No Covid oder: Wozu eigentlich noch länger im Shutdown bleiben?
Im Streit um Restaurant- und Ladenöffnungen geht eines unter: Die Schweiz hat keine Strategie, um mit dem Virus umzugehen.
Von Simon Schmid, 22.02.2021
Strategie, die (Substantiv, feminin)
genauer Plan des eigenen Vorgehens, der dazu dient, ein militärisches, politisches, psychologisches, wirtschaftliches o. ä. Ziel zu erreichen, und in dem man diejenigen Faktoren, die in die eigene Aktion hineinspielen könnten, von vornherein einzukalkulieren versucht
Die langen Abende daheim vor dem Fernseher, die eintönige Arbeit, die berufliche Ungewissheit, die dauernde Angst vor einer Ansteckung – und dass man einfach nirgends mehr Dampf ablassen kann: All das schlägt auf die Seele. Es macht viele von uns erschöpft, ausgelaugt, gestresst.
Wo wir stehen
Wie lange müssen wir die mühseligen Einschränkungen noch aushalten?
Die Antwort darauf hat der Bundesrat am vergangenen Mittwoch angedeutet: Vermutlich noch eine ganze Weile. Mindestens einen Monat dauert es nach seinem Willen noch, bis beispielsweise Restaurants wieder Gäste empfangen dürfen.
Einer der Gründe dafür ist: Die Pandemie als solche ist unberechenbar. Die neuen Virusvarianten aus Grossbritannien, Südafrika und Brasilien sind mit ziemlicher Sicherheit ansteckender als der bisherige Typ. Das bedeutet, dass die Fallzahlenkurve auch bei unveränderten Massnahmen bald wieder ansteigen kann. Absolut sicher ist dies aber nicht – wir müssen abwarten.
@Francis_Aln It is a matter of time 🇨🇭
At the moment #COVID19 cases📉because #variants are minority (just) and control measures strong enough (just) (R 0.8-0-9)
But📉slowing because #variants spreading
With majority variants cases📈because same control measures not strong enough (1/n) pbs.twimg.com/media/EuHcFRlXUAEcxDP.png
Zudem ist die Politik zum wiederholten Mal im Dilemma: Gewerbeverbände und Kantone verlangen Lockerungen. Die meisten Epidemiologen warnen dagegen vor einer raschen Öffnung. Wie schnell geht der Bundesrat voran?
Dass wir vor jeder Pressekonferenz aufs Neue wieder im Dunkeln tappen, nicht wissen, ob die nächsten Schritte gemacht werden können, hat nebst dem offensichtlichen auch einen tieferen Grund: Es liegt daran, dass die Regierung nie klar formuliert hat, welche Ziele sie eigentlich verfolgen will.
Es gibt keine Meilensteine, die mit den Massnahmen erreicht werden sollen. Und – abgesehen von einigen technischen Parametern – kaum allgemein verständliche und klar kommunizierte Kriterien, die uns sagen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. (Wir erinnern uns: In dieser Krise ist Kommunikation kein Detail. Sie ist matchentscheidend.)
Wir sind orientierungslos, weil die Covid-Strategie unklar ist.
Eine Typologie
Doch was ist das überhaupt, eine Pandemiestrategie?
Wissenschaftler unterscheiden fünf mögliche Herangehensweisen:
1. Durchseuchung. Ein Land ergreift keine Schutzmassnahmen und lässt dem Krankheitserreger freien Lauf. Es nimmt viele Tote in Kauf. Ziel dieser Strategie ist, die Dauer der Pandemie kurz zu halten. Erfahrungsgemäss lässt sich diese Strategie nicht aufrechterhalten, sie mündet in Strategie Nr. 2.
2. Schadensminderung. Hier lautet das Ziel, eine Überlastung der Spitäler zu verhindern. Es werden gerade so viele Massnahmen ergriffen, dass dies nicht passiert. Erfahrungsgemäss verfehlen Länder auch dieses Ziel. Es kommt zu wellenartigen Hochs und Tiefs, wiederkehrende Lockdowns werden nötig. Viele westliche Länder haben implizit oder explizit diese Strategie verfolgt.
3. Unterdrückung. Ziel dieser Strategie ist, die Infektions- und Todeszahlen dauerhaft auf einem Niveau zu halten, das von der Gesamtgesellschaft als vertretbar empfunden wird – wobei die wirtschaftlichen Interessen mit der Gesundheit ausbalanciert werden. Es braucht einen Mix aus mittelharten bis harten Massnahmen, der über einen langen Zeitraum aufrechterhalten wird.
4. Eliminierung. Die Verbreitung des Virus soll nicht gebremst, sondern ganz gestoppt werden. Dazu braucht es anfänglich einen sehr strikten Lockdown, um die Fallzahlen in die Nähe von null zu drücken. Danach sind weitgehende Lockerungen möglich. Länder wie Japan, China, Neuseeland, Australien oder Finnland haben diese Strategie kurz nach Pandemieausbruch beschlossen.
5. Exklusion. Man versucht, das Virus niemals ins Land zu lassen. Diese Strategie kommt für kleine Inseln infrage, zum Beispiel im Pazifik. Sobald die ersten Fälle auftauchen, ist die Strategie obsolet, weil identisch mit Nr. 4.
Welche dieser Strategien ist die beste?
Die Bilanz
Nach einem Jahr Pandemie ist die Antwort ziemlich klar: Eliminierung.
Länder, die mit Strategie Nr. 4 gefahren sind, haben in schwierigen Zeiten das Optimum herausgeholt. Zum Beispiel Neuseeland, Japan und Südkorea: Weniger als 10 von 100’000 Einwohnern sind im Verlauf der vergangenen zwölf Monate in diesen Ländern an oder mit Covid-19 gestorben.
Ganz anders sieht dies in Ländern wie der Schweiz oder Schweden aus. Hier sind über 100 von 100’000 Einwohnerinnen dem Virus zum Opfer gefallen.
Natürlich sind die Sterbezahlen nicht das einzige Kriterium. Relevant sind diverse Bereiche. Häufig genannt wird zum Beispiel die Wirtschaft: Was nützen tiefe Opferzahlen, wenn es dafür eine heftige Rezession gibt – die ihrerseits finanzielle Schäden und menschliches Leid mit sich bringt?
Nun, die Erfahrung deutet hier in die entgegengesetzte Richtung. Länder, die wenig Opfer beklagten, schlugen sich häufig auch wirtschaftlich gut durch. Bestenfalls könnte man sagen: Der Zusammenhang ist wacklig. Länder wie die Schweiz oder Schweden schnitten deutlich schlechter ab als Südkorea. Japan liegt gleichauf, in Neuseeland fiel die Rezession etwas stärker aus.
Interessant sind zwei skandinavische Länder: Finnland und Norwegen.
Anders als das Nachbarland Schweden, über das in hiesigen Medien ausgiebig diskutiert wurde, gingen sie entschlossen gegen das Coronavirus vor: mit frühen Lockdowns, stringentem Testing, Tracing und Quarantäne – und, vor allem, mit klarer Kommunikation. «Wir wollen nicht, dass sich das Virus verbreitet», sagte die finnische Premierministerin Sanna Marin im vergangenen Mai.
Das hat gut funktioniert.
In Finnland sind nur gerade 700 Personen an oder mit Covid-19 gestorben. Und anders als in Zürich, Bern oder Genf blieben Restaurants in Helsinki auch im tiefsten Winter geöffnet. Strategie Nr. 4 hat sich offensichtlich besser bewährt als die Strategie, welche die Schweiz in der Pandemie gewählt hat.
Doch: Welche Strategie fährt die Schweiz überhaupt?
Der Schweizer Weg
Dies ist auch nach einem Jahr Corona-Pandemie nicht so klar.
Vielleicht ist es Nr. 2 – Schadensminderung.
Darauf deuten Aussagen von Gesundheitsminister Alain Berset hin. Ziel des Bundesrats sei, «Leid zu vermindern, wo immer das möglich ist», sagte der Innenminister vergangene Woche. Die Regierung wolle einen Weg finden, um «die Überlastung des Gesundheitswesens» und «den Jo-Jo-Effekt» zu verhindern.
Doch es könnte auch Nr. 3 sein – Unterdrückung.
Auch dafür gibt es Andeutungen. Man müsse eine «Balance finden» zwischen verschiedenen Interessen, sagte Berset an gleicher Stelle. Mit den angekündigten Lockerungen wolle man ein «kalkuliertes Risiko» eingehen.
Was diese Aussagen bedeuten, bleibt allerdings vage.
Das Stufenmodell
«Strategische Grundlagen der GDK und des EDI-BAG»
So heisst das grundsätzlichste Dokument zur Pandemiebekämpfung, das Bund und Kantone im Web publiziert haben – am 22. Oktober 2020.
Oberstes Ziel der Behörden, so steht da, sei es, «menschliche Opfer (schwere Krankheitsfälle und Todesfälle) zu verhindern und den wirtschaftlichen Schaden tief zu halten». Und weiter: Man wolle «die Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz schützen und die Auswirkungen des Ausbruchs und der Verbreitung von SARS-CoV-2, so weit als möglich, minimieren».
Was es konkret bedeuten würde, die Auswirkungen des Virus «so weit als möglich» zu minimieren, oder wie der angenommene Trade-off zwischen Wirtschaft und Gesundheit genau ausgefochten wird, steht aber auch hier nicht.
Dafür betonen die Behörden einen anderen Punkt: Sie wollen eine zweite Welle, eine «Einschränkung des öffentlichen Lebens», wie es sie im Frühjahr 2020 gab, verhindern (was dann nicht gelang).
Es folgt die Beschreibung eines 3-Stufen-Modells.
Stufe I: stabile Fallzahlen
Stufe II: regional oder schweizweit starker Anstieg
Stufe III: Anstieg nicht unter Kontrolle
Das Modell legt fest, was in jeder Stufe geschehen soll.
In Stufe I: Übergang in Stufe II verhindern (plus einige gut gemeinte Massnahmen unter Federführung der Kantone)
In Stufe II: Übergang in Stufe III verhindern (plus weitere Massnahmen der Kantone)
In Stufe III: keine neuen Ziele oder Massnahmen (ausser dass der Bund jetzt das Kommando übernimmt)
Bemerkenswert ist, dass nirgends im Papier Schwellenwerte stehen. Wann ist Stufe II erreicht, wann Stufe III? (Wie es kam, dass dieses Papier keine klaren quantitativen Angaben erhält, obwohl damals schon seit Monaten Vorschläge zirkulierten, hat die Republik in der Recherche «Wie die Schweiz in die zweite Welle schlitterte» aufgearbeitet.)
Bemerkenswert ist auch, dass zu keinem Zeitpunkt ein Rückgang auf eine niedrigere Stufe angestrebt wird (zum Beispiel von Stufe II auf Stufe I, was eigentlich ein naheliegendes Ziel wäre).
Doch genau in dieser Situation steckt die Schweiz aktuell. Die Pandemie ist unter Kontrolle – die Fallzahlen sinken zwar stetig, doch sie bewegen sich noch immer im Bereich von gut 1000 Ansteckungen pro Tag.
Wo liegt das nächste Ziel?
Bei 500, so wie im Herbst, vor Ausbruch der zweiten Welle?
Unter 100, so wie im Frühsommer, nach dem Ende der ersten Welle?
Oder gibt es gar keine Bestrebungen, die Zahlen weiter zu senken?
Auf diese Frage, die für das weitere Eskalationspotenzial der Pandemie in der Schweiz ziemlich entscheidend ist, gibt die Regierung weder in Strategiepapieren noch an ihren Pressekonferenzen eine Antwort.
No Covid
Praktisch alle europäischen Länder haben dieses Problem.
In Deutschland hat sich deshalb eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen formiert. Sie macht sich für Strategie Nr. 4 stark: No Covid. Staaten (oder auch einzelne Regionen) sollen das Coronavirus vollständig eliminieren. Den Forschern angeschlossen hat sich das einflussreiche Ifo-Wirtschaftsinstitut in München, und auch Bayerns Ministerpräsident favorisiert No Covid.
Zwei Mitglieder der No-Covid-Gruppe nehmen über Videochat Stellung: die Gesundheitsexpertin Ilona Kickbusch und der Physiker Matthias Schneider.
Warum empfehlen Sie No Covid?
Zunächst einmal wegen der Gesundheit: Es gibt weniger Long-Covid-Fälle, und die Wahrscheinlichkeit neuer Mutationen sinkt. Aber auch aus praktischen Gründen: weil es der beste Weg ist, um ein normales Leben zurückzugewinnen. Wenn wir die Fallzahlen radikal senken, besteht die Chance, dass wir einen relativ unbeschwerten Sommer erleben – mit Open Airs und allem, was dazugehört. Schaffen wir das nicht, müssen wir viele Restriktionen aufrechterhalten. Dann droht ein Lockdown ohne Ende.
Kann auch die Schweiz No Covid umsetzen?
Jedes Land, das sich überlegt, wie es die Pandemie in den Griff kriegen soll, kann sich an No Covid orientieren. Auch einzelne Bundesländer oder Kantone können dies tun. Je mehr Regionen mitmachen, desto besser. So entsteht auch ein Wettbewerb: Jeder versucht, es möglichst gut zu machen.
Was müssen die einzelnen Regionen tun?
Das wichtigste Ziel ist, dass es innerhalb einer geografischen Region gar keine Ansteckungen mehr gibt. Das gelingt dann am besten, wenn das Virus in der lokalen Bevölkerung überhaupt nicht mehr zirkuliert. Zudem muss man das Risiko minimieren, dass Personen das Virus von ausserhalb hineintragen.
Müsste die Schweiz dazu ihre Grenzen dichtmachen?
Nein. Der Berufsverkehr könnte weiterhin stattfinden. Aber unter intensiver Beobachtung: Pendler könnten an ihren Arbeitsorten zum Beispiel täglich getestet werden. Sobald auch die Region auf der anderen Seite der Grenze zu einer grünen Zone geworden ist, also coronafrei, könnte man auch den Einkaufs- und Freizeitverkehr wieder ohne Einschränkungen zulassen.
Wie wird man zur grünen Zone?
Im Optimalfall: mit einem kurzen, aber harten Lockdown. Rein theoretisch genügt es, wenn alle Leute zwei Wochen lang konsequent zu Hause bleiben. Mit einem weniger harten Lockdown geht es entsprechend länger. Doch das ist auch in Ordnung – wichtig ist, dass man sehr niedrige Fallzahlen erreicht.
Und wie bleibt man eine grüne Zone?
Indem man einerseits die gängigen Massnahmen sehr professionell umsetzt: Testing, Contact-Tracing, Isolation, Quarantäne. Es braucht etwa spezielle Hotels, in denen Einreisende untergebracht sind. Andererseits mit raschem Eingreifen: Taucht ein Infektionsherd auf, braucht es sogenannte Circuit-Breaker. Also Mini-Lockdowns, um die Infektionsketten zu unterbrechen.
Null Ansteckungen, grüne Zonen, Circuit-Breaker – kann das funktionieren?
Game, Set, Circuit-Breaker
Melbourne, Bundesstaat Victoria, Australien.
Hier ging soeben das Australian-Open-Tennisturnier zu Ende. Hier zeigt sich anschaulich, was eine Strategie à la No Covid in der Praxis tatsächlich bedeutet.
Bis vor einer Woche war Australien praktisch virusfrei. Die anreisenden Tennisstars wurden in Quarantänehotels gesteckt, damit der Event reibungslos stattfinden kann – mit bis zu 30’000 Zuschauerinnen pro Tag.
Dann kam es in einem Hotel nahe des Flughafens zu einem Ausbruch. Die britische Virusvariante wurde entdeckt, was einen Circuit-Breaker nach sich zog. Novak Djoković und Co. spielten fünf Tage lang vor leeren Rängen.
Am vergangenen Mittwoch kam dann die Entwarnung; um 23.59 Uhr Ortszeit war der Lockdown zu Ende. Der Ticketverkauf wurde wieder aufgenommen, Fans konnten die Halbfinal- und Finalspiele live verfolgen.
Diese Strategie fährt Australien nun schon seit knapp einem Jahr.
Die Bilanz: 29’000 Fälle, 900 Tote – rund zwanzig- beziehungsweise zehnmal weniger als in der Schweiz. Und das bei dreimal so vielen Einwohnerinnen.
Die Taskforce
Auch die Schweiz hätte einen solchen Weg einschlagen können. Wenn sie denn auf die wissenschaftliche Taskforce gehört hätte, die den Bund berät.
So ist ein Policy Brief betitelt, das die Taskforce am 26. Mai 2020 herausgab. Darin beschreibt sie, welche Herangehensweise sie für die optimale hält.
Die Taskforce schreibt:
Wir müssen die Fallzahlen jederzeit tief halten.
Und weiter:
Wir müssen eine solche Situation [einen exponentiellen Anstieg] verhindern und die Infektionen unter einem gewissen Schwellenwert halten.
Und:
Gezielte Massnahmen sind im Allgemeinen weniger teuer als allgemeine Massnahmen, besonders wenn die Fallzahlen tief sind.
Und:
Leute in Quarantäne und Isolation müssen rechtlich und sozial geschützt sein.
Und schliesslich:
Eine klare und evidenzbasierte Kommunikationsstrategie ist essenziell.
Zwar fehlen auch in diesem Dokument die exakten Schwellenwerte. Es fehlt die explizite Idee der grünen Zonen, und es fehlt die ultimative Forderung, die lokal verursachten Ansteckungen auf null zu senken.
Doch im Wesentlichen hat die Taskforce dem Bundesrat schon im vergangenen Frühjahr eine No-Covid-ähnliche Strategie vorgeschlagen.
So etwas zwischen Nr. 3 und Nr. 4 könnte man sagen.
Der Bundesrat hat sie ignoriert, ganz ähnlich wie er vergangenen Sommer auch die Empfehlungen seiner eigenen Verwaltung in den Wind schlug.
Was Epidemiologen sagen
Was den Schwellenwert betrifft, schlägt die No-Covid-Gruppe nun eine präzise Zahl vor: 10 Ansteckungen pro Woche und 100’000 Einwohnerinnen. Umgerechnet auf die Schweiz wären dies gut 100 Ansteckungen pro Tag.
Erreicht eine Region diesen Wert, kann sie zur grünen Zone werden und ihre Restriktionen schrittweise lockern, bis sie praktisch ganz aufgehoben sind.
Einige Schweizer Wissenschaftlerinnen haben diesem Konzept bereits eine Absage erteilt. Zum Beispiel der Basler Infektiologe Manuel Battegay im «Blick»: Die hiesige Bevölkerung würde diese Strategie nicht mittragen, argumentiert er.
Auch Bundesrat Alain Berset sagte: «Wir haben nie eine Null-Fall-Politik versucht. Das wäre unmöglich, denn die Schweiz ist keine Insel.»
Und für die wütenden Beizer kommt No Covid sowieso nicht infrage.
Andere zeigen mehr Wohlwollen, heben die positiven Punkte hervor.
Zum Beispiel den Schwellenwert: Tägliche Fallzahlen im zweistelligen Bereich, wie im letzten Mai und Juni, das sei sowieso ein sinnvolles Ziel, sagt Christian Althaus, Epidemiologe an der Universität Bern. «Dann lässt sich ein sehr intensives Contact-Tracing betreiben. Zudem hilft bei diesem niedrigen Niveau auch der Zufall, sodass die Epidemie in einzelnen Regionen gänzlich zum Verschwinden gebracht werden kann.»
Oder die Motivation: Die Hoffnung, dank sehr tiefen Fallzahlen bald wieder ein normales Leben führen zu können, würde Menschen helfen, die jetzigen Massnahmen durchzustehen, sagt Emma Hodcroft, Epidemiologin an der Universität Basel. «Ohne diese Aussicht könnte der Eindruck entstehen, dass der Lockdown überhaupt nichts nützt.»
Und last, but not least, der Handlungsdruck, den ein ambitioniertes Ziel bei der Umsetzung der Massnahmen erzeugt. Beim Testing und Tracing, beim Isolieren und bei der Quarantäne seien zwar schon viele Fortschritte gemacht worden, sagt Daniel E. Speiser, Immunologe an der Universität Lausanne. «Doch in all diesen Bereichen sind noch grössere Efforts nötig.»
Ob sich ein No-Covid-artiger Plan lohnt, ist auch eine Frage des Timings. Ein Spurt wäre angesagt: Die Schweiz müsste die Fallzahlen in wenigen Wochen um den Faktor zehn senken. Ob sich das lohnt? Wer weiss: Vielleicht, mit etwas Glück, gehen die Zahlen im Sommer von selbst zurück.
Und parallel dazu kommt die Impfkampagne auf Touren. Im Verlauf des Herbstes dürften voraussichtlich genug Dosen verabreicht sein, damit ein Grossteil der Bevölkerung vor schlimmen Krankheitsverläufen geschützt ist. So könnte Corona schliesslich bis Ende Jahr seinen Schrecken verlieren.
Was tun wir bis dahin? Einfach nur abwarten – oder handeln?
Ausblick
Manche von uns haben ihre Eltern seit fast einem Jahr nicht mehr umarmt. Manche haben gern viele Freunde im Haus. Manche würden gerne reisen. Manche fürchten um ihren Job. Manche sind in der Reha wegen Long Covid.
Manche schmieden bereits Pläne für den Frühling und Sommer. Manche stellen sich mental darauf ein, dass die Gefahr noch länger andauert.
Klar ist: Alle wünschen sich eine Perspektive.
Doch der Bundesrat bleibt vage. Am Mittwoch entscheidet er, was im März passiert. Ende März, was im April, und Ende April, was im Mai passiert. Dabei gehe es immer darum, so Alain Berset, «das Optimum zu suchen».
Nur – wo liegt dieses Optimum?