«Im Alltag überfordert zu sein, bedeutet nicht, dass du dir keine politische Meinung bilden kannst»

Manuel Conzett ist es sehr wichtig, dass seine Stimme zählt. Doch weil er anders ist als die Durchschnitts­menschen, ist ihm sein Stimmrecht nicht sicher. Ein Gespräch über die Arroganz der Gesellschaft und warum auch Spinner abstimmen dürfen sollen.

Von Anja Conzett (Text) und Christian Grund (Bilder), 15.03.2021

Manuel Conzett unterwegs im Prättigau.

Mein Bruder Manuel gehört zu den Menschen, die in der Regel keine Abstimmung verpassen. Dabei ist es alles andere als selbst­verständlich, dass Manuel überhaupt abstimmen darf.

Manuel hat eine mittel­schwere Autismus­spektrums­störung.

Das bedeutet, dass er die Welt in manchen Situationen anders wahrnimmt und anders auf sie reagiert als jene, die er «Durchschnitts­menschen» oder «neurotypisch» nennt.

Es bedeutet, dass es für ihn schwierig ist, unmittelbar am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Jedenfalls wenn es ausserhalb der Familie und seines geschützten Arbeits­platzes stattfindet. Und es bedeutet, dass ihm Dinge auffallen, die anderen verborgen bleiben – und er in der Folge verblüffende Beobachtungen anstellt.

Es bedeutet, dass er, wenn er sich in einer Situation unwohl fühlt oder langweilt, einfach davonläuft, ohne irgend­jemandem Bescheid zu geben; was, als wir noch Kinder waren, hin und wieder die Polizei beschäftigte. Und es bedeutet, dass er mit einem Orientierungs­sinn ausgestattet ist, der ihn noch immer ans Ziel gebracht hat, selbst wenn er an einem fremden Ort zehn Kilometer zu Fuss gehen musste.

Es bedeutet, dass er manchmal, wenn ihm etwas aus seiner Sicht misslingt, die Kontrolle über seine Wut verliert. Und es bedeutet, dass er stundenlang und gleichzeitig in Rekord­tempo komplexe Puzzles löst, filigrane Kreuzstiche macht und aufwendige Modelle zusammenbaut.

Es bedeutet, dass er manchmal die Anweisungen seines Vorgesetzten vergisst. Oder ignoriert. Und es bedeutet, dass er die Namen der Haupt­städte dieser Welt auswendig aufzählen kann; die Länder, zu denen sie gehören, an ihren Umrissen erkennt und dass er genauestens Bescheid weiss, welche Technologien während des Ersten Weltkriegs entwickelt wurden.

Es bedeutet, dass er sehr selektiv Informationen aufnimmt; nach sechs Jahren Italienisch in der Schule spricht er kein Wort in der Sprache. Und es bedeutet, dass er sich in seiner Freizeit das kyrillische Alphabet beigebracht hat und russische Vokabeln büffelt.

Es bedeutet, dass er manchmal nicht gerne Veränderungen hat und seine Kleider am liebsten so lange trägt, bis sie tatsächlich auseinander­fallen. Und es bedeutet, dass er die Zeit, die er durch seine Routinen gewinnt, dafür einsetzt, konzentriert über sich selbst nachzudenken – oder über Begriffe wie Demokratie oder Gerechtigkeit.

Es bedeutet, dass er bis zu seinem achten Lebens­jahr nicht gesprochen hat. Und es bedeutet, dass er, als er schliesslich zu sprechen begann, das in perfektem Bühnen­deutsch tat – obwohl niemand in seinem Umfeld Hoch­deutsch sprach. Und mit einem Wortschatz, der den von doppelt so alten Kindern übertraf.

Manuel hat gute Tage, an denen er sich praktisch mühelos durch den Alltag navigiert. Und er hat schlechte Tage, an denen selbst einfachste Dinge zur Zerreiss­probe für ihn und sein Umfeld werden.

Und auch wenn die guten Tage die Regel sind, sind es oft die schlechten Tage, an denen er sich messen lassen muss.

Mit achtzehn Jahren wird Manuel von der Vormundschafts­behörde als urteils­unfähig eingestuft und unter die Vormundschaft unserer Eltern gestellt. Dass er heute, dreizehn Jahre später, ein selbst­bestimmtes Leben führt und das Recht auf politische Teilnahme hat, ist auf vier absolut nicht selbst­verständliche Dinge zurückzuführen:

  • die Einführung der Kindes- und Erwachsenen­schutzbehörde (Kesb) 2013 mit ihrem mehr­stufigen Beistandsmodell;

  • den Kanton Graubünden, der sich sehr bewusst mit der umfassenden Form der Beistandschaft zurückhält, die zur politischen Entmündigung führt (Ende 2019 waren fünfzehn Menschen im Kanton auf diese Weise verbeiständet);

  • unsere Eltern, die sich nie von den schlechten Tagen beirren liessen, sondern stoisch an den guten Tagen festhielten, jedem Druck von aussen zum Trotz;

  • und auf eine junge Beamtin, die so überzeugt von der Urteils­fähigkeit meines Bruders war, dass sie ihn 2015 sogar noch aus der partiellen Beistandschaft entliess.

Manuel weiss, dass er Glück hatte. Und es beschäftigt ihn, dass er eines Tages wieder Pech haben könnte. Wenn den Eltern etwas zustossen würde, er zu einer seiner Schwestern in einen anderen Kanton ziehen müsste und er dort an einem schlechten Tag eine Episode im falschen Umfeld hätte.

Dass ihm dann das Stimmrecht, von dem er so rege Gebrauch macht, wieder genommen werden könnte, ist eine reale Sorge in seinem Leben. Mit umso grösserer Spannung hat er letzten Winter die Abstimmung in Genf verfolgt, bei der Menschen mit geistiger und psychischer Beeinträchtigung vorbehaltlos das Stimm­recht zugestanden wurde. Und das mit überwältigenden 75 Prozent Ja.

Wir beginnen das Gespräch auf dem Stockwerk, das Manuel in unserem Eltern­haus im Prättigau bewohnt.

Manuel, seit wann interessierst du dich für Politik?
Ich habe mich schon immer für die Welt um mich herum interessiert, auch als ich noch nicht stimmen durfte. Aber mein Interesse an politischen Belangen hat sich verstärkt, seit ich weiss, dass meine Stimme zählt.

Und was gefällt dir an der Politik?
Es gefällt mir, dass man in einer Demokratie Verantwortung übernehmen kann für die Gesetze und Ordnungen, die wir haben. Ich liebe es, wenn die Dinge geordnet sind, wenn es klare Regeln gibt. Das gibt mir Ruhe.

Fühlst du dich durch Regeln nicht auch eingeschränkt?
Nein. Ohne Regeln ist Chaos. Chaos ist unübersichtlich. Unübersicht­lichkeit überfordert mich. Über­forderung schränkt mich ein.

Eine der Regeln, die wir haben, schreibt vor, dass Menschen, die aufgrund geistiger oder psychischer Beeinträchtigung unter umfassender Beistandschaft stehen, nicht abstimmen dürfen.
Es gibt gute Regeln, und es gibt schlechte Regeln. Das ist eine schlechte Regel. Es ist absurd, jemandem das Stimm­recht vorzuenthalten, einfach weil er einen Beistand braucht. Im Alltag überfordert zu sein, bedeutet doch nicht, dass du dir keine politische Meinung bilden kannst. Ich bin mit cerebral gelähmten Menschen zur Schule gegangen, die ein Leben lang in fast jeder Situation auf Hilfe angewiesen sein werden und die sehr wohl denken können – und zwar gut.

Sind dir in der Schule und am Arbeits­platz auch Menschen begegnet, deren Kondition es ihnen verunmöglicht, sich mit politischen Fragen auseinander­zusetzen – die gar nicht die Möglichkeit haben, ein Interesse daran zu entwickeln?
Ja. Einige. Aber darum geht es nicht. Die Hälfte der heute Stimm­berechtigten geht auch nicht abstimmen, und es gibt auch neurotypische Menschen, die nicht zu politischen Auseinander­setzungen fähig sind.

Zum Beispiel?
Verschwörungstheoretiker. Die spinnen doch.

Wenn das so ist – wäre es dann nicht besser, man liesse diese Spinner gar nicht erst abstimmen?
Nein.

Warum nicht?
Weil im demokratischen Rechtsstaat jeder Staats­bürger das Recht haben sollte, seine Stimme abzugeben. Deshalb ist es auch nicht korrekt, wenn man ihnen (die unter umfassender Beistandschaft stehen; d. Red.) das Stimmrecht abspricht. Mit dem Argument, dass es Menschen gibt, die nicht in der Lage sind, sich eine fundierte Meinung zu bilden, oder kein Interesse haben, abzustimmen, könnte man allen das Stimm­recht absprechen, auch euch. Das ist keine Demokratie, das ist eine Form von Faschismus.

Wir haben das Gespräch von Manuels Stockwerk zwischen­zeitlich in die Stube verlegt, der Vater sagt, aus der Küche kommend: «Das ist jetzt vielleicht etwas krass ausgedrückt. Was bedeutet denn Faschismus für dich, Manuel?»

Manuel antwortet ohne zu zögern: «Ein politisches System, in dem sich eine Gruppe als Herren­menschen sieht, anderen Menschen überlegen, und sich deshalb mehr Rechte ausbedingt.»

Der Vater nickt und zieht sich wieder zurück.

Warum, glaubst du, ist Genf bislang der einzige Kanton, der das Stimm­recht für Menschen mit geistiger und psychischer Einschränkung vorbehaltlos eingeführt hat?
Weil die neurotypischen Menschen uns nicht für voll nehmen. Es ist Arroganz. Und Kurzsichtigkeit. Sie halten uns nicht neurotypischen Menschen für dumm, weil sie nicht verstehen, dass Intelligenz ein vielschichtiger Begriff ist. Einige meiner Kollegen mit Trisomie 21 haben zum Beispiel eine höhere emotionale Intelligenz als die Durch­schnitts­menschen. Sie sind sensibler, und sie verstehen auch, wie jemand wie ich funktioniert.

Was siehst du schärfer als andere?
Ich bin gut im logischen Denken. Und mein Erinnerungs­vermögen ist grösser als das von Durch­schnitts­menschen. Ihr seid so vergesslich manchmal! Daten, Eigen­namen, Zahlen, Bilder, historische Ereignisse … Das kann ich mir gut merken. Das nennt sich Insel­begabung. Ich habe Ansätze eines fotografischen Gedächtnisses, aber ich bin nicht hochbegabt wie andere mit meiner Veranlagung. Zum Beispiel bin ich mit autistischen Menschen zur Schule gegangen, die waren viel klüger und besser in diesen Bereichen als ich. Manchmal sind sie aber schlechter im Kommunizieren, sie sprechen nicht, und dann werden sie trotz ihrer Begabung für unfähig gehalten.

Du hast selbst bis acht mit niemandem gesprochen, danach viele Jahre nur mit der engsten Familie.
Ja, und ich wurde deswegen auch für unfähig gehalten.

Was hat das mit dir gemacht?
Ich habe Fremden misstraut, mich immer mehr zurück­gezogen. Deshalb habe ich auch so lange gebraucht, bis ich mit Menschen ausserhalb der Familie sprechen konnte.

Auch bei uns hast du deine Zeit gebraucht. Hast du uns auch misstraut?
Nein.

Warum, glaubst du, fiel es dir so schwer, mit uns zu sprechen?
Weiss ich nicht. Warum ist es dir so leicht gefallen?

Touché.
Ich bin einfach so, und ich darf auch so sein.

Wie wäre es, wenn man dir das Stimm­recht wieder wegnehmen würde, weil du so bist, wie du bist?
Nicht gut. Ich finde es nicht schlimm, wenn ich wieder einen Beistand haben muss, solange es jemand von euch (der Familie; d. Red.) ist. Aber wenn sie mir das Stimm­recht wegnehmen, würde ich das Vertrauen in die Politik und die Gesellschaft verlieren.

Demokratie ist dir sehr wichtig. Ist sie dir manchmal auch lästig?
Ja, wenn ich bei einer Abstimmung verliere. Zum Beispiel bei der Konzern­verantwortungs­initiative.

Wo würdest du dich politisch verorten?
Mitte-links. Eigentlich CVP, aber in sozialen und Umwelt­fragen bin ich bei der SP. Sicherheit und Beständigkeit sind mir wichtig, deshalb stimme ich im Zweifel konservativ – zum Beispiel beim Verhüllungs­verbot. Aber damit ich mich wirklich sicher fühlen kann, brauche ich auch soziale Sicherheit und Umwelt­sicherheit.

Warum ist dir Sicherheit so wichtig?
Das hängt mit meinem Autismus zusammen. Ich kann nicht so gut filtern wie andere Menschen, neue, ungewohnte Situationen fordern mich stark heraus, bringen mich an meine Grenzen. Das heisst, ich habe schon viel Unsicherheit in mir drin, und umso wichtiger ist es mir, da draussen Stabilität zu haben.

Was machst du, wenn du dir bei einer Abstimmung unsicher bist?
Ich gehe entspannt an die Sache heran. Ich lese das Abstimmungs­büchlein, aber das verstehe ich nicht immer. Das ist verbesserungs­würdig. Wenn ich es nicht verstehe, frage ich die Eltern, oder ich schaue SRF oder lese die «Südostschweiz». Wenn ich zu keinem Schluss komme, gebe ich manchmal auch leer ein, zum Beispiel bei Gemeinde­abstimmungen. Aber das ist selten.

Kannst du ein Beispiel machen, was du dir zu den Vorlagen vom 7. März überlegt hast?
Bei der E-ID war ich am Anfang sehr unsicher. Erst mal musste ich in Erfahrung bringen, um was es da wirklich geht. Ich habe mich in den Medien informiert und mit den Eltern darüber geredet. Vater war dafür, Mutter war dagegen. Ich bin dann zum Schluss gekommen, dass es ein zu grosses Risiko ist, sensible, persönliche Daten in die Hände von privaten Firmen zu geben – auch wenn Digitalisierung an sich nicht schlecht ist und eine E-ID Annehmlichkeiten mit sich bringen würde.

Wenn Papa Ja gestimmt hat und du Nein, heben sich eure Stimmen auf, dann hättet ihr beide es auch sein lassen können, oder?
Nein. Je mehr abstimmen, desto stabiler ist die Demokratie.

Ich stelle dir heute dumme Fragen, nicht wahr?
Ja, aber ich verstehe schon, warum du das musst.

Warum, glaubst du, muss ich das?
Wegen des Zwischen­menschlichen. Sie wissen nicht, wie es ist, atypisch zu sein; sie können sich nicht vorstellen, wie mein Verstand funktioniert.

Wen meinst du, wenn du «sie» sagst?
Die Gesellschaft.

Fühlst du dich nicht als Teil der Gesellschaft?
Ich fühle mich wie eine Halbinsel. Ich spüre eine Verbindung, aber manchmal liegt ein Ozean dazwischen.

«Farben lösen etwas in mir aus …
… und mit jeder neuen Farbkombination lässt sich etwas anderes erzählen»: Manuel Conzett.

Wann liegt ein Ozean dazwischen?
Ich weiss … mir ist bewusst … Man sieht mir an, dass ich anders bin. Ich weiss, wie merkwürdig ich auf andere Menschen wirke. Ich spüre die Blicke. Und ich weiss, dass es Menschen gibt, die mich ablehnen, weil sie mich nicht verstehen. Aber es gibt auch Menschen, die sind mir wohlgesinnt. Manchmal ist es einfach schwierig für mich, abzuschätzen, wer auf welcher Seite steht.

An dieser Stelle ist es wichtig, etwas klarzustellen: Dieses Gespräch, das sich hier hoffentlich kompakt und flüssig liest, haben wir über zwei Tage verteilt in kleinen Portionen geführt. Die Situation ist ungewohnt und deshalb anstrengend für Manuel.

Immer dann, wenn ihn eine Frage zu sehr aufwühlt, er gerade lieber einem anderen Gedanken nachgehen möchte, seine Konzentration nachlässt und seine Antworten nicht mehr so perfekt sind, wie er das von sich erwartet, oder er schlicht keine Lust mehr hat, dumme Fragen zu beantworten, gibt er mir das zu verstehen.

Zum Beispiel, indem er meinen Blick nicht mehr erwidert, zu schnauben beginnt, weil ihm dieses eine Wort nicht einfällt, oder indem er an den Rand des Stuhles rückt, mit dem Ober­körper zu wippen beginnt und die Hände aneinanderreibt, als versuche er aus seiner Haut zu schlüpfen. Dann unterbrechen wir, und er geht eine Weile auf und ab, spielt ein bisschen am Computer oder hält mir einen 15-minütigen Vortrag über sein neuestes Stecken­pferd, die Geologie – genauer gesagt: darüber, wie sich Molasse bildet.

Wenn wir dann nach einiger Zeit zum Gespräch zurück­kehren, kommen seine Antworten wieder wie Geschosse aus einer Pistole.

Etwa auf diese Frage:

Manuel, die Politik gestaltet das Zusammen­leben der Menschen. Wie lebst du mit anderen Menschen zusammen?
Ich führe Beziehungen zu anderen Menschen, ich werde besser darin, aber soziale Inter­aktionen fallen mir nicht leicht. Ich brauche viel Distanz. Ihr habt einfach so viele Emotionen. Ich kapiere schon, wenn ihr traurig seid oder wütend oder glücklich. Aber ich kann nicht nachvollziehen, warum. Eure Emotionen bedrängen mich, sie sind laut und grell und unordentlich.

Wie fühlt sich das an?
Es ist so, als würdest du in einen Raum voller Menschen laufen und die Gedanken von allen Menschen in diesem Raum gleichzeitig hören.

Fällt es dir auch schwer, deine eigenen Emotionen zu verstehen?
Ja. Zum Beispiel, wenn ich wütend bin. Ich weiss, ich bereue es nachher, dass ich wütend geworden bin, trotzdem werde ich wütend. (Er schlägt sich mit dem Handballen leicht gegen die Stirn.) Das ist doch nicht logisch!

Wärst du manchmal lieber anders, als du bist?
Ich würde manchmal gerne mehr Einfluss auf die Welt nehmen können, um sie zu verbessern. Aber ich habe zu grosse Defizite im praktischen Denken und zu wenig soziale Kompetenz, um ein Studium zu machen oder in die Politik zu gehen.

Frustriert dich das?
Früher. Heute nicht mehr. Was mich heute frustriert, ist, dass die Welt nicht ein besserer Ort ist. Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre der Präsident der USA.

Für was würdest du dich einsetzen, wenn du der Präsident der USA wärst?
Dass niemand mehr zu kurz kommt.

Wann bist du gerne so, wie du bist?
Ach, eigentlich die meiste Zeit. Am liebsten, wenn ich puzzle, zusammen­baue oder ein Buch über etwas lese, das mich interessiert. Oder wenn ich in den Wald gehe. Dann blende ich alles andere aus. Dann bin ich im Moment, dann bin ich nur mich selbst, dann verschwindet die Unsicherheit.

Was machst du im Wald?
Gedanken nachgehen. Und ich sehe die Farben der Natur im Licht an.

Du siehst dir Farben an?
Ja. Farben lösen etwas in mir aus. Es gibt Grüntöne, die machen mich nachdenklich und schwermütig. Gelbtöne können fröhlich sein, aber auch unruhig und aufdringlich. Jede Farbe erzählt etwas anderes. Und mit jeder neuen Farb­kombination lässt sich etwas anderes erzählen.

Hast du darum als Kind so viel gemalt?
Vor allem, als ich noch nicht gesprochen habe, ja.

Warum vor allem dann?
Bevor ich gesprochen habe, habe ich versucht, durch Farb­kombinationen und geometrische Formen mit euch zu kommunizieren. Das hat für mich mehr Sinn gemacht, als zu sprechen. Irgendwann habe ich realisiert, dass ihr Farben anders seht als ich und dass es für euch schwieriger ist, meine Sprache zu lernen, als für mich eure. Ich musste also sprechen, zwangsläufig. Aber nicht Schweizer­deutsch, Schweizer­deutsch ist keine gute Sprache. Hochdeutsch ist viel schöner und hat viel klarere Regeln.

Das war wohl dein erster demokratischer Kompromiss.
Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Vielleicht ja, vielleicht nein.

Eine letzte Frage: Dieses Interview hat dich aus deiner Routine gerissen. Ich habe dir mühsame Fragen gestellt, du musstest dich fotografieren lassen, was du hasst – es war unbequem für dich. Warum hast du dich trotzdem dafür entschieden?
Also einerseits, weil ich einfach gerne meine Meinung äussere.
Andrerseits: Es gibt immer noch viele Menschen in der Schweiz, die das Stimm­recht nicht haben, einfach weil sie nicht neurotypisch sind. Das ist nicht richtig. Das muss korrigiert werden.