Letzter Halt Alpnach: Black Lives What?
In der Schweiz leben rund 40’000 Eritreerinnen. Aber bei Black Lives Matter spielte die grösste Schwarze Community fast keine Rolle. Warum? «Reise in Schwarz-Weiss», letzte Folge.
Von Carlos Hanimann (Text) und Anne Gabriel-Jürgens (Bilder), 05.07.2021
Nachdem ein weisser Polizist in Minneapolis George Floyd getötet hatte, erlaubte sich das Schweizer Fernsehen einen Scherz: Es machte eine Sendung über Rassismus gegen Schwarze – und lud dafür drei Weisse ein und einen Schwarzen Comedian.
Der Witz war so mies wie ungewollt. Aber man wird sich vermutlich noch lange daran erinnern. Immerhin: Damit offenbarte die «Arena», die wichtigste Politsendung des Landes, ganz unbeabsichtigt, wie gravierend das Schweizer Rassismusproblem offensichtlich ist.
Der Shitstorm kam umgehend. Ebenso die Entschuldigung des Moderators für die misslungene Sendung. Man gelobte Besserung. Eine Woche später folgte der zweite, gut gemeinte Anlauf. In die Hauptrunde luden die Sendungsmacherinnen ausschliesslich Schwarze Menschen ein. Sie vergassen nur ein Detail: die grösste Schwarze Community der Schweiz, die Eritreer.
Geflüchtete aus Eritrea machen heute rund ein Drittel der knapp 120’000 Afrikanerinnen in der Schweiz aus. Wenn in der Schweiz über Schwarze Menschen berichtet und diskutiert wird, dann standen vor allem in den letzten fünf, sechs Jahren Geflüchtete aus Eritrea im Fokus.
Häufig war der mediale Blick auf die Eritreerinnen defizitorientiert: Es geht um Ausschaffungen, um Abhängigkeit von der Sozialhilfe, um Schwierigkeiten bei der Integration. Selten drehen sich die Diskussionen um das, was die desolate Asyl- und Ausschaffungspolitik der Schweizer Behörden mit den Eritreerinnen macht, welche Diskriminierungen sie im Alltag erfahren oder welche Hürden ihnen bei der sogenannten Integration in den Weg gestellt werden.
Tatsächlich war die eritreische Community in den letzten zehn Jahren häufig Ziel von rassistischen Angriffen in Medien und Politik: Was früher die Italiener, Tamilen oder die Jugoslawen waren, sind heute die Geflüchteten aus Eritrea.
Warum also sind die Eritreer nicht präsenter in den Schweizer Debatten um Black Lives Matter?
Serie «Reise in Schwarz-Weiss»
Was hat George Floyd mit der Schweiz zu tun? Was heisst Schwarz sein in der Schweiz? Was verbindet People of Color ausser der gemeinsamen Erfahrung des Ausschlusses? Reicht das? Wofür? Und welchen Einfluss hat das koloniale Erbe der Schweiz? Fünf Stationen, fünf Reportagen. Zur Übersicht.
Folge 2
Neuenburg: Der sonderbare Fall der Tilo Frey
Folge 3
Trogen: Das Vermächtnis des Hans Fässler
Folge 4
Leukerbad: Mit Nativ auf James Baldwins Spuren
Sie lesen: Folge 5
Alpnach: Black Lives What? Der letzte Halt der Reise
Waren sie letzten Sommer etwa nicht an den grossen Kundgebungen, besuchten sie keine antirassistischen Veranstaltungen, waren sie nicht in Schwarzen Netzwerken organisiert? Oder lag die verhältnismässig schwache Sichtbarkeit weniger an den Eritreerinnen, sondern an denen, die die Scheinwerfer richteten und die Mikrofone hielten?
Oder anders gefragt: Interessierte sich Black Lives Matter nicht für die Eritreer? Oder die Eritreerinnen nicht für Black Lives Matter?
Wasser, mit Benzin gemischt
Shems Nour ist eine von 40’000 Eritreerinnen in der Schweiz. Die 40-Jährige gehört zur ersten Generation eritreischer Migranten. Als sie Anfang der Nullerjahre hier ankam, lebten weniger als 1000 Eritreer in der Schweiz. Im Kanton Obwalden, wo sie seit fünfzehn Jahren lebt, war sie die Allererste überhaupt.
Nour sitzt an einem lauen Frühsommertag auf einem alten Holzsteg und sieht auf den See, der an diesem Tag so glatt daliegt wie ein frisch gebügeltes Laken. Linkerhand steht die rote Pilatusbahn im Steilhang, rechterhand ankern ein paar Boote. Nour lässt die Füsse baumeln. Die Sonne scheint. Die Vögel singen. Ein kühler Wind bläst übers Wasser. Der Steg schaukelt gerade so wenig, dass man ahnt, keinen festen Boden unter den Füssen zu haben.
Shems Nour wuchs als jüngstes von fünf Kindern in Keren auf, der zweitgrössten Stadt in Eritrea. Ihre älteren Geschwister waren alle vom Militär eingezogen worden. Der Zwang zum Nationaldienst in der Diktatur Eritrea galt in der Schweiz bis vor wenigen Jahren als anerkannter Fluchtgrund. Denn im Nationaldienst, dessen Dauer meist unklar ist, sind Eritreerinnen und Eritreer häufig Zwangsarbeit, Folter und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt.
Wenigstens ein Kind sollte eine Ausbildung machen können. Deswegen sagten ihr die Eltern eines Tages: Shems, du musst gehen.
Shems Nour war damals 19 Jahre alt. Allein reiste sie in den Sudan im Glauben, dort ein Studium beginnen zu können. Aber sie hatte weder Papiere noch Bekannte. Ans Studieren war nicht zu denken.
Sie lernte ihren Mann kennen, einen Äthiopier, auch er ohne Aufenthaltspapiere. Sie heirateten. Nour gebar ihren ersten Sohn im Sudan in der Illegalität. «Da hörten wir von anderen, die nach Europa wollten. Sie sagten, dort gebe es Freiheit. Also gingen wir», sagt Nour. Das war 2004.
Nour, ihr Mann und das vier Monate alte Baby stiegen auf einen Toyota-Pick-up mit offener Ladefläche. Drei Wochen lang fuhren sie durch die Sahara. Oder besser: Sie irrten umher. Der Fahrer hatte kein GPS, und die Strecke kannte er nicht wirklich. Tagsüber wurde es bis zu 50 Grad heiss. Nour sagt, Anfang der Nullerjahre hätten sie mit zu den Ersten gehört, die diese Fluchtroute wählten.
Zu essen gab es kaum etwas. Das Wasser mischten die Schlepper mit Benzin, damit niemand zu viel auf einmal trinkt. 30 Personen fuhren los, 27 kamen lebend an.
In Kufra in Libyen kam die Polizei, trennte Männer und Frauen und sperrte sie in verschiedene Gefängnisse. Wo genau sie und ihr Kind hinkamen, weiss Nour nicht. Als sie die Frauen, die schon da waren, fragte, wie lange sie hier seien, wusste niemand eine Antwort.
Wie viel Zeit sie im Gefängnis verbracht hatte, las Nour jeweils am Entwicklungsstand ihres Kindes ab: Ihr Sohn begann sich zu drehen, bekam die ersten Zähne, kroch auf allen vieren, und dann, vermutlich nach etwa einem Jahr, machte er seine ersten Schritte. In einem Frauengefängnis irgendwo in Libyen.
Eines Tages kamen neue Frauen. Aber das Gefängnis war schon voll. Die Wärter entschieden sich um und liessen alle frei. Einfach so, sagt Nour. Von einem Tag auf den anderen.
Die Frauen gingen zu einer grossen Strasse. Hin und wieder kam ein Auto und nahm zwei, drei Frauen mit. So schlug sich Nour nach Benghazi durch, wo sie ihren Mann wieder traf. Er war nach zwei Monaten im Gefängnis freigekommen.
Sie gingen nach Tripolis, stiegen aufs Boot, fuhren über das Mittelmeer nach Sizilien. Eine Woche lang wurden sie versteckt. Dann trafen sie Schlepper, die versprachen, sie nach England zu bringen. Sie sassen in einen Bus, irgendwann sprangen die Türen auf und die Schlepper riefen: Raus! Raus! Raus! Nour und ihr Mann fragten den ersten Afrikaner, den sie sahen, wo sie seien. Er sagte Lausanne. Und Nour hatte keine Ahnung, wo das war, nur in England, das ahnte sie, lag es nicht.
Plötzlich kracht ein Schwan ins Wasser und zerstört die Idylle am Alpnachersee. Ein Lastwagen donnert über die Hauptstrasse, und auf dem Armeeflugplatz nebenan steigt ein Helikopter in den Himmel.
Ungefähr so muss sich für Shems Nour das Erwachen angefühlt haben, als sie vor fünfzehn Jahren im Asylzentrum in Chiasso stand, man ihr beschied, sie komme in die Zentralschweiz, und sie sich freute, weil Zentralschweiz – das klang wichtig und nach Grossstadt. Aber dann schickte man sie nach Schoried, einer kleinen Ansammlung hingeworfener Häuser am Hang zwischen Alpnachersee und Mittaggüpfi.
Tja. Und jetzt hockt Shems Nour in Alpnachstad im Kanton Obwalden auf diesem alten Holzsteg und sagt, das sei ihr Lieblingsplatz. Hier kommt sie immer her, wenn sie Sehnsucht hat nach den Eltern in der alten Heimat – oder wenn sie eine Antwort sucht auf die Fragen ihrer Kinder in der neuen: Mama, warum sagen die anderen, wir hätten schmutzige Haut?
Zweifach diskriminiert
Shems Nour könnte lange von solchen Erlebnissen erzählen. Rassismus ist nicht etwas, das ihr bloss hin und wieder begegnet. «Ich bin jeden Tag damit konfrontiert», sagt Nour. «Bei der Arbeit, bei Bewerbungen, bei den Kindern.»
Sie versuche, die Dinge nicht zu persönlich zu nehmen. Aber wenn sich der Rassismus gegen ihre Kinder richte, dann schreite sie ein. «Ich versuche auch dann, zurückhaltend zu sein, eine Lösung zu finden. Als in der Schule jemand mein Kind als Neger beschimpfte, rief ich die Mutter des anderen Kindes an und sagte ihr freundlich, was vorgefallen war. Die Mutter stritt natürlich alles ab. Aber am nächsten Tag kam ihr Kind in die Schule und bat mein Kind um Entschuldigung.»
Shems Nour ist Mitglied im Eritreischen Medienbund. Mitgegründet hat diesen Verein im Jahr 2015 Yonas Gebrehiwet, ein heute 24-jähriger Eritreer, der vor neun Jahren in die Schweiz kam. Der Eritreische Medienbund entstand als Reaktion auf mediale Hetzkampagnen gegen Eritreerinnen. Das Ziel: sich an den öffentlichen Debatten zu beteiligen, sodass Medien weniger über und mehr mit Eritreerinnen sprechen.
Gebrehiwet sagt, es habe ihn im letzten Jahr irritiert, wie wenig im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste die Geschichten und Erfahrungen der eritreischen Diaspora in der Schweiz thematisiert worden seien. «Es ist ja nicht so, dass wir nicht von Rassismus betroffen wären. Wir sind sogar noch stärker davon betroffen als viele, die hier aufgewachsen sind. Wir bringen eine ganz andere Perspektive rein: Wir werden nicht nur als Schwarze diskriminiert, sondern als Flüchtlinge noch dazu.»
Umso ärgerlicher fand er, dass das Schweizer Fernsehen in beide «Arena»-Sendungen zum Thema keine eritreische Stimme einlud. Gebrehiwet sagt, er habe den ganzen letzten Sommer über kaum Interesse der Medien an den Rassismuserfahrungen der Eritreerinnen gespürt. Die «Arena»-Sendungen empfand er – beide – als Frechheit.
«Wenn du eine Sendung machst mit dem Titel ‹Jetzt reden wir Schwarzen›, aber die grösste Schwarze Community ist nicht dabei, dann gibt es für mich nur zwei mögliche Schlussfolgerungen», sagt Gebrehiwet: «Entweder wir zählen nicht zu den Schwarzen. Oder wir sind die Schwarzen, die es nicht verdient haben, zu reden.»
Sollen sie einfach die Klappe halten?
Wer wird zu «den Schwarzen» gezählt? Und wer zählt sich selbst dazu? Die Frage ist nicht so banal, wie es scheint. Eine etablierte Antwort lautet verkürzt: Schwarz ist, wer afrodeszendent ist – also Wurzeln in Afrika hat, unabhängig davon, ob die Vorfahren gestern nach Europa aufbrachen oder ob sie vor 250 Jahren in die Amerikas verschleppt wurden.
Aber die Erfahrungen einer karibischstämmigen Diplomatentochter in Genf beispielsweise haben nicht sehr viel mit denen eines abgewiesenen Asylsuchenden aus Eritrea zu tun, der mit 7.50 Franken am Tag in einem unterirdischen Bunker in Zürich haust.
Die mediale Öffentlichkeit richtete ihren Blick im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste vorwiegend auf Schwarze Menschen, die in ihrem Selbstverständnis «von hier» sind.
«Die Leute waren gut ausgebildet, redeten gut Deutsch, hatten den Schweizer Pass», sagt Yonas Gebrehiwet. «Das sind Leute, die die Codes verstehen, die sich wehren können. Und die, verglichen mit Geflüchteten, wenig Probleme haben. Aber die Eritreer, die erst seit kurzem hier sind, waren gar nicht in die Diskussionen eingeladen. Das hat mich aufgeregt: Sollen sie etwa einfach die Klappe halten, weil sie angeblich eh nichts zur Gesellschaft beitragen?»
Aber lag das wirklich nur am fehlenden Interesse der Medien an den Eritreern? Oder interessierten sich die Eritreer vielleicht nicht so sehr für Black Lives Matter?
«Es ist keine Frage von Interesse», sagte Gebrehiwet. «Es geht um verschiedene Welten. Die Generation meiner Mutter, die mit Kindern, die hat ganz andere Probleme als ich. Die jüngere Generation war natürlich an den Demos. Ich war da. Ich fühle mich – anders als die Generation meiner Mutter – auch als Teil der Black Communities in der Schweiz.» Die ältere Generation hingegen identifiziere sich stark mit dem Land Eritrea oder mit den ostafrikanischen Volksgruppen der Habescha. Sie sähen sich weniger als Schwarze Community, fühlten sich auch nicht in erster Linie als Afrikaner.
«Bei mir und meiner Generation ist das anders», sagt Gebrehiwet. «Das Gefühl, Schwarz zu sein, hat sich in den letzten zehn Jahren in mir verzehnfacht. Das nationale Gefühl hingegen verringert. In der Schweiz bin ich nicht mehr Eritreer, sondern Schwarz.»
Shems Nour sagt, es sei offensichtlich gewesen: Innerhalb der eritreischen Community seien die Black-Lives-Matter-Proteste zwar wahrgenommen und diskutiert worden – aber eher als international relevantes Ereignis, nicht als etwas, das sie direkt betroffen hätte.
In ihren Augen hat das auch damit zu tun, dass die Diskussionen stark von der Situation in den USA geprägt gewesen seien: Polizeigewalt, die Geschichte der Sklaverei und ihre Folgen für die amerikanische Gesellschaft. Davon hätten sich viele Habeschas nicht angesprochen gefühlt, sagt auch Gebrehiwet: «Die Eritreer waren nicht in den transatlantischen Sklavenhandel verwickelt. Und Äthiopien wurde nie kolonisiert. Das Leid, das in Afrika durch den white man entstanden ist, ist in Ostafrika viel kleiner. Das ist für die Habeschas und ihren Blick auf die Geschichte prägend.»
Bei Shems Nour war das anders. Sie fühlte sich sofort angesprochen, als ihr Sohn ihr das Video zeigte, in dem George Floyd stirbt. «Ich dachte: Hier sieht man es jetzt endlich einmal. Denn sehr oft sieht man es ja gerade nicht, wenn Schwarze Menschen schlecht behandelt werden.»
Vom eritreischen Medienbund erfuhr Nour, dass in Luzern eine Demo stattfinden würde. Sie nahm die zwei älteren Söhne mit. Eine Bekannte bat sie, auch ihre Tochter mitzunehmen. Die Mutter aber wollte nicht mitgehen.
Nour sagt: «Die jungen Eritreer waren an den Demos. Die älteren weniger. Das hat auch mit dem Selbstverständnis der älteren Generation zu tun: Sie sehen sich eher als Habeschas, weniger als Afrikaner oder Schwarze.»
Hinzu komme, dass viele Eritreer noch nicht lange in der Schweiz seien. Sie schlügen sich deshalb mit ganz alltäglichen Problemen von Migranten rum: eine neue Sprache lernen, einen Job finden, die Bürokratie bewältigen, selbstständig werden.
«Und sie sind mental weiterhin mit den Konflikten in der alten Heimat beschäftigt», sagt Nour. «Viele fragten sich: Was hat das mit mir zu tun? Was hat das mit der Schweiz zu tun?»
Deutschkurs nur für Männer
Shems Nour hatte Familie und Heimat verlassen, um zu studieren. Und sie reiste nach Europa, weil sie hier so etwas wie Freiheit suchte. In der Schweiz aber sagte man ihr: Sie sei eine Frau und Mutter – sie solle sich erst mal ums Kind kümmern.
Ihr Mann bekam nach vier Monaten Arbeit und einen Sprachkurs. Nour aber verweigerten die Behörden einen solchen Kurs. «Ich war 22 Jahre alt. Ich wollte etwas lernen, studieren. Aber hier liess man mich nicht einmal Deutsch lernen.»
Statt eines Deutschkurses besuchte Nour anfangs halt den Spielplatz. «Aber wenn wir dorthin kamen, gingen die anderen Familien gleich weg. Ich wusste, dass es wegen uns war. Aber ich nahm es nicht so schwer. Ich war geduldig mit ihnen: Sie mussten sich halt an mich gewöhnen.»
Nour kam jeden Tag wieder. Wenn sie jemanden traf, grüsste sie freundlich – so wie es der Schweizer gern mag. Niemand grüsste zurück.
«So ging das ein Jahr lang. Ich sagte: Guten Morgen. Und sie sagten: nichts.» Irgendwann sei sie eines Morgens einer Frau begegnet, habe sie gegrüsst, so wie immer. Und dann, endlich, hörte sie zum ersten Mal: «Guten Morgen.»
«Ja!», sagt Nour und ballt die Faust, wenn sie von diesem Tag erzählt. «Ich hatte es geschafft.»
Die Obwaldner hatten anfangs Mühe, sich an die neue Dorfbewohnerin aus Ostafrika zu gewöhnen, sie zu grüssen wie andere, ihr die gleichen Rechte zuzugestehen wie sich selbst. Nour liess sich davon nicht beeindrucken. «Ich bin eine Kämpferin», sagt sie. «Ich habe geweint und gebetet, dass es irgendwie weitergeht. Ich wollte mich nicht von meinen Träumen abhalten lassen. Ich gebe nicht so schnell auf.»
Sie lernte also trotzdem Deutsch: zuerst beim Fernsehen, dann mit dem Mann, später mit den Kindern. Heute ist Shems Nour, die kaum volljährig ihre Familie und ihre Heimat verliess, 40 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und seit zwei Jahren Schweizer Staatsbürgerin. Sie hat für die Behörden des Kantons gedolmetscht, sie arbeitet im Teilzeitpensum in einem Pflegeheim, und sie ist im Integrationsprojekt des Kantons angestellt, wo sie sich dafür einsetzt, dass die Neuankömmlinge von heute nicht gegen die gleichen Widerstände kämpfen müssen wie sie damals.
Was es heisst, in der Schweiz Schwarz zu sein
Als Shems Nour letzten Sommer eine Black-Lives-Matter-Demo in Luzern besuchte, entschied sie sich spontan, eine Rede zu halten. Ihre Söhne waren unglaublich stolz. Und Nour legte an diesem Tag ein Gefühl ab, das sie in der Vergangenheit ganz häufig an das Ufer des Alpnachersees geführt hatte: Einsamkeit.
«Du steigst in den Zug ein, du gehst auf der Strasse, du kaufst ein – alle starren dich an. Das gibt einem ständig das Gefühl: Du gehörst nicht hierher. Aber an diesem Tag, wo ich an der Demo war, hatte ich ein anderes Gefühl: Endlich sind wir zusammen.»
Als mich Shems Nour zurück zum Bahnhof fährt, frage ich sie, wie sie heute die Stimmung gegenüber den Geflüchteten empfindet. «Wissen Sie», sagt sie, «wir sind hier nicht willkommen. Die Leute fragen immer: Wann geht ihr zurück in euer Land? Arbeitet ihr? Was macht ihr hier?»
«Wie schafft man es, akzeptiert zu werden? Über die Sprache? Über die Arbeit?»
«Beides. Aber du wirst trotzdem nicht akzeptiert. Egal, was du machst.»
Shems Nour lacht laut.
«Darum sage ich immer: Bemühe dich nicht darum, dass dich die Leute akzeptieren. Sei einfach so, wie du bist. Versuch nicht, dich anzupassen. Sonst bist du immer müde und kraftlos. Es hört nicht auf. Du kannst die Sprache lernen. Dann sagen sie: Okay, aber du bist noch nicht integriert, du musst arbeiten. Dann arbeitest du. Aber es ist immer noch nicht gut. Dann sagen sie etwas anderes und noch was. Und am Schluss landest du bei deiner Hautfarbe. Aber deine Hautfarbe kannst du nicht ändern. Du bist für immer ein Ausländer – egal, wer du bist, was du machst und was für Papiere du hast. Denn du hast eine andere Hautfarbe als sie.»
In Alpnach springe ich aus dem Wagen und steige in den Zug.
Was also heisst es, in der Schweiz Schwarz zu sein?
Ist es das Bewusstsein, dass die Polizei als Hüterin des Gewaltmonopols mit dem Recht ausgestattet ist, unsere Körper zu zerstören, wie der afroamerikanische Autor Ta-Nehisi Coates schrieb? Schliesslich waren doch auch in der Schweiz zahlreiche Menschen dem Rassismus zum Opfer gefallen.
Oder waren Coates’ Ausführungen nicht doch eher die Erkenntnisse eines Schwarzen aus einem Land, in dem Schwarze «länger versklavt lebten als in Freiheit»?
In den USA tötete die Polizei letztes Jahr 241 Schwarze. In Brasilien, dem Land mit der grössten Schwarzen Bevölkerung ausserhalb Afrikas, tötete die Polizei letztes Jahr gar alle zwei Stunden einen jungen Schwarzen.
Diese Dimensionen – das war nicht mit der Situation in der Schweiz zu vergleichen.
Ich musste an Nativ denken, der mich in Leukerbad gefragt hatte, ob immer erst das Äusserste und Schlimmste geschehen müsse, bis man Rassismus als Tatsache anerkenne.
Ich dachte an Jovita dos Santos Pinto, die in Neuenburg vor der Statue des einstigen Sklavenhändlers de Pury stand und diese klare Trennung – tödlichen Rassismus in Übersee und harmlose Verletzungen mit Wörtern hier – infrage stellte. «Wenn wir über das Schwarzsein in der Schweiz nachdenken wollen», sagte sie, «dann müssen wir auch über das institutionelle Sterbenlassen und Töten von Menschen reden.» Im Mittelmeer. An den Rändern Europas. «Dort sterben auch Menschen. Sie sterben aufgrund von Grenzen, die mit Schweizer Steuergeldern und von Schweizer Grenzwächtern bewacht werden. An diesen Grenzen geht es klar darum, Menschen sterben zu lassen. Und zwar verbunden mit einer Vorstellung davon, welche Leben lebenswert sind – und welche nicht.»
Ich erinnerte mich an den Tod von George Floyd – wie ich erst Filmausschnitte auf meinem Handy sah, später das ganze Video auf meinem Computerbildschirm, wie ich ein paar Tage später auf Social Media eine schwarze Kachel postete und die Aufrufe zu den grossen Kundgebungen sah, und wie ich an der Demonstration in der Stadt teilnahm, in der ich lebe.
Kaum hatte ich das Haus verlassen, traf ich auf Nachbarn, auf Kinder mit und ohne Erwachsene, auf befreundete Familien und auf solche, die ich nur vom Sehen und Zunicken kannte. Wir waren jung, wir waren alt, wir waren light-skinned und dark-skinned, wir waren Männer und Frauen oder nichts von beidem, straight und queer.
Wir bestiegen erst das Tram und dann die S-Bahn. Und je näher wir dem Besammlungspunkt kamen, desto deutlicher wurde, dass all diese Menschen, von denen ich bis dahin glaubte, dass wir nicht viel miteinander teilten, dasselbe Ziel hatten. Wir gingen ein paar Schritte über einen Kiesplatz. Dann standen wir auf einem weiten, sonnigen Platz. Alle trugen Schwarz. Und mir gefiel der Gedanke, dass uns vielleicht alle das gleiche Gefühl hierhergetrieben hatte: dass der Mann, der ein paar Tage zuvor in einem Land, das ich nicht kenne, und aus Gründen, die sich mir niemals erschliessen werden, einen quälend langsamen Tod sterben musste – dass dieser Mann einer von uns gewesen war.