Fünf Stationen, fünf Reportagen: Reise in Schwarz-Weiss
Was hat George Floyd mit der Schweiz zu tun? Was heisst Schwarz sein in der Schweiz? Was verbindet People of Color ausser der gemeinsamen Erfahrung des Ausschlusses? Reicht das? Wofür? Und welchen Einfluss hat das koloniale Erbe der Schweiz? Fünf Stationen, fünf Reportagen. Auftakt zur Serie.
Von Carlos Hanimann, 25.05.2021
«Mann stirbt nach medizinischem Zwischenfall während Polizeieinsatz» – so lautete die Überschrift einer Medienmitteilung der Polizei von Minneapolis am 25. Mai 2020.
Der weisse Polizist Derek Chauvin hatte den Afroamerikaner George Floyd getötet, indem er über neun Minuten lang auf Floyd kniete, bis dieser das Bewusstsein verlor und schliesslich starb. Eine 17-jährige Frau hielt das Verbrechen auf Video fest. Polizist Chauvin wurde vor einem Monat wegen Mordes verurteilt. Ihm droht eine lange Haftstrafe. In einem zivilrechtlichen Verfahren einigten sich die Stadt Minneapolis und die Familie auf einen Vergleich in Höhe von 27 Millionen US-Dollar.
Der Tod von George Floyd löste weltweite Proteste aus. Auch in der Schweiz gingen mitten in der ersten Welle der Pandemie Zehntausende Menschen auf die Strasse, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu demonstrieren.
Und dann?
Ist es bei ein paar Kundgebungen geblieben und der schwarzen Kachel, die viele damals auf ihr Instagram-Profil stellten?
Für viele Schwarze und People of Color (kurz BPOC) in der Schweiz konnte die Sache aus einem ganz praktischen Grund nicht erledigt sein: Rassismus ist längst nicht aus der Gesellschaft verschwunden. Der Beratungsstelle für Rassismusopfer etwa wurden im letzten Jahr fast 600 Fälle gemeldet.
Dafür ist seit letztem Sommer in der Schweiz ein neues antirassistisches Selbstbewusstsein erwacht: Viele Schwarze und People of Color haben sich in zahllosen neuen Gruppierungen zusammengeschlossen oder sind bereits bestehenden Netzwerken beigetreten. So treffen sich POC etwa, um gemeinsam Schwarze Autorinnen zu lesen, nehmen Podcasts auf, bewerben black-owned businesses (also Unternehmen, die Schwarze Eigentümerinnen haben) und vermitteln einander in Gruppenchats Wohnungen, Jobs, Ärzte oder Therapeutinnen. For us, by us – was sonst als anders gelesen wird, soll als selbstverständlich gelten.
Aber verdecken Unity und Solidarität nicht grundlegende Unterschiede unter dem vermeintlich Gemeinsamen? Ab wann wird eine Solidargemeinschaft identitär und reaktionär? Und was ist das überhaupt: Schwarz sein in der Schweiz?
Geht es dabei um Haut und Haar: Afrodeszendenz und äusserliche Merkmale – oder geht es um Erlebnisse und Erfahrungen? Welche Bedeutung haben Migrationsgeschichte, Geschlecht, Bildung, Aufenthaltsstatus?
Für wen führt der weisse Blick zu einer verletzenden Bemerkung? Und für wen kann er tödlich enden?
Gibt es in einem Land, das keine Kolonien besass, aber auf vielfältige Weise vom transatlantischen Sklavenhandel profitierte, eine gemeinsame Schwarze Geschichte? Oder nur einzelne Geschichten von Schwarzen?
An welche erinnern wir uns? Und wer geht in Vergessenheit?
Wie steht die Schweiz zu ihrer Beteiligung an der Versklavung und Verschleppung afrikanischer Menschen in die beiden Amerika? Und wäre es angesichts des entstandenen Reichtums hier und der katastrophalen Folgen für Gesundheit, Bildung und Wirtschaft dort nicht an der Zeit, dass die offizielle Schweiz um Verzeihung bittet – und Wiedergutmachung leistet?
Was verbindet die je nach Schätzung zwischen 120’000 und 200’000 Schwarzen in der Schweiz – ausser der gemeinsamen Erfahrung, Rassismus erlebt zu haben?
Was hat der mit Schweizer Pass geborene Akademikersohn eines Westafrikaners mit einer minderjährigen geflüchteten Habescha aus Ostafrika zu tun? Ist es mehr als die geteilte Erfahrung des Ausschlusses?
Ein Ort, eine Protagonistin, ein Thema, eine Folge – mit diesem Konzept ist Carlos Hanimann angelehnt an Hans Fässlers Klassiker «Reise in Schwarz-Weiss» im vergangenen Jahr in fünf Episoden durch die Schweiz gereist. Seine Reportagereise hat ihn nach Lausanne über Neuenburg bis nach Leukerbad geführt. Mit Jovita dos Santos Pinto begab er sich auf die Spuren der ersten Schwarzen Nationalrätin der Schweiz, sprach mit Rapper Nativ über James Baldwin, und liess sich von Hans Fässler die kolonialen Verstrickungen der Schweiz aufzeigen.