Schweizer Erfolgsmodell in Gefahr
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund geht auf Kollisionskurs mit Schneider-Ammann. Das ist unschön, aber nachvollziehbar.
Von Daniel Binswanger, 11.08.2018
Mit einem Knall ist ein Konflikt eskaliert, der die Schweizer Politiklandschaft zutiefst erschüttern und nicht absehbare Folgen nach sich ziehen dürfte. Die Gewerkschaften haben beschlossen, Verhandlungen über eine Schwächung der flankierenden Massnahmen zu boykottieren, die dem Bundesrat mehr Spielraum zum Abschluss eines Rahmenabkommens mit der EU geben würde. Die flankierenden Massnahmen sind für die Arbeitnehmervertreter unverhandelbar, sakrosankt.
Man mag ob so viel Kompromisslosigkeit schockiert sein, aber das Problem bei diesem Zwist liegt nicht in der Sturheit der Gewerkschaftsbosse, auch wenn die meisten Kommentare es bei dieser Form der Küchenpsychologie belassen haben. Das Problem ist fundamentaler: Für die gewerkschaftliche Verweigerungshaltung gibt es rationale Gründe.
Die bisherige Geschichte des europäisch-schweizerischen Bilateralismus ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine verteilungspolitische Erfolgsgeschichte. Die Schweiz hat sich in den letzten zehn Jahren im europäischen Vergleich wirtschaftlich nicht nur gut entwickelt, sie hat es gleichzeitig geschafft, die Einkommensverteilung relativ stabil zu halten. Und dies bei solidem BIP-Wachstum und vergleichsweise guter, aktuell sogar wieder glänzender Beschäftigungslage.
Die untersten Einkommensschichten haben – wie dies etwa der Verteilungsbericht 2016 des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes darlegt – gegenüber den mittleren Löhnen sogar überproportionale Lohnzuwächse erzielt. Das ist eine bemerkenswerte Leistung, umso mehr als sie aus der europäischen Gesamtentwicklung heraussticht: In allen Nachbarstaaten der Schweiz hat sich die Lohnungleichheit in den letzten Jahren deutlich verschärft, ganz besonders in Deutschland. Sichtbar wird das etwa in der Entwicklung des Gini-Index der verfügbaren Einkommen, der ein Mass für die Lohnungleichheit liefert. Laut Eurostat stieg der Gini zwischen 2006 und 2016 in Deutschland um 2,7 Punkte, in Frankreich um 2 Punkte, in Österreich um 2,6 Punkte und in Italien um einen Punkt. In der Schweiz ist er in dem Zeitraum um einen Punkt gesunken.
Das soll nicht heissen, dass die Schweiz verteilungspolitisch alles richtig macht: Die Vermögen sind extrem ungleich verteilt, und die teilweise sehr starke Degressivität gewisser Zwangsabgaben (Krankenkassenprämien) führt zu einer massiven Mehrbelastung der unteren Einkommensschichten. Aber auch andere Indikatoren wie die Lohnquote – das heisst der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am gesamten Volkseinkommen – bleiben in der Schweiz erstaunlich stabil, während sie im übrigen Europa seit langem am Sinken sind. Insgesamt ist die Schweizer Lohnstruktur ein kleines verteilungspolitisches Mirakel. Sehr zurecht verweisen auch wirtschaftsnahe Akteure wie beispielsweise avenir suisse voller Stolz auf diese Errungenschaft.
Eine vergleichsweise ausgewogene Lohnstruktur ist in unser aller Interesse. Das bedeutet aber: Der Fortbestand der flankierenden Massnahmen ist auch in unser aller Interesse. Der überproportionale Anstieg der Niedriglöhne in der Schweiz hätte ohne die Flankierenden niemals stattgefunden. Insbesondere die sogenannte «erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung» von Gesamtarbeitsverträgen, die zu den flankierenden Massnahmen gehört, hat zu einer signifikanten Ausweitung des Arbeitnehmerschutzes und zu einem Anstieg der Löhne im Niedriglohnsektor geführt. Die Flankierenden haben die Schweizer Gewerkschaften so stark gemacht wie nie zuvor. Diese Stärke hat dem sozialen Ausgleich genützt und der Wirtschaftsentwicklung nicht geschadet. Warum also sollen sie heute preisgegeben werden?
Die Antwort auf letztere Frage liegt leider auf der Hand: weil es sonst unmöglich werden könnte, mit der EU einen Rahmenvertrag auszuhandeln. Johann Schneider-Ammanns Vorstoss, die «roten Linien» der flankierenden Massnahmen nun doch zur Disposition zu stellen, muss nicht zwingend als gewerkschaftsfeindliche Boshaftigkeit ausgelegt werden. Er steht unter Druck, eine Lösung zu finden, die für Brüssel akzeptabel ist. Und auch wenn wir nur darüber spekulieren können, welche Verhandlungspositionen die beiden Parteien tatsächlich einnehmen: Es ist durchaus denkbar, dass Brüssel auf Konzessionen beim Entsendegesetz beharrt.
Vordergründig geht es um die 8-Tage-Regel, aber die Gewerkschaften weisen völlig zu Recht darauf hin, dass es um viel mehr geht. Es gibt den Präzedenzfall Luxemburg, dem per Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verboten wurde, überhaupt eine Anmeldefrist für ausländische Dienstleister aufrechtzuerhalten (im Fall von Luxemburg musste eine 3-Tage-Regel abgeschafft werden, was den salomonischen Lösungsvorschlag einer 4-Tage-Regel von Bundesrat Cassis alles andere als zielführend aussehen lässt). Wovor die Gewerkschaften sich fürchten, ist nicht, dass Brüssel Einzelaspekte der Kontrollbürokratie abschaffen will, sondern dass der Europäische Gerichtshof das letzte Wort über die flankierenden Massnahmen bekommt.
Das Schiedsgericht, welches das Rahmenabkommen nach Wille des Bundesrates einführen soll, würde diese Gefahr voraussichtlich nicht aus dem Weg räumen. Es soll alle Streitfragen, die dem europäischen Recht unterliegen, dem Europäischen Gerichtshof zur Beurteilung zuweisen. Dass die Frage, wie europäische Unternehmen im Rahmen der Personenfreizügigkeit von den Schweizer Behörden behandelt werden dürfen, europäisches Recht betrifft, dürfte jedoch kaum strittig sein.
Natürlich: Eine Aufweichung der flankierenden Massnahmen wäre nicht gleichzusetzen mit ihrer völligen Abschaffung. Es ist schwer abzuschätzen, wie weit der EuGH schliesslich gehen könnte bei der Schleifung der Schweizer Schutzmassnahmen. Und es ist auch nicht klar, welchen konkreten Einfluss diese Veränderungen auf das Lohnniveau letztlich haben würden. Aber dass in exponierten Branchen die Löhne unter Druck kämen, ist mehr als plausibel. Die Lohnunterschiede zwischen der Schweiz und einzelnen EU-Ländern sind so ausgeprägt, dass der Druck sogar gewaltig werden dürfte. Sind wir bereit, diesen Preis zu bezahlen für ein Rahmenabkommen mit der EU? Es wäre bizarr, den Gewerkschaften zum Vorwurf zu machen, dass sie sich dagegen sträuben.
Die Linke gerät in eine äusserst delikate Lage. Es könnte sozusagen der Mélenchon-Moment der Schweizer Sozialdemokraten sein: der Moment des definitiven Auseinanderbrechens einer pro- und einer antieuropäischen Fraktion. Seit etwa zehn Jahren war die SP die mit Abstand konsistenteste proeuropäische Kraft. Wenn die EU-Integration tatsächlich zur massiven sozialpolitischen Bedrohung wird, dürfte sich diese Positionierung nicht halten lassen – und die Schweiz bekommt ein noch viel gröberes europapolitisches Problem, als sie es schon heute hat.
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Illustration: Alex Solman