Parlament will höheres AHV-Alter für Frauen, Ständerat lehnt Pflegeinitiative ab und Bundesrat möchte EU-Milliarde freigeben
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (150).
Von Reto Aschwanden, Dennis Bühler und Cinzia Venafro 10.06.2021
«Was haben Sie bloss für ein Frauenbild?» Die Zürcher FDP-Nationalrätin Regine Sauter sprach diesen Satz gestern Vormittag fast schon erbost und blickte dabei in den linken Teil des Ratssaals. Zuvor hatten die SP-Nationalrätinnen Barbara Gysi und Tamara Funiciello vergebens gegen eine Erhöhung des Frauenrentenalters angeredet. Als sich abzeichnete, dass sie keine Mehrheit finden würden, warben sie für grosszügige Kompensationen.
Das Parlament tut gerade das, woran es bereits 2004, 2010 und zuletzt 2017 kläglich gescheitert war: Es zimmert eine neue Rentenreform. Anders als beim letzten Versuch, der beide Säulen umfasste, soll nun die erste Säule einzeln saniert werden.
Zur Erinnerung: Vor vier Jahren schickten vor allem Frauen und Junge Bundesrat Bersets AHV-Reform an der Urne bachab, weil die Vorlage zu wenig Kompensationen für die Verlängerung des Frauenrentenalters beinhaltet hatte.
Doch erinnert sich überhaupt noch jemand an 2017?
Hörte man bürgerliche Sozialpolitiker gestern Mittwoch bis weit in die Mitte bei der Monsterdebatte für das Frauenrentenalter 65 und gegen eine Erhöhung der Kompensationsmassnahmen argumentieren, drängte sich diese Frage unweigerlich auf.
So stichelte etwa der Zürcher SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt: «Die Frauen wollen höhere Löhne, aber sie wollen nicht länger arbeiten und nicht ins Militär. Ist feministische Politik nicht opportunistische Politik?»
Sticheleien hin, mehrere Dutzend Minderheitsanträge der Linken her: Mit wuchtigen 124 zu 69 Stimmen erhöhte der Nationalrat das Frauenrentenalter auf 65. Diesen Grundsatzentscheid hatte der Ständerat bereits in der Frühjahrssession getroffen.
Wie aber soll man die Frauen fürs längere Arbeiten kompensieren? In dieser Frage versuchen die beiden Parlamentskammern und der Bundesrat nun eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.
Im Grundsatz soll es nach der Einführung der Reform während einer Übergangsfrist Rentenzuschläge für Frauen geben, die bis 65 arbeiten. Diese Zuschläge würden nach dem Willen des Nationalrats maximal 150 Franken pro Monat betragen und wären nach Einkommen abgestuft – je weniger eine Frau verdient, umso höher der Zuschlag.
Doch die Regierung und die beiden Räte sind sich nicht einig über den Umfang der Zuschläge, die einen Teil der durch die Erhöhung des Rentenalters ermöglichten Einsparungen wieder auffressen würden. Die Bundesratsvariante benötigt 33 Prozent der Einsparung als Ausgleich für die Frauen, jene des Nationalrats 40 Prozent. Am günstigsten oder je nach Lesart knausrigsten ist die Variante des Ständerats, die rund ein Fünftel kosten würde, was im teuersten Übergangsjahr noch immer 421 Millionen Franken ausmachen würde.
So oder so dürfte der Abstimmungskampf um die AHV-Reform in den Sitzungszimmern von SP und den Gewerkschaften bereits geplant werden: Denn die Linke hat angekündigt, gegen das Frauenrentenalter 65 per Referendum anzukämpfen.
Oder wie es mit 31 Jahren die jüngste Frau im Nationalratssaal, Grünen-Nationalrätin Léonore Porchet, ausdrückte: «Ich will keine Anhebung des Rentenalters für Frauen! Es handelt sich schlicht um eine Verlängerung der Arbeitszeit. Nichts kann dies ausgleichen!»
Und damit zum Briefing aus Bern.
Covid-19-Gesetz: Härtefallregelung wird verlängert
Worum es geht: Am Montag sagte der Nationalrat mit 149 zu 39 Stimmen Ja zum aktualisierten Covid-19-Gesetz. Die SVP scheiterte mit ihrem Antrag, konkrete Öffnungsschritte wie die Aufhebung der Homeoffice-Pflicht oder die Aufhebung der Maskenpflicht ins Covid-19-Gesetz zu schreiben. Wie der Bundesrat beantragt hatte, stimmte die grosse Kammer dafür, die Härtefallregelung bis Ende 2021 zu verlängern. Zudem folgt der Nationalrat seiner Kommission und will, dass die festgesetzte Höchstgrenze für nicht rückzahlbare Beiträge für Unternehmen mit einem Jahresumsatz von über 5 Millionen Franken überschritten werden kann.
Warum Sie das wissen müssen: Eine solche gesetzgeberische Situation gab es in der Schweiz noch nie: Kommenden Sonntag entscheidet das Stimmvolk über das Covid-19-Gesetz, weil dagegen das Referendum ergriffen wurde. Gleichzeitig debattiert das Parlament weiter über neue Bestimmungen im Gesetz, welches wiederum grösstenteils bis Ende 2021 befristet ist.
Wie es weitergeht: Der Ständerat ist der grossen Kammer am Mittwoch gefolgt, auch er ist für eine Verlängerung des Härtefallprogramms. Zudem will er eine Ausnahmeregelung für Grossunternehmen in Existenznöten. Einig sind sich beide Kammern zudem in diesem wichtigen Punkt: Sobald alle impfwilligen Erwachsenen ihre Spritzen bekommen haben, müssen Kapazitätsbeschränkungen für öffentlich zugängliche Einrichtungen und Veranstaltungen aufgehoben werden. Nun bleibt nur noch eine Differenz zwischen den Räten: Der Nationalrat möchte die Unterstützungsmassnahmen für den Kulturbereich bis April 2022 verlängern, der Ständerat hingegen nur bis Ende dieses Jahres.
Pflegeinitiative: Auch Ständerat bevorzugt Gegenvorschlag
Worum es geht: Der Ständerat empfiehlt wie zuvor schon der Nationalrat, die Pflegeinitiative abzulehnen. Bereits im März hatte sich das Parlament auf einen Gegenvorschlag geeinigt, der den Initiantinnen weit entgegenkommt.
Warum Sie das wissen müssen: Die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» verlangt, dass Bund und Kantone für eine ausreichende, allen zugängliche Pflege von hoher Qualität sorgen und Personalmangel verhindern. Lanciert hatte sie der Berufsverband des Pflegepersonals: Die Arbeitsbedingungen seien zu schlecht und die Ausbildungszahlen viel zu tief, um den bis ins Jahr 2030 entstehenden Bedarf von bis zu 65’000 zusätzlichen Pflegefachpersonen zu decken. Einer von vielen Lösungsvorschlägen: Damit der Beruf attraktiver wird, sollen Pflegefachpersonen ihre eigenverantwortlich erbrachten Leistungen neu selbstständig mit den Krankenkassen abrechnen dürfen, also ohne Anordnung einer Ärztin. Der vom Parlament im März verabschiedete indirekte Gegenvorschlag nimmt dieses Anliegen auf. Zudem verpflichtet er die Kantone unter anderem, die unter tiefen Ausbildungslöhnen leidenden angehenden Pflegefachkräfte finanziell zu unterstützen. Im Ständerat lobte Gesundheitsminister Alain Berset am Montag: Das Parlament habe mit dem indirekten Gegenvorschlag «sehr gute Arbeit» geleistet.
Wie es weitergeht: Ob der Verband seine Volksinitiative angesichts des Gegenvorschlags zurückzieht, will er nach der parlamentarischen Schlussabstimmung am 18. Juni entscheiden.
Mehr politische Rechte für Menschen mit Beeinträchtigung
Worum es geht: Der Ständerat will prüfen lassen, inwiefern Menschen mit geistiger Behinderung an Abstimmungen teilnehmen können. Die kleine Kammer hat ein entsprechendes Postulat der Tessiner SP-Ständerätin und Hausärztin Marina Carobbio an den Bundesrat überwiesen. Die Regierung muss nun in einem Bericht aufzeigen, was es braucht, «damit Menschen mit einer geistigen Behinderung uneingeschränkt am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können.»
Warum Sie das wissen müssen: Im Kanton Genf können «dauernd urteilsunfähigen Menschen» auf kantonaler und kommunaler Ebene die politischen Rechte nicht mehr entzogen werden. Dies hat die Stimmbevölkerung Ende 2020 mit 75 Prozent klar entschieden. Genf beendete somit die Diskriminierung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung und ist bisher der einzige Schweizer Kanton, der das internationale Behindertenrecht respektiert. Der aktuelle Ausschluss auf Bundesebene verstösst gegen die Uno-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat.
Wie es weitergeht: In der Bundesverfassung heisst es: «Die politischen Rechte in Bundessachen stehen allen Schweizerinnen und Schweizern zu, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind.» Behindertenorganisationen kritisieren dies seit Jahren. Nach Genf gibt es auch in Neuenburg, im Tessin, im Wallis und Basel-Stadt Bestrebungen, dem Genfer Vorbild zu folgen. Auf Bundesebene bräuchte es für eine entsprechende Änderung eine Verfassungsrevision. Was es konkret für einen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung bedeutet, am politischen Leben teilnehmen zu können, hat Republik-Autorin Anja Conzett in einem Beitrag über ihren Bruder aufgeschrieben.
Tierversuche: Parlament findet Initiative zu radikal
Worum es geht: Der Ständerat lehnt die Initiative für ein komplettes Verbot von Tier- und Menschenversuchen einstimmig ab. Der Nationalrat hat bereits im März oppositionslos Nein gesagt.
Warum Sie das wissen müssen: Die Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot» will Tierversuche als Verbrechen einstufen. Produkte, für deren Herstellung Tierversuche durchgeführt wurden, sollen verboten werden. Das ist sämtlichen Parlamentarierinnen zu radikal. Zwar sehen namentlich die Grünen Handlungsbedarf, ein Vorstoss für einen Gegenvorschlag zur schrittweisen Reduzierung fand aber keine Mehrheit. Aktuell gelten für Tierversuche die sogenannten 3-R-Prinzipien (Replacement, Reduction und Refinement), mit denen Alternativen gesucht, die Zahl der eingesetzten Tiere reduziert und die Belastung für die Tiere verringert werden sollen. Nachdem die Anzahl Tierversuche seit den 1980er-Jahren gesunken war, stagnieren die Zahlen in letzter Zeit. 2019 kamen 572’100 Tiere zum Einsatz, drei Viertel davon zur Erforschung von Krankheiten beim Menschen. Gestiegen ist über die letzten Jahre die Zahl der Tiere, die schweren Belastungen ausgesetzt sind.
Wie es weitergeht: Die Initianten halten an ihrem Begehren fest, dürften an der Urne aber chancenlos bleiben. Der Bundesrat hat Anfang Februar ein neues Nationales Forschungsprogramm zum Ausbau der 3-R-Prinzipien lanciert.
Grenzschutz: Ständerat will Ausgleichsmassnahmen zu Zahlungen an Frontex
Worum es geht: Der Ständerat übt deutliche Kritik an der EU-Migrationspolitik. Im Rahmen der Debatte über den Schweizer Beitrag an den Ausbau der europäischen Grenzagentur Frontex hat er sich dafür ausgesprochen, die Zahlung an humanitäre Begleitmassnahmen zu knüpfen. Vergebens plädierte Grünen-Ständerat Mathias Zopfi dafür, erst gar nicht auf die Vorlage einzutreten. Seiner Ansicht nach unterstützt die Schweiz damit etwa «Pushbacks», also illegale Zurückdrängungen von Migranten.
Warum Sie das wissen müssen: Seit 2016 rüstet die EU die Frontex mit Personal und technischer Ausrüstung auf. Das kostet. Da es sich um eine Schengen-Weiterentwicklung handelt, muss auch die Schweiz ihren Beitrag dazu leisten. Von ursprünglich 14 Millionen Franken pro Jahr steigt dieser bis 2027 auf 61 Millionen pro Jahr. Zudem soll die Schweiz auch mehr Personal zur Verfügung stellen. Der Ständerat will die Zahlung mit Ausgleichsmassnahmen «im Sinne der humanitären Tradition» verbinden. Einstimmig will das Stöckli etwa die Rechtsmittel Asylsuchender stärken und ihnen für Beschwerdeverfahren mehr Unterstützung anbieten. Zudem sollen Frontex-Einsätze von Schweizern einem ähnlichen Genehmigungsverfahren unterliegen wie die Militäreinsätze im Ausland. Knapp gescheitert ist ein Antrag der Kommission, die Zahl der Resettlement-Flüchtlinge, welche die Schweiz in Zusammenarbeit mit dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR aufnimmt, deutlich zu erhöhen. Für die Jahre 2020 und 2021 beschloss der Bundesrat die Aufnahme von maximal 1600 Flüchtlingen.
Wie es weitergeht: Die Vorlage geht nun in den Nationalrat.
Europapolitik: Kohäsionsmilliarde soll EU milde stimmen
Worum es geht: Nach dem Aus des Rahmenabkommens mit der EU will die Schweiz die Fronten aufweichen. Darum möchte der Bundesrat die eingefrorene Kohäsionsmilliarde freigeben. Bereits in der Herbstsession soll das Parlament darüber entscheiden.
Warum Sie das wissen müssen: Die Kohäsionsmilliarde war sozusagen ein Wegpfand im Ringen um das Rahmenabkommen. Die Schweiz hatte die Auszahlung Ende 2019 blockiert, weil die EU der Schweizer Börse die Gleichwertigkeit – die sogenannte Börsenäquivalenz – nicht mehr zugestand. Nach dem Abbruch der Verhandlungen vor zwei Wochen will der Bundesrat die EU mit der Kohäsionsmilliarde besänftigen. Bundespräsident Parmelin hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem Brief versichert, er werde sich für die Deblockierung des Geldes einsetzen.
Wie es weitergeht: Die Schweizer Europapolitik steckt nach dem Rahmenabkommen-Aus in der Schockstarre. In Bern hofft man, dass die EU das Zückerchen in Form der Kohäsionsmilliarde schluckt und so der Weg für neue Gespräche offenbleibt. Oder in magistralen Worten ausgedrückt: «Mit der Umsetzung des Beitrags möchte der Bundesrat nach seinem Entscheid zur Beendigung der Verhandlungen über das institutionelle Abkommen unterstreichen, dass die Schweiz auch in Zukunft eine zuverlässige Partnerin der EU bleibt.»
SRG-Ärger der Woche
Die SRG steht mal wieder im Fokus der Politik. Am Dienstag gab es, vorläufig, good news aus dem Bundeshaus: Der Ständerat lehnte bei der Beratung der künftigen Medienförderung die Forderung des Nationalrats ab, das Onlineangebot der SRG weiter einzuschränken. Auch Medienministerin Simonetta Sommaruga findet, das sei in der Konzession geregelt und gehöre nicht ins Gesetz. Heute Donnerstag beugt sich der Nationalrat einmal mehr über die Vorlage. Und schon droht neuer Ärger, diesmal von der SVP. Kritik am «Staatssender» gehört in der Partei zum guten Ton, «das Fass zum Überlaufen gebracht» habe letzte Woche die Sendung «Club». Weil dort das Scheitern des Rahmenabkommens diskutiert wurde, ohne dass ein SVP-Vertreter eingeladen worden wäre, geht die SVP nun gegen den «links-grünen Aktivistensender» vor. Laut Nationalrat Thomas Matter prüft sie zwei Volksinitiativen: Mit der einen sollen die Gebühren von 335 auf 200 Franken gesenkt werden. Der Verein «Freunde der Verfassung» kündigt volle Unterstützung an beim Vorstoss, «die SRG über eine Senkung der Gebühren an die kurze Leine zu nehmen». Die andere Initiative würde verlangen, dass Aufsicht, Leitung und die Redaktionen der Politsendungen «die politische Landschaft der Schweiz abbilden». Das hingegen würden die Verfassungsfreunde nicht unterstützen, weil sie aus liberaler Sicht grundsätzlich gegen Quoten seien. So bald wird wohl also weder Roger Köppel die «Arena» moderieren noch Magdalena Martullo-Blocher als Ombudsfrau amten.
Illustration: Till Lauer