unter­schiedlich schwer sind.

Zu Long Covid bei Kindern zeigen zwei viel zitierte Studien aus der Schweiz und aus England tiefe Zahlen: Rund 2 Prozent sollen zwei bis drei Monate nach der Erkrankung noch Symptome zeigen. Also wohl deutlich weniger, als man das bei den Erwachsenen erwartet.

Beide Studien wurden jedoch von renommierten Wissenschaftlern kritisiert. In der Schweizer Ciao-Corona-Studie der Universität Zürich sind die Fallzahlen zu tief für eine repräsentative Aussage, bei jener des King’s College in London ist das Studien­­design umstritten. Das britische Statistik­amt ONS schätzte das Risiko für infizierte Kinder zuletzt um ein Viel­faches höher ein: Im April hatten 7–8 Prozent der 2- bis 16-Jährigen noch drei Monate nach einem positiven Test Symptome. (In einer Haushalts­umfrage desselben Statistik­amts von August, die auch nicht getestete Personen miteinschliesst, waren die Werte natur­­gemäss viel niedriger.) Vielleicht spüren 2 Prozent, vielleicht bis zu 10 Prozent der infizierten Kinder wochen- oder monate­lang noch Covid-Nachwirkungen. Dabei ist auch ein prozentual kleineres Risiko noch ein substanzielles Risiko: Bei einer unkontrollierten Verbreitung der Delta-Variante müssen wir erwarten, dass sehr viele Kinder monate­lang Symptome haben werden – von Husten über Müdigkeit bis zu Konzentrations­schwierigkeiten.

Wie schlimm ist nun also Covid-19 für Kinder? Die Details sind manchmal noch zu wenig erforscht, manchmal umstritten. Doch in einigen Punkten herrscht ernüchternder Konsens:

  • Kinder können an Covid-19 erkranken, auch schwer.

  • Eine Erkrankung kann lang­fristige Komplikationen nach sich ziehen.

  • Je mehr Virus im Land zirkuliert, desto mehr Kinder werden erkranken.

Mit Delta zirkuliert nun eine Variante, die ansteckender ist als alle Sars-CoV-2-Varianten, welche die Welt bisher kannte. Die Virus­last – die Zahl der Virus­partikel im Körper der Infizierten – ist bei Delta viel höher als bei den früheren Varianten von Sars-CoV-2. «The war has changed», resümiert die amerikanische Gesund­heits­behörde CDC in einem internen Papier.

Gleichzeitig seien 70 Prozent aller Kinder und Jugendlichen bis 19 Jahre in der Schweiz noch nicht immun, schreibt die Taskforce. Und es mehren sich die Hinweise darauf, dass Delta auch schwerere Krankheits­­verläufe hervor­­ruft, was ebenfalls mit der höheren Virus­last zusammen­hängen könnte. Ob das auch für Kinder gilt, ist umstritten – die amerikanischen CDC gaben Anfang September Entwarnung, gemäss einer neuen Studie aus England dagegen sieht es auch für Jüngere schlechter aus als noch zu Alpha-Zeiten.

In den USA lagen in diesem Sommer so viele Kinder mit Covid-19 im Spital wie noch nie seit Pandemie­beginn (wobei Länder­vergleiche wegen der unter­schiedlichen gesund­heitlichen Verfassung der Bevölkerung und wegen unter­schiedlicher Gesundheits­systeme natürlich schwierig sind). In der Schweiz schrieb die Gesellschaft für Intensiv­medizin Mitte August, auf den Intensiv­stationen würden wieder viel mehr und «vermehrt deutlich jüngere kritisch kranke» Patientinnen behandelt.

In der Schweiz gab es nach den Sommer­ferien an Schulen gleich dutzend­fach Virus­ausbrüche. Und mit jedem das Risiko, dass in gerade dieser Klasse auch ein Schüler sitzt, dessen Immun­system Delta nicht gewachsen ist.

«Wir müssen alle Werkzeuge einsetzen, die uns zur Verfügung stehen», sagte die Epidemiologin Céline Gounder von der New York University mit Blick auf den Schul­­beginn in einem Interview mit der «New York Times».

Die Erzählung über die nicht betroffenen Kinder

Schon sehr früh ordneten die Schweizer Gesundheits­behörden die Kinder in dieser Pandemie einer klaren Kategorie zu. Status: unbedeutend.

«Die Kinder sind sehr wenig betroffen durch dieses Virus», sagte Daniel Koch, damals Corona-Berater der Schweizer Regierung, im März 2020 an einer Medien­konferenz. Und legte einen Monat später nach: «Kinder werden praktisch nicht infiziert und geben das Virus vor allem nicht weiter.»

In den ersten Monaten des Ausbruchs war besonders eine Frage drängend: Verteilen die Kleinen im Land das Virus genauso stark wie die Grossen? Daniel Koch kam früh zum dezidierten Schluss: Tun sie nicht. Auch Gesundheits­minister Alain Berset sagte im April 2020: «Junge Kinder bekommen die Krankheit kaum und übertragen sie weniger.»

Selbst die Schweizer Corona-Taskforce, bestückt mit dekorierten Wissenschaftlerinnen und bekannt als Früh­warn­system, das bereits letzten Sommer vor explodierenden Fallzahlen im Herbst warnte (und damit richtig lag), blieb bei den Kindern vergangenen Winter ungewohnt entspannt. So schrieb die Task­force in ihrem Policy Brief im Dezember 2020 zur Situation an den Schulen: «Bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Kinder unter 12 Jahren ein geringeres Risiko haben als Erwachsene, CoV-2 SARS zu übertragen oder sich damit anzustecken.» Massen­tests an Schulen würden den Pandemie­verlauf «wahrscheinlich nicht beeinflussen», dafür aber die Test­kapazitäten in der Schweiz «unverhältnis­mässig stark belasten». Und das für eine Bevölkerungs­gruppe, «die basierend auf den bisherigen Daten nicht der Haupt­treiber dieser Pandemie ist».

Dieser Policy Brief liest sich stellen­weise wie eine Entwarnung. Und löste damit in den sozialen Netzwerken tumult­artige Diskussionen aus. Viele – mit und ohne wissenschaftlichen Hinter­grund – fühlten sich vor den Kopf gestossen. Denn bereits vor der Veröffentlichung dieses Policy Brief gab es Studien, unter anderem aus Deutschland oder den USA, sowie einen viel beachteten Preprint aus der Berliner Charité, die dies stark infrage stellten.

Die Aussagen zu den Schulen lösten auch in der Taskforce selbst hitzige Diskussionen aus, wie Recherchen der Republik zeigen. Erstellt hatte diesen Policy Brief die Public-Health-Gruppe der Task­force. Das kritische Feedback von anderen Taskforce-Mitgliedern – die wissenschaftliche Literatur werde im Entwurf zu einseitig diskutiert, und die Aussage, Kinder würden weniger infiziert und seien weniger ansteckend als Erwachsene, müsse differenziert werden – fand wenig Gehör. Die Public-Health-Gruppe entschied sich für eine Publikation ohne grosse Anpassungen. Als daraufhin der Tumult in der Öffentlichkeit losging, wurde das Thema Kinder auch intern erneut kontrovers diskutiert.

Vier Monate später, Ende April 2021, tönte es aus der Taskforce in Sachen Kindern deutlich differenzierter: «Die derzeit verfügbare wissenschaftliche Literatur erlaubt keine präzise Bestimmung des Zusammen­hangs zwischen dem Alter einer Person und der Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Virus zu infizieren», schrieben die Wissenschaft­lerinnen in einem Policy Brief zur Rolle der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie. «Es braucht dringend mehr Tests bei Kindern jeden Alters und bei Jugendlichen», so das Fazit. Die Schlüsse, die gezogen wurden, stehen fast konträr zu jenen im Dezember.

Bei vielen im Land hatte sich da jedoch längst eine Haltung festgesetzt, die sich kaum mehr verrücken liess: Kinder und Covid? Kein Problem. Vor allem die Aussagen von Corona-Regierungs­berater Daniel Koch sollten die Haltung der Gesundheits­behörden in Bezug auf Kinder nachhaltig prägen. Bis heute.

Isabella Eckerle, Virologin an der Universität Genf, beschrieb im Dezember 2020 gegenüber der «Zeit», wie die Erzählung der kaum betroffenen Kinder selbst die Forschung blockierte: «Wir haben an meinem Institut zum Beispiel recht früh Studien­anträge eingereicht, aber die wurden anfangs alle abgelehnt, weil es hiess, Kinder spielen ja sowieso keine Rolle und das sei nur eine akademische Frage. Zumindest hier in der Schweiz hatte ich manchmal das Gefühl, dass man da gar nicht unbedingt hinschauen wollte.»

Dass die Situation der Kinder in dieser Pandemie zu wenig beachtet wird, ist keine helvetische Eigenheit. «Es gab einen Mythos im ersten Jahr dieser Epidemie, dass Kinder irgendwie immun wären», sagte der leitende Oberarzt des Kinder­spitals in New Orleans – in dem derzeit so viele Kinder liegen wie noch nie in dieser Pandemie – kürzlich an einer emotionalen Medien­konferenz. «Das war ein Irrtum. Es ist deutlich, dass Kinder von dieser Pandemie stark betroffen sind. Seit dem Auftreten von Delta erst recht.»

Was also tun?

Was der Werkzeug­kasten hergibt: Masken tragen. CO2-Mess­geräte und Luft­filter in Klassen­zimmern installieren. Regel­mässig lüften. Repetitiv testen, um Infektionen direkt aufzuspüren. Lehrerinnen und Schüler dringlich daran erinnern, dass Impfungen den besten Schutz bieten. Bei Ausbrüchen: Schülerinnen, ganze Klassen oder Schulen in Isolation und Quarantäne schicken. Im Extrem­fall: Schulen schliessen. Das ist, wie man weiss, eine der effizientesten Massnahmen gegen die Verbreitung von Sars-CoV-2. (Wie stark das mit der reduzierten Mobilität von Kindern und Eltern, mit der verstärkten Wachsamkeit der Bevölkerung oder mit Geschehnissen im Schul­haus selbst zu tun hat, ist oft nicht einfach zu ermitteln.)

Wünschenswert sind Schul­schliessungen nicht: Präsenz­unterricht ist im Interesse der Kinder und Jugendlichen – und auch der Gesellschaft.

Verordneten die Kantons­regierungen präventive Massnahmen wie Masken­pflichten, käme es höchst­wahrscheinlich seltener dazu, dass Schüler wegen Krankheit, Isolation oder Quarantäne Unterricht verpassen oder gar eine ganze Schule ihre Türen schliessen muss. Daher plädierte auch die ETH-Forscherin und neue Präsidentin der Science-Taskforce Tanja Stadler im «Tages-Anzeiger» für «nicht einschneidende Massnahmen an Schulen wie CO2-Sensoren und Luft­filter sowie Masken für die grösseren Kinder und engmaschige Testung».

In einer Studie aus Genf, die noch peer-reviewed werden muss, haben die Autorinnen anhand eines vom Cern entwickelten Tools angeschaut, welche Massnahmen die Anzahl Viren­partikel in einem Schul­zimmer mit einem kranken Schüler am stärksten reduzieren. Demnach ist ganztägiges Lüften im Winter besonders effektiv (im Sommer dann deutlich weniger), auf dem zweiten Platz liegt das Masken­tragen, danach kommen zwei Luft­filter im Zimmer. Fazit der Forscherinnen: Am wirksamsten ist es, Massnahmen wie Lüften, Masken und Luft­filter zu kombinieren. Dadurch würde die Virus­konzentration in der Luft mindestens um das 30-Fache reduziert.

Die Kombination von Massnahmen wird auch das Schweizer-Käse-Modell genannt. Denn keine Massnahme ist perfekt. Doch legt man die unperfekten Massnahmen, löchrig wie Käse, übereinander, erreicht man einen guten Schutz. Es wäre der Weg, den die Schulen in dieser Pandemie gehen müssten, um die Kinder möglichst vor einer Infektion zu schützen. Besonders mit der so ansteckenden Delta-Variante im Land.

Wer geht ihn in der Schweiz?

Das ernüchternde Fazit: Kaum ein Kanton wirklich befriedigend.

Wie die Kantone handeln – oder eben nicht

Mit den meisten präventiven Massnahmen ist wohl das Departement für Bildung und Kultur der Waadt in den Schul­herbst gestartet: drei Wochen Masken­pflicht ab der 9. Klasse; die Vorgabe, zu Beginn jeder Schul­lektion 15 Minuten zu lüften; die Verteilung von CO2-Luft­mess­geräten (ein oder zwei Geräte pro Schule seien schon seit Herbst 2020 verteilt worden – bald sollen 500 bis 1000 weitere dazukommen).

Der schweizerische Lehrer­verband hatte im November 2020 gefordert, man möge Luft­reinigungs­­geräte mit HEPA-Filter in Klassen­­zimmern installieren, die nur schlecht gelüftet werden können. Doch die Konferenz der kantonalen Erziehungs­direktoren teilte schon damals auf Anfrage von SRF mit, sie gebe «keine Empfehlungen ab zur Anschaffung mobiler Raum­luft­reiniger». Viele Kantone schreiben auch heute auf Anfrage der Republik, Luft­filter seien Sache der Gemeinden. Manche schreiben auch explizit, sie fänden die Geräte «nicht notwendig», etwa der Kanton Zug.

Andere verzichten aus praktischen Gründen: Das St. Galler Bildungs­departement teilt mit, man habe den Einsatz von Raum­luft­reinigungs­geräten «erprobt, das Fazit fiel jedoch gemischt aus». Geräte könnten «eine falsche Sicherheit suggerieren», und ihr Einsatz müsse «Vorgaben folgen, die im Schul­alltag nicht leicht umgesetzt werden können», etwa was die Zahl der Geräte pro Zimmer angehe, ihre korrekte Einstellung und Bedienung während des Unter­richts. Auch der Aargauer Regierungs­rat macht den Schulen keine Vorgabe zu Luft­filtern: Geräte mit genügend Reinigungs­leistung sowie deren Wartung seien ziemlich teuer, sie bräuchten Energie und Platz und machten Lärm. Und Basel-Stadt schreibt auf Anfrage, die Ansteckungen fänden selten im Schul­zimmer statt, häufiger während der Pausen und beim Essen.

Auch mit dem flächen­deckenden Einsatz von CO2-Mess­geräten ist es nicht weit her. Nebst der Waadt sind in den kantonalen Schulen von Basel­land Geräte im Einsatz, 5 bis 10 pro Schule. Vielen anderen Kantonen scheint so etwas «unverhältnis­mässig» (Uri) oder «excessif» (Wallis) – Lehrer bräuchten keine Mess­geräte, um zu merken, «dass ein voll besetztes Schul­zimmer mindestens alle 10–15 Minuten gelüftet werden muss», wie der Kanton Uri mitteilt. Aber: Die zirkulierenden Geräte trügen zur Sensibilisierung bei. Die meisten Kantone überlassen den Entscheid über Geräte den Gemeinden.

In wenigen Kantonen, etwa dem Tessin und der Waadt, hat die Regierung für die ersten paar Schul­wochen eine Masken­pflicht verordnet – ab dem 10. September ist das voraus­­sichtlich passé. Die Waadt schreibt wie mehrere andere Kantone: Ab dann wolle man Massnahmen jeweils der epidemiologischen Lage anpassen. Im Klartext: nicht mehr präventiv handeln, sondern reaktiv.

Der Aargauer Regierungs­rat musste bereits reagieren und hat die Masken­pflicht ab dem 1. September und ab der 5. Klasse wieder eingeführt, weil sich die Infektions­­fälle trotz repetitiver Tests häuften, in Luzern lief es ganz ähnlich. Diese Massen­tests sind oft freiwillig – nur in manchen Kantonen, etwa Obwalden oder Basel-Stadt, sind alle Schulen verpflichtet, sie anzubieten (allerdings ist die Teilnahme für die Kinder freiwillig). Im Kanton Zürich bieten Massen­tests rund 60 Prozent der Schul­gemeinden an.

Mehrere Kantone verweisen darauf, dass sie repetitive Tests als Früh­warn­system einsetzen und deshalb auf die Masken verzichten können (FR, ZG, JU, SZ, GR, OW, SH, BS). «Unsere Erfahrungen seit dem Februar 2021 zeigen, dass an den reihen­getesteten Schulen alle Infektions­ketten unter­brochen werden konnten», teilt der Kanton Zug mit. Manche Kantone argumentieren auch mit Blick auf die Kinder selbst gegen Masken: Kinder hätten in der Pandemie bereits einen hohen Preis bezahlt, und man wolle ihnen einen möglichst normalen Schul­alltag bieten, um psychologische, psychische und affektive Konsequenzen zu vermeiden, teilt der Kanton Wallis der Republik mit. Oder: Für manche Unterrichts­inhalte, etwa Sprach­lektionen – Laute entdecken, Lesen lernen –, seien Masken hinderlich, so die Kantone Freiburg und Jura. Der Waadt­länder Kantons­arzt schreibt, für die «immense Mehrheit der Kinder» sei eine Covid-19-Infektion gutartig. Neben den pädagogischen Gründen sieht er auch deshalb eine Masken­pflicht in Primar­schulen als unverhältnis­mässig an.

Der Kanton Zürich «empfiehlt» das Tragen einer Maske in Schul­räumen «dringlich». Aber die meisten möchten nicht das einzige Kind auf dem Pausen­platz oder im Schul­zimmer sein mit einer Maske im Gesicht. Und die meisten Eltern möchten ihren Sohn, ihre Tochter nicht Scham oder Spott aussetzen. Es ist wie im öffentlichen Verkehr: Solange Masken bloss eine Empfehlung waren, trug sie kaum jemand. Sobald sie zur Pflicht wurden, praktisch alle – ohne Scham, ohne Spott und meist auch ohne Schimpfen.

Auf die vierte Welle mit dem Appell an die Eigen­verantwortung von Kindern reagieren: schwierig.

Die Zürcher Bildungs­direktorin Silvia Steiner sieht das anders: «Einfach auf Vorrat etwas befehlen» bringe nichts, sagte Steiner, die auch die Konferenz der kantonalen Erziehungs­­direktorinnen präsidiert, kürzlich zu SRF. Die Massnahmen müssten auch auf Akzeptanz stossen, und in manchen Schulen seien viele Kinder, deren Eltern repetitive Tests ablehnten. So kommt es, dass in den Schulen des Kantons unter­schiedlichste Schutz­konzepte existieren. Mit oder ohne Testen, mit oder ohne Masken, mit oder ohne Lüftungs­anlage.

Wie die Eltern den Massnahmen gegenüber­stehen, beeinflusst offenbar das, was die Schulen als Mass­nahmen in ihre Schutz­konzepte aufnehmen.

Das sagt auch Andrea Hadorn-Stuker, Schul­pflegerin in Gossau, Kanton Zürich: Sie beobachte im Schul­bereich derzeit eine «Umkehrung der Ordnungs­macht». Normaler­weise sei es der Kanton, der für den Schul­alltag Dinge verordne. Der Kanton entscheidet, die Gemeinden setzen um, die Eltern schicken ihre Kinder zum Unter­richt. Im Alltag der Pandemie sei aber vieles den Gemeinden überlassen – und das, was die Eltern sagten und dächten, spiele für deren Entscheide eine grosse Rolle. «Das macht etwas ohnmächtig», sagt Hadorn-Stuker.

Staatsrechtler Rainer J. Schweizer findet dazu im Gespräch mit der Republik deutliche Worte: «Da wird eine Verantwortung an die Gemeinden abgeschoben.» Eine Verantwortung, die sie gar nicht wahrnehmen könnten. «Sie haben in der Regel die nötige medizinische Fach­kompetenz gar nicht», sagt er. Es sei «grundfalsch», das Zepter nach unten weiter­reichen zu wollen. Denn verantwortlich für die Gesundheit in den Schulen, das seien die Kantone.

Ob nun Kanton oder Gemeinde: Man tut da, wo sich zu viel Widerstand regt, erst einmal nichts. Man wartet, bis das Virus ausbricht und Covid-19-Kranke, vielleicht auch Spital­eintritte, PIMS-Fälle oder Langzeit­folgen verursacht. Dann hat man Argumente, um Massnahmen einzuführen. Das ist so etwas wie das diametrale Gegenteil einer präventiven Strategie, die potenziell gefährliche Situationen gar nicht entstehen lässt. Und es erinnert stark daran, wie die Schweiz im Herbst 2020 in die zweite Welle schlitterte.

US-Präsident Harry S. Truman hatte ein Schildchen auf seinem Schreib­tisch im Oval Office. «The buck stops here!» stand da drauf. Ich bin verantwortlich – und wenn etwas daneben­geht, dann bin ich am Ende schuld. Wer müsste hierzulande ein solches Schildchen auf seinem Schreib­tisch stehen haben, wenn es um die Sicherheit der Kinder in den Schulen geht?

Oder anders gefragt: Was, wenn das grosse Schweizer Delta-Experiment gründlich schiefgeht?