Welche Krise hätten Sie denn gerne?
Schulen schliessen, Homeoffice vorschreiben, Besucherzahlen von Anlässen begrenzen: Schützen die Behörden in der Corona-Pandemie die Gesundheit auf Kosten der Wirtschaft? Warum das wohl zu simpel ist – eine Annäherung in vier Grafiken.
Von Simon Schmid, 28.09.2020
Die Idee, dass es keinen Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gesundheit gebe, sei inzwischen völliger Mainstream, erzählte mir ein Ökonomen-Kollege kürzlich an einem Apéro, zu dem ein Thinktank eingeladen hatte.
«Wirklich?», dachte ich, das Kichererbsengericht löffelnd, das an diesem Abend coronagerecht in verschliessbaren Plastikboxen serviert wurde. Bei den heftigen Debatten rund um Corona wäre mir das nicht aufgefallen.
Denn Vertreterinnen der Wirtschaft werden nicht müde, die Corona-Massnahmen zu kritisieren. Just vor wenigen Tagen forderte der Gewerbeverband etwa, die Masken- und Quarantänevorschriften seien zu lockern – der Wirtschaft zuliebe, denn diese dürfe man nicht «um jeden Preis an die Wand fahren».
Viele Massnahmengegner scheinen überhaupt nicht davon überzeugt, dass das, was gut für die Volksgesundheit ist, auch gut für die Volkswirtschaft wäre.
Doch siehe da: Die wissenschaftliche Covid-19-Taskforce des Bundes hat bereits im August ein «Policy Brief» zu diesem Thema publiziert – und im September nachgedoppelt. Und wenn diese Autorität konstatiert, dass der Schutz von Wirtschaft und Gesundheit tatsächlich ein und dasselbe Anliegen seien, dann muss das wohl wirklich Mainstream sein.
Aber stimmt es auch?
Länder im Quervergleich
Die Taskforce zeigt in einem ihrer Papiere einen einfachen Chart. Darauf sieht man Länder, die sich tendenziell entlang einer Diagonale gruppieren:
Am einen Ende (links oben) befinden sich Länder wie Spanien. Dort zählt man bisher viele Corona-Tote, und der Wirtschaftseinbruch ist gross.
Am anderen Ende (rechts unten) findet man Länder wie Südkorea. Dort starben nur wenige Menschen, und die Wirtschaft nahm kaum Schaden.
Der Datenblog «Our World in Data» hat denselben Chart kürzlich ebenfalls diskutiert. Hier ist er, nachgebaut für die Gesamtheit aller OECD-Länder:
Der wichtigste Befund, den die Wissenschaftler daraus ziehen, ist folgender: Anders, als man vielleicht glauben mag, ist es nicht der Fall, dass sich Länder nach dem Motto entscheiden müssen: Entweder man schützt die Wirtschaft (aber nimmt dafür etwas mehr Tote in Kauf), oder man schützt die Gesundheit (aber nimmt dafür einen härteren Wirtschaftseinbruch in Kauf).
Nein: Man kann beides gleichzeitig machen. Es ist sogar so, dass Ländern typischerweise beides zusammen entweder gut oder schlecht gelungen ist:
Je mehr Corona-Tote es in einem Land gab, desto heftiger war meistens auch der Wirtschaftseinbruch.
Je weniger Tote es gab, desto besser lief es für die Wirtschaft.
Länder, die einen sehr harten Wirtschaftseinbruch hatten, aber sehr wenig Corona-Tote (links unten auf der Grafik), gab es dagegen fast nicht. Länder mit vielen Corona-Toten und intakter Wirtschaft (rechts oben) auch nicht.
Zumindest auf einer globalen Ebene ist der Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gesundheit damit vom Tisch – es gibt ihn tatsächlich nicht. Allerdings sagt das allein wenig darüber aus, wie der Trade-off in einem bestimmten Land zu einem spezifischen Zeitpunkt aussieht. Gibt es ihn wirklich nicht?
Korrelation und Kausalität
Zuerst ein kleiner Exkurs. Man muss allgemein höllisch aufpassen, welche Schlüsse man aus Grafiken zieht. Besonders aus Scatterplot-Grafiken wie der eben gezeigten: Bloss weil man weiss, wie zwei Variablen zusammenhängen, weiss man noch lange nichts darüber, welche Gründe hinter diesem Zusammenhang stehen. Korrelation ist nicht gleich Kausalität: Das steht in jedem Lehrbuch der Statistik.
Dass die wirtschaftliche und die gesundheitliche Corona-Bilanz auf der Grafik in einer Linie stehen, könnte rein von der Logik her an drei Ursachen liegen:
Die Gesundheit beeinflusst die Wirtschaft (dort, wo die Pandemie besonders heftig ist, geben Menschen besonders wenig Geld aus).
Die Wirtschaft beeinflusst die Gesundheit (in Ländern mit grosser Wirtschaftsnot gehen die Menschen mehr gesundheitliche Risiken ein).
Es gibt weitere Faktoren, die beide Variablen zugleich beeinflussen (zum Beispiel politische Massnahmen oder einfach auch der Zufall).
Welche der Hypothesen zutrifft, können wir a priori nicht wissen. Wir können nur mutmassen, welche Effekte tatsächlich am Werk sind.
Würden wir damit beginnen, diese Effekte ernsthaft zu modellieren, sähe es noch viel komplizierter aus. Wir müssten etwa Folgendes in Betracht ziehen:
Shutdown-Effekt: Harte Massnahmen bremsen die Pandemie – aber sie dämpfen auch die Wirtschaft. Je nachdem, wie hart die Politik durchgreift, erzwingt sie kurzfristig eine Wirkung in beiden Bereichen.
Verhaltenseffekt: Je weniger Corona-Fälle es gibt, desto risikofreudiger werden die Menschen. Sie gehen öfter auswärts essen, machen sich weniger Sorgen, tätigen mehr Ausgaben. Dieser Effekt läuft gegenüber dem Shutdown-Effekt in entgegengesetzter Richtung.
Eigendynamik der Epidemie: Je weiter sich das Virus verbreitet, desto härter müssen die Massnahmen werden, um allein schon den Status quo bei den Ansteckungen zu bewahren. Und desto mehr leidet auch die Wirtschaft. Dieser Effekt verstärkt tendenziell die Opferzahlen.
Art der Massnahmen: «Zu Hause bleiben» schützt sehr effektiv vor dem Coronavirus. Doch es schadet der Wirtschaft sehr. «Eine Maske anziehen» schützt ebenfalls ziemlich effektiv vor einer Ansteckung. Aber es erlaubt, zur Arbeit zu gehen oder Geld für Shopping auszugeben. Die Art der Massnahmen beeinflusst also beides: Wirtschaft und Gesundheit.
Zufall: Dass sich das Virus von China her zuerst in Italien verbreitete, war Pech für das südeuropäische Land. So startete es aus einer schlechten Position. Mit negativen Folgen für die Wirtschaft und für die Gesundheit.
Und so weiter.
All diese Effekte zu untersuchen, wäre ein Forschungsprojekt für sich – und liegt weit ausserhalb der Möglichkeiten dieses Datenbriefings. Doch es gibt einen Datensatz, mit dem wir in eine kleine Ecke des grossen Forschungsraums rund um Corona-Trade-offs etwas Licht werfen können.
Der Strenge-Index
Der Datensatz stammt von der Universität Oxford. Forscherinnen an der dortigen Blavatnik School of Government haben seit Beginn der Pandemie minutiös zusammengetragen, welche Massnahmen die Länder beschlossen haben:
Massnahmen im Gesundheitsbereich (z. B. Testing);
wirtschaftliche Massnahmen (z. B. Einfrieren von Konkursverfahren);
epidemiologische Massnahmen (z. B. Quarantäne für Flugpassagiere).
Jede Massnahme wurde von den Forscherinnen einzeln codiert. Aus den Dutzenden von Einträgen wurde dann ein Index zwischen 0 und 100 berechnet – und zwar auf täglicher Basis und für jeden Teilbereich separat.
Uns interessiert der Teilindex, den die Oxford-Forscherinnen stringency nennen. Für unsere Begriffe lässt sich das am ehesten als «Strenge» übersetzen. Man würde erwarten, dass ein Strenge-Index irgendwie mit dem Pandemieverlauf zusammenhängt – je strenger die Massnahmen, desto weniger Todesopfer.
Doch dem ist nicht so. Zumindest nicht auf den ersten Blick.
Ob ein Land im Verlauf des ersten Halbjahres 2020 lasch oder streng war, hat überhaupt keine Vorhersagekraft für die Corona-Todeszahlen. Man erkennt das, wenn man die Länder auf einem ähnlichen Chart wie oben platziert.
Je weiter rechts, desto strenger war ein Land.
Je weiter oben, desto mehr Todesopfer gab es.
Hier ist der Chart (und weil es unser eigener ist, ist er diesmal bunt: Die Länder sind je nach Kontinent koloriert):
Ähnlich ist es mit der Wirtschaft: Auch hier gibt es nur ansatzweise einen Zusammenhang mit der Massnahmenstrenge. Die Strenge der Massnahmen – gemessen am Halbjahres-Mittelwert des Index – erklärt jedenfalls nicht den starken Einbruch, den Länder wie Frankreich oder Grossbritannien erlitten.
Es könnte daran liegen, dass die Massnahmenstrenge wirklich keinen Einfluss auf die Todesfälle und den Wirtschaftsgang hat. Dann wäre am Ende doch alles nur Zufall – und die Politik völlig machtlos, an welchem Ort auf der Gesundheits-Wirtschafts-Achse ein Land schliesslich landet. Diese Interpretation scheint einigermassen abenteuerlich.
Es könnte daran liegen, dass die Realität zu komplex ist, um in ein so simples Erklärungsmodell zu passen. Das würde bedeuten, dass die Massnahmenstrenge durchaus einen Einfluss auf die Todeszahlen und den Wirtschaftsgang hat – aber dass wir diesen Einfluss auf einem einfachen Scatterplot nicht darstellen können.
Es könnte daran liegen, dass unsere Vermutung im Grundsatz richtig ist, doch dass der Oxford-Index die falsche Methode ist, um die Strenge der Massnahmen zu messen. In diesem Fall wäre die Datenqualität das Hauptproblem, und wir müssten uns nach Alternativen umsehen.
Es könnte sein, dass die Datenqualität und auch der Erklärungsansatz stimmen, aber dass wir nicht genug clever mit den Daten verfahren sind.
Um dies auszuloten, werten wir den Datensatz nochmals leicht anders aus.
Das alles entscheidende Timing
Und zwar, indem wir die Strenge nicht im Durchschnitt übers erste Halbjahr messen, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt: dann, als in einem Land die Schwelle von 1 Todesfall pro Million Einwohner überschritten wurde.
In der Schweiz war dies am 13. März 2020. An diesem Tag sprang die Zahl der Corona-Todesopfer von 4 auf 11. Die Lage spitzte sich damals zu, und auf der Oxford-Skala registrierte die Schweiz 44 Strenge-Punkte.
Deutschland hat diese Schwelle am 21. März überschritten. Das Land landete auf dem Strenge-Index dann bereits bei 68 Punkten.
Grossbritannien hat die Schwelle am 17. März überschritten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Massnahmen aber nur 22 Punkte streng.
Wie sich diese Unterschiede in der Frühphase der Pandemie auswirkten, zeigt die folgende Grafik. Sie ist gleich aufgebaut wie die vorherige: Auf der horizontalen Achse ist der Strenge-Index zum erwähnten Zeitpunkt, auf der vertikalen Achse sind die gesamten Todesopfer im ersten Halbjahr 2020.
Anders als vorher ist auf dieser Grafik ein Zusammenhang erkennbar: Länder, die in einer frühen Phase strenge Massnahmen beschlossen, verzeichneten im Verlauf des ganzen Halbjahres typischerweise wenig Todesopfer. Länder mit anfänglich schwachen Massnahmen verzeichneten dagegen viele Tote.
Besonders deutlich wird dies, wenn man etwa die Länder in Europa oder in Amerika als Gruppe anschaut: Hier ist die Korrelation noch eindeutiger. (Man könnte versucht sein, asiatische Länder wie Japan oder Korea als Spezialfälle zu taxieren, da sie, anders als die westlichen Staaten, bereits sehr früh Masken einsetzten und auf umfangreiches Contact-Tracing setzten – das führte in diesen Ländern generell zu sehr niedrigen Opferzahlen.)
Auch bei der Wirtschaft zeigt sich eine ähnliche Korrelation. Je strenger ein Land in der Frühphase der Pandemie war, desto weniger drastisch war in aller Regel – und speziell in grösseren Ländern, wo der Zufall weniger hineinfunkt – der Einbruch. Das zeigt sich auf dem angepassten Chart dazu.
Bezeichnend an diesem Chart ist: Man findet (ausser Schweden) kein Land, das in der Frühphase der Pandemie auf strenge Massnahmen verzichtete und trotzdem wirtschaftlich glimpflich davonkam. Und man findet in der OECD auch wenig Länder, die trotz strengen Massnahmen einen harten Einbruch erlitten. Mexiko, ein Schwellenland, bildet hier etwas die Ausnahme.
Die britische Wirtschaft habe deshalb so stark gelitten, weil Aktivitäten wie ins Restaurant oder Kino gehen in Grossbritannien einen höheren Anteil am BIP ausmachen würden als in anderen europäischen Ländern, erklärte Finanzminister Rishi Sunak. Das ist natürlich Humbug. Wahrscheinlicher ist, dass die dortige Regierung die Pandemie zu Beginn schlicht verschlafen hat. Und viele der Schwierigkeiten, die sie jetzt hat, auf dies zurückzuführen sind.
Die Initialreaktion vermag gewisse Tendenzen zu erklären. Doch sie erklärt nicht alles. Frankreichs Wirtschaft schrumpfte mit 19 Prozent etwa doppelt so stark wie jene der Schweiz. Dies, obwohl beide Länder ähnlich restriktiv waren – jedenfalls gemäss den Zahlen der University of Oxford.
Fazit
Dass es auf die ganz kurze Frist einen Trade-off zwischen Wirtschaft und Gesundheit gibt, ist wohl kaum von der Hand zu weisen. Wenn in England jetzt die Pubs früher schliessen müssen, machen diese weniger Umsatz.
Doch bereits auf die mittlere Frist wird dieser Konnex weniger klar – ganz zu schweigen von der langen Sicht. Hier ist viel entscheidender, dass Länder insgesamt den richtigen Massnahmenmix finden. Und auch das richtige Timing. Das ist nicht ganz einfach, wie jeder weiss, der einmal versucht hat, einen sozialen Anlass zum richtigen Moment zu verlassen (vielleicht ein Zeichen: Ich blieb an besagtem Apéro bis zum Schluss, habe es aber nicht bereut).
Um weitere Einsichten zu gewinnen, müsste man tiefer bohren. Man könnte die Oxford-Daten zum Beispiel feiner aufschlüsseln und die ökonomische Dimension der Corona-Massnahmen miteinbeziehen. Dann würde ziemlich sicher klar, dass Länder mit bedeutenden Stützungspaketen (wie etwa die Schweiz) besser abschnitten als andere Länder. Logisch: Lockdowns sind nicht das Einzige, was die Wirtschaft in einem Krisenjahr beeinflusst.
Man könnte sich auch die Dynamik des Oxford-Index genauer anschauen: Was war der optimale Zeitpunkt, um Massnahmen zu ergreifen? Was, um sie wieder abzuschwächen? Und wenn die erste Welle eingedämmt war: Wie viel Lockerung lag drin? An welchem Punkt nahm die Sterblichkeit wieder zu? All diese Fragen sind ungeklärt. Und müssten dringend beantwortet werden: In Frankreich, Spanien, Grossbritannien steigen die Todeszahlen rapide an.
Further research is needed, würden Wissenschaftler an dieser Stelle wohl schreiben – es braucht noch mehr Forschung. Und auch ich spiele den Ball an diesem Punkt gerne weiter. Beziehungsweise: zurück an die Taskforce. Auf dass noch viele ihrer Erkenntnisse bald zum politischen Mainstream werden.