«Man darf Kinder nicht einfach in die Gefahr laufen lassen»
Viele Kantone zögern mit Massnahmen wie Maskenpflicht oder Luftfiltern gegen Corona-Infektionen in den Schulen. Oder schieben die Verantwortung den Gemeinden zu. «Unhaltbar», findet der Staatsrechtler Rainer J. Schweizer. Im Extremfall, sagt er, könnte der Staat in einem Krankheitsfall sogar haften.
Ein Interview von Ronja Beck, Marie-José Kolly und Olivia Kühni, 07.09.2021
Die Zahl der Covid-Erkrankten steigt, auch unter Kindern und an Schulen. Viele Eltern sorgen sich, viele sind verunsichert, was sie von der Schule erwarten dürfen und wer überhaupt zuständig ist. Andere bestehen darauf, dass beispielsweise eine Maskenpflicht zu sehr in die Selbstbestimmung der Kinder eingreifen würde, und verweisen dabei auf ihre Freiheitsrechte.
Eine Recherche der Republik zeigt: Auch im besonders heiklen Bereich der Schulen wird in der Schweiz die Verantwortung herumgeschoben. Manche Kantone verweisen an den Bund, andere an die Gemeinden. Doch wer ist wirklich verantwortlich für den Schutz der Kinder? Das wollten wir vom emeritierten St. Galler Staatsrechtsprofessor Rainer J. Schweizer wissen.
Herr Schweizer, ganz direkt: Haben Schulen die Pflicht, Kinder vor einer Covid-Infektion zu schützen?
Ja. Schulen haben eine sogenannte Obhutspflicht, sie müssen Kinder vor Gefährdungen schützen. Das ist in anderen Bereichen völlig offensichtlich. Bei einer Schulreise darf man nicht an eine gefährliche Felswand gehen, wo Kinder abstürzen könnten. Das betrifft auch die Gesundheit: Schulen dürfen beispielsweise nicht einfach verdorbene Ware zum Zmittag servieren. Es steht ausser Frage, dass eine Schutzpflicht auch bei Covid besteht.
Warum?
Man will in der Schweiz aus verschiedenen Gründen den Präsenzunterricht für Schulkinder beibehalten. Gleichzeitig ist die Schweiz erstens verglichen mit anderen Ländern leider nicht sehr gut durchgeimpft – ein grässliches Wort, ich weiss –, wir sind also kein Land, in dem die Bürger im Gesamtdurchschnitt gut vor Infektionen geschützt wären. Zweitens wissen wir – jedenfalls in der Schweiz – noch immer nicht sehr viel über den Krankheitsverlauf der Delta-Variante bei Kindern. Und drittens gibt es manche Kinder mit erhöhtem Risiko aufgrund von Krankheiten und Veranlagungen. Also: Ja, die Schulen haben eine Schutzpflicht.
Wer ist dafür verantwortlich?
Die Kantone. Sie sind für die obligatorischen Schulen, also die Grundstufe und die Sekundarstufe I, aber auch für die Sekundarstufe II zuständig. Und für die Gesundheit.
Rainer J. Schweizer ist emeritierter Staatsrechtsprofessor der Universität St. Gallen. Er war von 1993 bis 2006 Präsident der Eidgenössischen Datenschutzkommission, davor nebenamtlicher Bundesrichter am Eidgenössischen Versicherungsgericht und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD).
Wir haben alle Kantone gefragt, welche Massnahmen sie treffen. Viele haben uns geantwortet, für bestimmte Massnahmen wie CO2-Messgeräte, Luftfilter oder die Maskenpflicht seien die Gemeinden zuständig.
Das ist grundfalsch. Es ist staatsrechtlich grundfalsch! Es gibt im Bildungsbereich eine Aufgabenteilung zwischen Kantonen und Gemeinden, aber das betrifft nur einzelne Teile. Beispielsweise wählen mancherorts die Gemeinden die Lehrpersonen oder die Schulleitung. In der Regel sind die Gemeinden auch für die Schulgebäude und die Sportanlagen oder die Schwimmbäder zuständig – für viele übrigens eine hohe finanzielle Belastung. Dass Gemeinden also Luftfilter installieren müssten, ist richtig.
Und was ist grundfalsch?
Entscheiden und verordnen müsste das der Kanton, nicht die Gemeinde. Der Schulbetrieb, also der Lehrplan und die Gesundheitsvorsorge, sind ausschliesslich Sache des Kantons. Gerade im Gesundheitsbereich ist das doch offensichtlich: Eine Gemeinde kann doch nicht plötzlich einfach, was weiss ich, generelle Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen einführen. Für die Gesundheit ist das kantonale Gesundheitsdepartement zuständig. Es muss Konzepte fassen und Massnahmen umsetzen. Und es muss sich angesichts der heutigen Lebensrealitäten dafür auch interkantonal koordinieren. Es ist wenig sinnvoll, beispielsweise am Walensee in St. Gallen ein Konzept zu haben und ein paar Gemeinden weiter ein anderes, weil man nun plötzlich auf Glarner Boden ist. Warum das oft nicht klappt, ist eine andere Frage. Aber: Zuständig sind die Kantone, und zwar die Gesundheitsdirektorinnen, die haben das nötige Fachwissen, gemeinsam mit den Erziehungsdirektoren. Das ist natürlich das nächste Problem, dass auch noch beide Departemente zusammenarbeiten müssten.
Was wir fast ebenso oft hörten: Sie begrenzten sich auf die Vorgaben des Bundes – etwa bei der Maskenpflicht.
Da beginnen nun eben die Schwierigkeiten unseres staatspolitischen Systems. Der Bund dürfte gemäss Epidemiengesetz bestimmte Dinge veranlassen. Er hat auch in den letzten anderthalb Jahren ein grosses Fachwissen erworben. Grundsätzlich ist es richtig, wenn der Bund absichert, dass ein gewisser Mindeststandard garantiert wird. Aber primär verantwortlich sind in unserem System die Kantone. Das ist auch sinnvoll, weil beispielsweise in einem agrarisch und von Gebirge geprägten Kanton andere Schutzmassnahmen wirken als in einem dicht besiedelten städtischen Quartier. Die Kantone können auch innerhalb ihres Gebiets differenziert handeln. Der Bund hat zudem keine Möglichkeiten, den Vollzug zu überwachen. Es ist also richtig, dass der Bund sagt, die Verantwortung liege bei den Kantonen. Die achten übrigens auch sehr darauf, dass sie das in den Händen behalten: Bezeichnend ist das Protestschreiben der Erziehungsdirektorenkonferenz, dass der Bund bezüglich der Testung an Schulen nicht mit den Kantonen gesprochen habe. Ungeachtet dieser Meinungsdifferenz sollten die Kantone und die EDK jetzt das BAG-Dokument zum Schutz vor Covid an Schulen beachten und umsetzen.
Tests sind ein gutes Anschauungsbeispiel. Nehmen wir zum Beispiel den Kanton Zürich: Hier machen 60 Prozent der Schulgemeinden Reihentests, 40 Prozent machen das nicht. Der Kanton sagt: Wir empfehlen nur, zuständig sind die Gemeinden.
Das ist unhaltbar. Thalwil macht mit und Horgen nicht – was für ein Unsinn. Diese Entscheide muss der Kanton treffen, das ist den Gemeinden nicht zuzumuten. Sie haben in der Regel die nötige medizinische Fachkompetenz gar nicht, auch wenn zufällig eine Hals-Nasen-Ohren-Ärztin im Gemeinderat sitzt. Besonders wichtig wäre auch die Frage, was jetzt, bei immer mehr Infektionen, im konkreten Fall passiert: Wenn ein neunjähriger Bub an Covid erkrankt – nimmt man ihn dann tatsächlich einfach raus und lässt die Klasse weiterlaufen? Gibt es spätestens mit dem zweiten Fall eine Quarantäne für alle oder jedenfalls für die Sitznachbarin des erkrankten Kindes? Kinder, gerade Kinder, brauchen Gewissheit. Man darf sie nicht einfach in die Gefahr hineinlaufen lassen.
Und das tut man, wenn man an Schulen keine Tests und keine Maskenpflicht hat?
Ja! Ja! Es muss klare Weisungen geben für die nächste Zeit, wenn die Infektionszahlen wieder steigen: beispielsweise wieder Halbklassen. Ich sage es jetzt ganz deutlich: Da wird eine Verantwortung an die Gemeinden abgeschoben. Gemeinden sollen schauen, dass die Fensterlüftung funktioniert. Solche Sachen. Für die Gesundheit im Schulbetrieb aber ist der Kanton zuständig, der auch sonst allein für die Gesundheit zuständig ist.
Ein häufiges Argument gegen Massnahmen an den Schulen ist, man könne Kindern keine Massnahmen aufzwingen, die für Erwachsene nicht mehr gelten würden, etwa die Maskenpflicht. Das sei eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung.
Das greift nicht, weil die Idee hinter den Regelungen die Frage nach Orten mit erhöhter Infektionsgefahr ist. Für diese gelten andere Regeln als sonst, darum geht es. Wenn das Schulgebäude oder die Sportanlagen Risikozonen sind, dann gelten dort strengere Regeln, genauso wie beispielsweise für die Discos. Natürlich muss man Rücksicht darauf nehmen, dass man Kindern, vor allem kleinen, nicht dasselbe zumuten kann wie Erwachsenen. Aber grundsätzlich ist die Ungleichbehandlung verhältnismässig und verfassungsrechtlich korrekt.
Es gibt eine beachtliche Zahl von Leuten, die es als unzulässigen Eingriff in die Freiheitsrechte betrachten, wenn beispielsweise Schulkinder Masken tragen sollen. Was antworten Sie Bürgerinnen, die sagen, das verstosse gegen die Verfassung?
Wie gesagt: Der Staat hat grundrechtliche Schutzpflichten. Freiheitsrechte bedeuten nicht nur eine Abwehr von unverhältnismässigen Eingriffen. Sie bedeuten auch die Pflicht, Verletzungen zu verhindern, präventiv zu handeln. Bei öffentlichen Schulen oder auch privaten Schulen, die unter kantonaler Aufsicht stehen, begeht der Staat unter Umständen sogar einen Verfassungsverstoss, wenn er dies nicht tut. Dazu gibt es auch eine Reihe von berühmten Präzedenzfällen.
Zum Beispiel?
Einer der bekanntesten wurde in Strassburg entschieden. Da ging es um die spanische Stadt Lorca mit ihrer Lederindustrie. Die Gerbereien verpesten die Luft und verschmutzen das Wasser massiv. Eine Frau López Ostra lebte mit ihren zwei Kindern in der Nähe einer Fabrik und verklagte die Stadt, weil ihre Kinder von den Abgasen und Dämpfen krank wurden und die Stadt nichts dagegen unternahm. Die Stadt reagierte nicht. López Ostra zog den Fall weiter bis vors spanische Verfassungsgericht und schliesslich nach Strassburg. Und das entschied 1994: Es gibt eine gesundheitliche Schutzpflicht der Stadt für Kinder, und diese müssen eine andere Wohnung bekommen. Es gibt mehrere solcher Fälle in der Rechtsprechung; das steht völlig ausser Frage.
Denken wir das mal weiter. Wenn ich ein Kind habe, und das steckt sich in der Schule mit Covid an, es muss auf die Intensivstation und hat allenfalls sogar schlimme Folgeschäden – haftet der Schweizer Staat?
Ich möchte die Frage der finanziellen Haftung nicht sofort ins Zentrum stellen. Es gibt zunächst einmal eine disziplinarische Verantwortung und allenfalls auch eine strafrechtliche. Wenn beispielsweise ein Schulleiter sich weigert, gewisse Massnahmen umzusetzen – da schiene mir eine Anzeige für eine disziplinarische Untersuchung angebracht.
Sie meinen, wenn ein Kanton beispielsweise repetitives Testen anordnet oder eine Maskenpflicht und eine Schulleiterin sich weigert? Sprechen Sie einen solchen Fall an?
Ja. Der Kanton hat hier auch eine Vollzugspflicht. Im Extremfall, wenn an einer Schule in der Gesundheitsvorsorge vieles schiefläuft, muss die entsprechende Erziehungsdirektorin, der Erziehungsdirektor zurücktreten. Das meine ich sehr ernst. Professor Urs Saxer aus Zürich sagte unlängst, wir hätten es mit der schwersten Krise der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Das ist wahr. Denken Sie mal, wie viele Tote wir haben in diesem Land: Da kann man doch einfach nicht mehr scherzen.
Kommen wir trotzdem noch mal auf die Haftung zurück. Haftet der Staat, wenn mein Schulkind wegen Covid schwer erkrankt?
Es kann eine Staatshaftung geben, ja. Die würde in erster Linie den Kanton betreffen. Die Schwierigkeit in einem solchen Fall wäre, festzustellen, ob die Infektion tatsächlich an der Schule passiert ist. Dann müsste man nachweisen, dass die Kinder grob fahrlässig erhöhten Risiken ausgesetzt wurden. Dass also die allgemeinen Schutzkonzepte entweder klar ausreichten oder dass allenfalls eine Schule die Massnahmen grob fahrlässig nicht umsetzte.
Nun kann auch eine Grippeepidemie bei manchen Kindern Komplikationen verursachen. Oder andere Krankheiten. Wären auch hier die Kantone in der Pflicht, präventiv zu agieren?
Gut, dass Sie das pro memoria vorbringen. Es ist klar: Die Kantone müssen sich laufend um die Gesundheit der Schüler kümmern. Und da könnte man sich natürlich schon fragen, ob die Kantone nicht auch weitere Infektionskrankheiten präventiv abwehren könnten. Das ist eine Lehre aus Covid.