Chaos um vier Buchstaben: Worum es beim Streit um die FlaM geht
Das Europadossier ist blockiert. Wie es so weit kommen konnte – und was sich hinter dem rhetorischen Nebel verbirgt.
Von Carlos Hanimann und Daria Wild, 15.08.2018
Was ist hier eigentlich los?
Der Wirtschaftsminister war enttäuscht, beleidigt fast, als er letzten Mittwochabend spontan vor die Medien trat. Quasi: Hochverrat! Aber das sagte Johann Schneider-Ammann dann natürlich nicht, sondern nur: Vertrauensbruch. Ohne Ausrufezeichen. Eher mit Gedankenstrich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die Augenbrauen zuckten kurz hoch, Stirnrunzeln: «Ich bedaure das, was da passiert.»
Was da passiert: Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat die Gespräche mit dem Bundesrat über ein Rahmenabkommen mit der EU platzen lassen. Mit einer kalten Dusche hat SGB-Präsident Paul Rechsteiner die Bundespolitik aus der Sommerhitze gerissen.
Schneider-Ammann schien konsterniert. Der in die Jahre gekommene Bundesrat sah aus, als wäre ihm plötzlich und unerwartet die Liebe entzogen worden. Dabei hatte sich der Konflikt mit den Gewerkschaften seit Wochen angebahnt. Die Eskalation – sie kam mit Ansage.
Jetzt liegt das vielleicht wichtigste politische Dossier in Trümmern. Die Gespräche: abgebrochen. Das Verhältnis unter den Sozialpartnern: zerrüttet. Das Rahmenabkommen: in weiter Ferne.
Dafür gibt es Verwirrung am Laufmeter: Was ist Verhandlungsstrategie, was unverhandelbare «rote Linie»? Wie viel Kompromiss ist möglich? Und ist er überhaupt nötig? Es ist die Stunde der Schwätzer und Spieler: viel Spekulation, wenig Gewissheit; viel Rhetorik, wenig Inhalt.
Die Gewerkschaften werden der Blockade angeklagt, die freisinnigen Bundesräte der geheimen Abbau-Agenda. Was in all dem Lärm und Nebel zu verschwinden droht: worum es wirklich geht. Der Kern der Auseinandersetzung sind vier Buchstaben, die die Schweiz wie wenig andere verändert haben. Sie lauten: FlaM – flankierende Massnahmen zur Personenfreizügigkeit.
Der historische Kompromiss: Die Entstehung der FlaM
Es ging um die bilateralen Verträge I, Abstimmungsdatum 21. Mai 2000, als die Gewerkschaften zu ihrem grossen Coup ansetzten: Zwar standen sie hinter der aussenpolitischen Öffnung, forderten aber flankierende Massnahmen zum Schutz der Schweizer Löhne und Arbeitsplätze. Es war ein «Ja, aber» zum freien Personenverkehr.
Das Hauptargument: Arbeiter aus der EU sollen zu den gleichen Bedingungen angestellt sein wie Arbeiter aus der Schweiz. Anders gesagt: Wenn Arbeiterinnen aus der EU nach Einführung der Personenfreizügigkeit in die Schweiz kommen, braucht es Massnahmen gegen Lohndumping.
Es war ein historischer Kompromiss: Der Protektionismus schützte die Schweizer Löhne vor Dumping, die Bürokratie die Schweizer KMU vor Konkurrenz aus der EU.
In die Hände spielte den Gewerkschaften ausgerechnet einer ihrer Erzfeinde: Christoph Blocher und seine Beerdigung des EWR-Beitritts. Das Nein im Jahr 1992 hatte gezeigt: Eine aussenpolitische Öffnung ist nur akzeptiert, wenn sie sozialpolitisch abgefedert ist. Es brauchte Zugeständnisse an die Gewerkschaften – die Bürgerlichen mussten Eingriffen in den Arbeitsmarkt zustimmen.
Der Plan ging auf: Nachdem die flankierenden Massnahmen beschlossen worden waren, winkte das Stimmvolk die Bilateralen I mit 67,2 Prozent durch. 2004 traten die FlaM in Kraft.
Das Herzstück: Was die FlaM konkret bedeuten
Seit ihrer Entstehung wurden die FlaM mehrmals verschärft und erweitert (zuletzt im August 2017). Inzwischen sind sie ein riesiger, ziemlich komplizierter Apparat. Da ist zum Beispiel die viel diskutierte 8-Tage-Regel, die EU-Firmen vorschreibt, sich vor einem Auftrag beim Bund zu melden. Da sind die Kautionspflicht und die Möglichkeit von Sanktionen: In dumpinggefährdeten Branchen müssen ausländische Firmen Kautionen hinterlegen, damit sie gebüsst werden können, wenn sie sich bei Fehlverhalten aus dem Staub machen. Da ist die erleichterte Allgemeinverbindlichkeit der Gesamtarbeitsverträge und der Erlass von Normalarbeitsverträgen: In Branchen mit GAV können diese leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden. Und in Branchen ohne GAV können NAV mit zwingenden Mindestlöhnen erlassen werden.
Das eigentliche Herzstück der FlaM aber sind intensive Kontrollen: Vorgaben legen fest, wie viele in die Schweiz entsandte Arbeitnehmer und wie viele Arbeitgeberinnen auf die Einhaltung der FlaM überprüft werden müssen. Aufsicht hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), erledigt wird die Arbeit von Kommissionen bestehend aus Sozialpartnern (und den Kantonen). Das Seco veröffentlicht jährlich einen Bericht zur Umsetzung dieser Kontrollen.
Was die FlaM wirklich bedeuten: Mit ihrer Einführung erhielt das gewerkschaftliche Anliegen für mehr Gesamtarbeitsverträge neues Gewicht. Die Zahl der GAV ist seitdem gestiegen (mehr als eine Verdoppelung seit 1999) und auch die Zahl der Menschen, die indirekt von den FlaM profitieren – in erster Linie sind das Arbeiter in den klassischen «Büezer»-Branchen, die von Lohndumping betroffen sind, oder auch Coiffeure, Callcenter-Angestellte und Pflegekräfte. Dieser Ausbau des Lohnschutzes hat dazu geführt, dass in der Schweiz – europaweit eine Ausnahme – die Löhne im Niedriglohnsektor gestiegen sind und sich die Lohnungleichheit nicht vergrössert hat. Das ist entscheidend für den sozialen Frieden. Besonders in einer Zeit, in der in den europäischen Ländern die Ungleichheit steigt und Rechtspopulisten mit den Abstiegsängsten der Menschen Politik machen.
Der Angriff: Die Feinde der FlaM
Die FlaM hatten von Beginn weg einen schweren Stand. Natürlich vor der EU: Sie hält einen Teil der Massnahmen für Verletzungen des bilateralen Vertrags. Deshalb will sie auch das Rahmenabkommen. Das entscheidende Detail ist nicht die umstrittene 8-Tage-Regel, sondern, wie die rechtlichen Fragen gelöst werden: Wird der Europäische Gerichtshof die Lohnschutzmassnahmen in der Schweiz neu beurteilen? Die Gewerkschaften befürchten, dass die EU kompromissloser geworden ist. Seit dem Brexit dürfte die Kommission für Föifer-und-Weggli-Attitüden wenig übrig haben.
Auch innenpolitisch werden die FlaM seit ihrer Einführung von bürgerlicher Seite angegriffen. Bereits 2004 sagte der damalige Bundesrat Christoph Blocher, die FlaM würden zwar helfen, den «Zustrom» von ausländischen Arbeitskräften zu beschränken, aber den Arbeitsmarkt zum Nachteil der Wirtschaft regulieren. 2005 und 2009, bei den Abstimmungen über die Ausdehnung des Freizügigkeitsabkommens und die Verschärfung der FlaM, positionierte sich die SVP als Gegnerin. Beide Male verlor sie deutlich.
2014 kam die Wende: Die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative zielte direkt auf die Abschaffung der Personenfreizügigkeit und der FlaM – und wurde von einer knappen Mehrheit angenommen. Viele Ja-Stimmen kamen auch aus unteren Einkommens- und Bildungsschichten, obwohl diese von den FlaM profitieren.
Wäre die SVP-Initiative im Wortlaut umgesetzt worden, wäre die Personenfreizügigkeit tot – und die FlaM damit auch. Das wurde verhindert. Doch die SVP gibt nicht auf: Mit ihrer Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit hat sie bereits den nächsten Angriff lanciert.
Und jetzt: Wie es weitergeht
Es vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht jemand Neues zur verfahrenen Situation äussert. Dabei weiss fast niemand, wie es jetzt weitergehen soll. Und ob überhaupt. Die Parteipräsidentinnen von SP, CVP und FDP fordern den Abbruch der Verhandlungen mit der EU. Die Gewerkschaften wollen jede Schwächung des Lohnschutzes verhindern. Die Arbeitgeber wiederum sind zu keinerlei Ausbau der Schutzmassnahmen bereit.
Mit dem Krach wird offensichtlich, wie zerrüttet die Beziehungen sind, wie weit sich die sogenannten Sozialpartner voneinander entfernt haben. Die «Samstagsrundschau» von SRF fragte Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt, ob die Fortsetzung der Gespräche ohne Gewerkschaften nicht eine Alibiübung sei. Er meinte: «Wir können sehr wohl beurteilen, was mehrheitsfähig ist. Wir haben jeden Tag mit Arbeitnehmern zu tun.» Jetzt müsse man weitermachen – den Lohnschutz halt auch ohne Gewerkschaften diskutieren.
Vogt sagte entwaffnend offen, wie wenig er von den Gewerkschaften halte. Ähnliches dürfte für Wirtschaftsminister Schneider-Ammann gelten, auch er ein Patron alter Schule: Gegenüber den Gewerkschaften ist er immer zur Höflichkeit bereit, aber kaum zu Zugeständnissen.
Schneider-Ammann setzt die Konsultationen als Verhandlungsführer fort, als wäre nichts geschehen. Dabei stellen die Gewerkschaften sein Vorgehen grundsätzlich infrage: Es geht nicht nur um die viel diskutierten Gesprächsunterlagen, in denen sie einen Abbauplan zugunsten der EU witterten. Es geht um mehr: Schneider-Ammann überschreite seine Kompetenzen, weil er weit über das Mandat des Bundesrats hinausgehe. Tatsächlich teilte der Bundesrat am 4. Juli mit: Schneider-Ammanns Departement werde «die Meinung der Sozialpartner einholen». Von Verhandlungen, wie es derzeit so oft heisst, war da keine Rede.
Kommt nicht noch eine unerwartete Wende, wird der Wirtschaftsminister seinen Kolleginnen im Bundesrat mitteilen müssen, dass seine Sondierungsgespräche mit den Sozialpartnern ergebnislos verlaufen seien. Aber ohne Gewerkschaften hat das ganze Spektakel keinen Sinn, ein Rahmenabkommen mit der EU an der Urne keine Chance.
So bleibt alles in einem wolkigen Patt stecken. Die gewohnten Rollen verkehren sich: Die Gewerkschaften und die SP stellen sich gegen fremde Gerichte, die SVP gegen den Schutz der Arbeiterschaft.
Paul Rechsteiner tritt Ende November als Chef des SGB ab. Für ihn geht es um alles oder nichts. Die Gewerkschaften halten nicht stur an den FlaM fest, weil sie so gut wären. Sondern weil es nichts anderes zum Schutz der Schweizer Löhne gibt.
Hinter all dem Nebel wird langsam sichtbar, wie ernst es den Gewerkschaften ist. Ihre Überzeugung scheint so unverrückbar wie ein gigantischer Betonblock: Die flankierenden Massnahmen dürfen keinesfalls vor ein fremdes Gericht. Diesen Grundsatz wollen sie um jeden Preis verteidigen. Bis zum bitteren Ende.
Debatte: Ist das Rahmenabkommen mit der EU noch zu retten?
Ist das Festklammern der Gewerkschaften an den FlaM gerechtfertigt und zielführend? Kann der Bundesrat bei seinen Verhandlungen mit den Sozialpartnern zu einem Resultat kommen? Oder braucht es einen Kompromiss? Doch wie könnte der aussehen?
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