Was für eine Pein: Europa Ja? Europa Nein?
Ohne die SP ist eine solide Europapolitik in der Schweiz unmöglich. Fragt sich nur, wie das mit einer tief gespaltenen Partei gelingen kann.
Von Elia Blülle und Dennis Bühler (Text), Benjamin Hermann und Anja Wicki (Illustration), 11.06.2021
Das Rahmenabkommen ist nach sieben Jahren im Eimer statt unterzeichnet im Aktenschrank, die EU zutiefst beleidigt, der Bundesrat ohne einen echten Plan B – nie zuvor war die Schweizer Europapolitik so blockiert wie heute.
Wie findet die Schweiz bloss wieder raus aus dieser Sackgasse?
Wer diese Frage 20 verschiedenen Politikern und 20 Expertinnen stellt, erhält in Bern derzeit 40 unterschiedliche Meinungen zu hören.
Grob allerdings lassen sich diese auf zwei einfache Antworten kondensieren:
Wie raus aus der Sackgasse?
Gar nicht. Die Beziehung zur EU erodiert – Brüssel unterzeichnet so lange keine neuen Marktzugangsabkommen, bis der Bundesrat unter Schmerzen an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Höchstwahrscheinlich mit schlechterem Ausgang für die Schweiz.
Alle Parteien mit Ausnahme der SVP raufen sich wie 1999 und 2004 bei den Bilateralen Verträgen zusammen und einigen sich inhaltlich auf eine Position, mit der die Landesregierung wieder geordnete Verhandlungen mit der Europäischen Union aufnehmen kann – sobald diese nach den Schweizer Kapriolen wieder bereit ist dazu.
Das Problem der zweiten Variante: Das Fundament für die dafür notwendige sozialliberale Koalition ist in der Schweiz so brüchig geworden, dass darauf kein halbwegs gescheiter Kompromiss zu stehen kommt.
«Wir sind tief gespalten»
Die grossen Schweizer Parteien finden nicht nur untereinander kaum einen gemeinsamen Nenner. Mit Ausnahme der SVP haben sie sich in der Europapolitik auch intern verkracht.
Gemeinsam mit den freisinnigen Bundesräten hat der rechtslibertäre FDP-Flügel die langjährige Europaposition der Partei unterwandert. In der aus CVP und BDP hervorgegangenen Mitte ist man sich in der Europafrage so uneinig wie in vielen anderen Bereichen auch. Und in der SP, sagt Nationalrat Eric Nussbaumer, trennt ein Riss die Partei: «Wir sind tief gespalten.»
Für die Schweiz dramatisch ist vor allem die Uneinigkeit der Sozialdemokratinnen. Denn ohne sie ist eine solide Europapolitik unmöglich. Gemeinsam mit der – in dieser Frage höchst verlässlichen – Anti-EU-SVP kann die Partei jede Vorlage zum Absturz bringen.
Das gibt ihr ungemein viel Macht, aber auch Verantwortung.
Die Fragen, über die die SP streitet, sind grundsätzlicher Natur: Soll die Schweiz bei den flankierenden Massnahmen Zugeständnisse machen, wenn ihr die EU im Gegenzug in anderen Bereichen entgegenkommt? Brächte ein EU-Beitritt den Schweizer Arbeiternehmerinnen letztlich sogar Fortschritt? Und: Ist die EU überhaupt noch ein Projekt der Hoffnung – oder längst nur noch ein neoliberales Vehikel, das Migranten im Mittelmeer ertrinken lässt?
«Es ist wie ein Familienstreit, den man jahrelang unter dem Teppich hielt», sagt die Zürcher Sozialdemokratin Min Li Marti. «Jetzt bricht er aus.»
Umstrittene EU-Offensive
Vor gut zwei Wochen zerstörte der Bundesrat die letzten Illusionen jener, die trotz aller augenfälligen Differenzen bis zuletzt an den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens geglaubt hatten. Am 26. Mai erklärte er den einseitigen Abbruch der Verhandlungen, weil er sich mit der EU nicht über neue Regeln für entsendete Arbeitnehmer, über Staatsbeihilfen und die Unionsbürgerrichtlinie hatte einigen können.
In Brüssel reagierten die Verantwortlichen gereizt. Noch am Abend des Bundesratsentscheids erklärte die EU-Kommission, bei Schweizer Medizinprodukten seien Zertifizierungen durch Schweizer Stellen im EU-Markt nun nicht mehr gültig – ein Vorgeschmack auf weitere Regeln, die sich bald zuungunsten der Schweiz ändern dürften und Schweizer Firmen und Forscherinnen das Wirken im EU-Raum erschweren werden.
Fünf Tage danach beginnt in Bern die Sommersession des Parlaments. Bei Politikern, die nicht der SVP angehören, ist die Stimmung gedrückt – und angriffslustig. Der Bundesrat habe versagt, heisst es, und gegen politische Gepflogenheiten verstossen, da er das Parlament vor seinem Entscheid nicht konsultiert hatte. In diesen Punkten besteht überparteilicher Konsens.
Davon abgesehen aber schieben sich die Parteien gegenseitig die Schuld zu.
Während sich die Wut der Linken vor allem gegen den freisinnigen Aussenminister Ignazio Cassis richtet, der bei den flankierenden Massnahmen im Sommer 2018 von der zuvor definierten roten Linie abgewichen ist, sagt FDP-Präsidentin Petra Gössi im «Tages-Anzeiger»: «Ausgerechnet die SP, die mitverantwortlich für das Scheitern ist, fordert jetzt den EU-Beitritt. Das ist schon fast absurd.»
Tatsächlich war SP-Co-Präsident Cédric Wermuth schon wenige Stunden nach dem Bundesratsentscheid in einer «Arena»-Spezialausgabe des Schweizer Fernsehens in die Offensive gegangen. «Der EU-Beitritt muss jetzt eine der Perspektiven sein», forderte er. «In der Schweiz gibt es Tabus, für die es keine Gründe gibt. Dazu gehört die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.»
Neu ist das Postulat nicht. In ihrem Parteiprogramm fordert die SP schon seit 2010 einen möglichst raschen EU-Beitritt – obwohl die Bevölkerung einen solchen Schritt gemäss Umfragen nicht gutheissen würde. Nur je 9 beziehungsweise 7 Prozent unterstützen einen EWR- oder EU-Beitritt.
Die tiefe Zustimmungsrate dürfte auch daran liegen, dass die EU-Integration heute selbst für viele Linke keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Co-Präsident Wermuth erzählt im Gespräch mit der Republik, er habe nach seinem «Arena»-Auftritt so viele negative Zuschriften aus seiner Partei erhalten wie nie zuvor im Rahmen dieser Diskussion. «Für die SP war die Perspektive Europa stets sinnstiftend», sagt er. «Allerdings hat das Projekt für viele Schweizer Sozialdemokraten über die Jahre an Sexiness verloren.»
Eine gnadenlose Austeritätspolitik, ertrunkene Flüchtlingskinder vor den Mittelmeerküsten, eine inkohärente Aussenpolitik – in den letzten 15 Jahren hat die Europäische Union viele Genossinnen erschreckt. «Früher haben wir an den Juso-Mitgliederversammlungen die EU-Flagge gehisst», sagt Wermuth. «Heute geschieht das nicht mehr. Gerade von den Migrationsaktivisten würde sie wohl heruntergerissen.»
Tief ist die Zustimmung aber auch unter SP-Parlamentarierinnen: Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen 2019 sagten nur noch 12 der 48 Gewählten eindeutig Ja zu Verhandlungen über einen EU-Beitritt. Das geht aus Daten der Wahlplattform Smartvote hervor. Mehr noch: 19 Sozialdemokraten lehnten – entgegen dem Parteiprogramm – neue Beitrittsverhandlungen gänzlich oder eher ab.
«Es muss von Zeit zu Zeit krachen»
Der frühere SP-Präsident Christian Levrat hat wohl auch wegen dieser innerparteilichen Zerrissenheit jede Europadiskussion abgeklemmt. Gemäss dem Baselbieter Nationalrat Eric Nussbaumer habe Levrat in den Jahren 2011, 2015 und 2019 sogar explizit die Weisung erlassen, Europa im Wahlkampf höchstens am Rande zu thematisieren – auch aus Angst, es entstünde sogleich eine Migrations- und Freizügigkeitsdebatte, von der vor allem die SVP profitieren könnte.
Die Beitrittsdiskussion, die Wermuth vom Zaun gebrochen hat, kommt also nicht ohne Risiko. Der 35-Jährige nimmt das in Kauf.
«Mattea Meyer und ich scheuen keine innerparteiliche Diskussion, auch nicht eine Europadebatte», sagt er. «Das ist auch Aufgabe der Parteien, nicht einfach nur der Blick auf Wähleranalysen. Wir sind überzeugt, dass die SP wieder viel stärker um ihre Positionen ringen sollte. Dabei darf – ja es muss – von Zeit zu Zeit krachen.»
Zu diesem Zweck hat das Präsidium vergangene Woche einen europapolitischen Ausschuss eingesetzt, der den gegenwärtigen Zustand der EU aus sozialdemokratischer Perspektive analysieren und einen Vorschlag erarbeiten soll, wie sich die SP in der Europafrage mittelfristig am besten positioniert.
Welche Position dem Co-Präsidium am liebsten wäre, zeigt die Auswahl des Ausschussvorsitzenden: Mit Jon Pult wählten Wermuth und Meyer einen langjährigen ideologischen Verbündeten – einen engen Freund aus gemeinsamen Jugendjahren, mit dem sie die Juso zur mächtigsten Schweizer Jungpartei machten. Ohne Umschweife sagt der Bündner Nationalrat Pult: «Ich bin ein glühender Internationalist und folglich auch für den EU-Beitritt.»
Spätestens im Frühjahr 2022 soll die SP-Basis an einem Parteitag ein verbindliches europapolitisches Positionspapier verabschieden. «Ich will keinen weichgespülten Text, mit dem sich alle wohl fühlen», stellt Pult klar. «Die Mehrheit soll über die Ausrichtung entscheiden und in den wichtigsten Fragen Klarheit schaffen.»
Die Frage, ob die SP-Basis am Ziel EU-Beitritt festhalten wird, ist dabei eher von symbolischer als von praktischer Bedeutung; in der gesamten Stimmbevölkerung nämlich dürfte eine entsprechende Abstimmung heute, morgen und wohl auch übermorgen chancenlos bleiben – 30 Jahre blochersche Anti-Europa-Rhetorik haben den Diskurs derart stark geprägt, dass ein EU-Beitritt mit freisinniger Unterstützung längst zur linken Utopie verkommen ist.
Realpolitisch viel interessanter und hoch explosiv ist daher eine andere Frage: Zu welchem Preis ist die SP bereit, die flankierenden Massnahmen zugunsten einer stärkeren EU-Integration preiszugeben?
Kampf gegen Lohndumping
Mit den flankierenden Massnahmen schützt sich die Schweiz vor ausländischen Unternehmen, die hierzulande Arbeiten zu Dumpinglöhnen erledigen. Auf diese Art und Weise konnte sie das vergleichsweise hohe Lohnniveau für die Arbeiterschaft halten und negative Konsequenzen der Personenfreizügigkeit abschwächen.
Die vor 17 Jahren in Kraft gesetzten Regulierungen sind eine einzigartige Erfolgsgeschichte.
Während die europäischen Kleinverdiener in den vergangenen Jahren abgehängt wurden, sind die tiefen Löhne in der Schweiz sogar stärker gewachsen als die höheren. Überall ging die Lohnschere auf, in der Schweiz schloss sie sich; weder wurden Handwerksberufe abgewertet noch bildeten sich extremistische Protestbewegungen wie etwa in Frankreich.
An und für sich hat die EU nichts gegen die flankierenden Massnahmen – sie wollte sie aber mit dem Rahmenabkommen abschwächen und der eigenen Rechtsprechung unterstellen. Künftig hätte der Europäische Gerichtshof im Einzelfall bestimmen sollen, ob der Schweizer Lohnschutz verhältnismässig ist. Für die Gewerkschaften war das ein Tabu.
Entsprechend jubilierte der Schweizerische Gewerkschaftsbund, kaum hatte der Bundesrat die Verhandlungen vor gut zwei Wochen für gescheitert erklärt: «Gefahren für den Lohnschutz abgewehrt.»
Der Gewerkschaftsbund hatte befürchtet, das Rahmenabkommen könnte die Löhne mittelfristig nach unten drücken und die europäische Rechtsprechung die flankierenden Massnahmen über die Zeit aushöhlen – trotz der in Europa seit 2018 verankerten Entsenderichtlinien, mit denen die Europäische Union das durch die Personenfreizügigkeit entstandene Lohndumping verhindern will.
Auf diese Richtlinien verweist auch Fabian Molina, der wohl grösste Rahmenabkommen-Befürworter innerhalb der SP. Als Jugendlicher trat er der Partei wegen ihrer proeuropäischen Haltung bei, nun ärgert er sich, dass sie die Europapolitik viel zu lange viel zu wenig diskutiert und mit den Gewerkschaften keine EU-kompatible Lösung für den Lohnschutz gefunden habe.
Zwar sei es verständlich, dass der Gewerkschaftsbund seine Erfolge verteidigen wolle, sagt Molina. «Dabei aber hat sich innerhalb der Gewerkschaften die Debatte über Neues totgelaufen.» So sei etwa die migrationspolitische Diskussion völlig vernachlässigt worden. «Das Proletariat – heute weiblich und migrantisch – hätte von einer Integration in den sozialverträglicheren EU-Rechtsrahmen via Unionsbürgerrichtlinie massiv profitiert.»
Tatsächlich ist umstritten, ob der gescheiterte Rahmenvertrag den Schweizer Arbeitnehmern geschadet hätte.
Die Zürcher Politikwissenschaftlerin Stefanie Walter sagt, man könne in der Europäischen Union seit einiger Zeit eine Bewegung hin zu mehr Arbeitnehmerschutz beobachten – und auch die bekannte Europarechtlerin Christa Tobler bestätigte jüngst im Republik-Podcast gegenüber Roger de Weck, die europäische Rechtsprechung sei deutlich besser als ihr Ruf.
Zum selben Schluss kam im Sommer 2020 auch ein bisher unveröffentlichtes Papier des Staatssekretariats für Wirtschaft, das der Republik vorliegt. Das Bild eines wenig arbeitnehmerfreundlichen Europäischen Gerichtshofs, heisst es darin, halte der Realität nicht stand – vor allem in jüngerer Zeit.
Das gewerkschaftliche Axiom
Wieso wehrt sich die SP-Parteileitung trotzdem so vehement gegen jegliche Anpassung der flankierenden Massnahmen?
Erstens sind SP und Gewerkschaften weltanschaulich und personell eng verflochten; angesichts stetig sinkender Wählerzustimmung kann es sich die Partei kaum erlauben, ihr traditionell wichtigstes Wählersubstrat zu vergrämen.
Zweitens beharren die Gewerkschaften auf dem heutigen Lohnschutz, weil dabei ihre Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht – die einst definierte rote Linie ist für sie unverrückbar; jeden Versuch, daran zu rütteln, werten sie als Angriff auf die gesamte Schweizer Arbeiterschaft.
Der wichtigste Vertreter dieser Position ist der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner, der seit dreieinhalb Jahrzehnten in Bundesbern politisiert und bis 2018 während 20 Jahren Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds war. Wer wie Molina behaupte, das Rahmenabkommen hätte den Lohnschutz nicht ausgehöhlt, sitze einem von der PR-Agentur Furrerhugi lancierten Spin auf, sagt er. «Dann kann man gleich die Nacht zum Tag oder Regenfall zu Sonnenschein erklären.»
In den letzten Jahrzehnten sei die Europapolitik immer dann erfolgreich gewesen, wenn sie die sozialen Interessen gewahrt habe, sagt Rechsteiner. «Garanten der sozialen Interessen sind die Gewerkschaften. Dies bleibt das Erfolgsrezept.»
Die SP-Parteileitung ist diesem gewerkschaftlichen Axiom bisher diskussionslos gefolgt. In absehbarer Zeit dürfte sich daran nichts ändern, stellt doch auch der europhile Co-Präsident Wermuth die flankierenden Massnahmen keine Sekunde in Frage.
Andere Sozialdemokraten wären zu Konzessionen bereit. So weist Juso-Veteran Molina darauf hin, dass gemäss ihren Statuten auch die Gewerkschaften in die EU wollten. Deshalb müsse man jetzt an einer Verbesserung und Annäherung des Lohnschutzes ans EU-Recht arbeiten. Denn: «Man kann sich nicht integrieren, ohne sich zu integrieren.»
Auch der Europäischen Union dürfte der protektionistische Schweizer Lohnschutz ein Dorn im Auge bleiben. In ihrer heutigen Form hindere er europäische Firmen, ihre Dienstleistungen in der Schweiz anzubieten, sagte der EU-Botschafter für die Schweiz, Petros Mavromichalis, kürzlich in einem Interview. «Aus unserer Sicht sind einige der flankierenden Massnahmen unvereinbar mit dem EU-Recht und den bilateralen Verträgen.»
Fabian Molina sagt, seine Partei müsse in der Europapolitik wieder selbstbewusst eine eigenständige Haltung entwickeln und in die Offensive gehen. Dafür sei die geplante parteiinterne Debatte wichtig. Am Dienstag hat ihm der Fraktionsvorstand zudem grünes Licht für eine Motion gegeben, mit welcher der Bundesrat gezwungen werden soll, rasch Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen.
Im Kern gehe es nun um eine strategische Grundsatzfrage, sagt Nationalrätin Min Li Marti. «Unser Elektorat hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Wir haben eine starke, urbane Wählerschaft, die sich für eine gute Beziehung zur EU ausspricht.»
Der Wahlkampf möge beginnen
Die von Min Li Marti aufgeworfene Grundsatzfrage zeigt, worum es in der Schweizer Europapolitik neben Haltung halt auch noch geht: um Kalkül und Macht im Bundeshaus.
Seit den letzten eidgenössischen Wahlen stehen die SP und die FDP akut unter Druck – Ersterer sitzen die Grünen im Nacken, Letzterer die Grünliberalen. Sollten die beiden Klimaparteien im Oktober 2023 noch einmal zulegen können, müssen die Sozialdemokratinnen und die Freisinnigen über kurz oder lang um einen ihrer zwei Bundesratssitze bangen.
Ginge ein SP-Sitz an die Grünen, veränderte dies die europapolitische Ausrichtung der Landesregierung kaum (nachdem sie den EWR bei der Abstimmung 1992 noch zur Ablehnung empfohlen hatten, entwickelten sich die Grünen bald zu überzeugten Befürwortern einer verstärkten Integration); wenn aber Ignazio Cassis oder Justizministerin Karin Keller-Sutter ihren Sitz einer Grünliberalen oder einem Grünliberalen abtreten müssten, würde dies die Schweizer Europapolitik in ihren Grundfesten erschüttern.
Denn: Abgesehen von der SVP hat keine andere Schweizer Partei eine ähnlich dezidierte Meinung zu Europa.
Im August 2018 lancierte die GLP ihren Aufruf «Mehr Europa wagen!», verlangte einen «Chancendiskurs Europa» und kündigte via Fraktionschefin Tiana Angelina Moser an: «Wir treten den Abschottern von links und rechts entschieden und optimistisch entgegen.»
Die verhältnismässig junge Partei nutzte die Gunst der Stunde: Zwei Monate nachdem Cassis die flankierenden Massnahmen in Frage gestellt und sich in der Folge im Schlepptau der Gewerkschaften auch die SP vom Rahmenabkommen entfremdet hatte, positionierte sich die GLP als Alternative für alle Wählerinnen, denen an einer engen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union gelegen ist.
Jetzt zahlt sich die klare Haltung aus. «Weil wir in der Europapolitik seit langem eine verlässliche Kraft sind, müssen wir nach dem Scheitern des Rahmenabkommens keinen Lärm machen», sagt Moser. Ihre Partei unterscheide sich damit von der SP, die mit ihrer Forderung nach einem EU-Beitritt genauso Wahlkampf betreibe wie die nun für Deregulierung werbende FDP.
Zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren wie der Operation Libero wolle die GLP eine Vermittlerrolle einnehmen und mithelfen, eine tragfähige sozialliberale Europa-Allianz zu schmieden, sagt Moser. In der von ihr präsidierten Aussenpolitischen Kommission seien sich die Vertreterinnen ohne SVP-Parteibuch bezüglich Europa zuletzt mit wenigen Ausnahmen einig gewesen. «Doch sobald machtpolitische Fragen in die Quere kommen, wird es schwierig.»
Nach Macht gelüstet es freilich auch Mosers Partei. «Wenn der Negativtrend bei der FDP anhält, dann sind zwei Sitze für sie nicht mehr gerechtfertigt», sagte Grünliberalen-Präsident Jürg Grossen vergangene Woche in einem Interview. Und stellte klar: «Ziel der GLP ist es, für dieses Land Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen in den Bundesrat.»
Zittern um Regierungssitze, Buhlen um Wählerprozente, Ringen um die eigene Glaubwürdigkeit – im Europadossier steht derzeit für alle Schweizer Parteien viel auf dem Spiel. Zu viel?
Vermutlich schon, glauben in Bern aktuell die meisten Politikerinnen und Beobachter. Bis zu den Parlamentswahlen in gut zwei Jahren seien jene Parteien, die an geordneten Beziehungen zur EU interessiert sind, kaum zu einem ernst gemeinten Schulterschluss bereit. Bis dahin bleibe eine wiederbelebte sozialliberale Europa-Allianz eine Illusion.
Ein Weg aus der Sackgasse? Momentan nicht in Sicht.