Die gute Rede
Wie bringt man Bürgerinnen gut durch die Corona-Krise? Auch mit den richtigen Worten. Was Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga von Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern unterscheidet. (Ab Punkt 6 wirds fast ein wenig kitschig.)
Von Ronja Beck, Marie-José Kolly (Text) und Anthony Gerace (Illustration), 19.12.2020
Haben Sie Mühe, den ganzen Tag in den eigenen vier Wänden zu hocken? Nervt Sie das Maskentragen? Macht es Sie traurig, dass am Weihnachtsessen dieses Jahr Eltern oder Enkel am Tisch fehlen werden?
Wir verstehen Sie sehr gut.
Diese Gefühle sind wichtig. Einerseits, weil sie tatsächlich viele Menschen belasten. Zum Leid, welches das Virus verursacht, kommt damit zusätzlich eine psychische Belastung, die im Lauf der Monate nicht weniger geworden ist. Andererseits entscheiden Gefühle über den Erfolg in der Pandemiebekämpfung. Denn: Wer nicht mehr mag, wer frustriert ist und die Hoffnung verliert, wer sich damit auch noch alleingelassen fühlt, zieht irgendwann nicht mehr mit.
Deshalb ist gute Kommunikation kein Detail. Sie ist matchentscheidend.
Jemand, der das verstanden hat wie kaum eine sonst, ist die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern. Sie hat es geschafft, ihr Land bisher ganz besonders gut durch die Corona-Pandemie zu führen. Nicht nur ist das Virus fast verschwunden, es hat auch vergleichsweise kleine Risse in Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen. Die Journalistinnen von «Bloomberg» haben in einem «Covid Resilience Ranking» berechnet: Könnten wir uns aussuchen, wo wir eine Pandemie verbringen wollen, Neuseeland wäre die beste Wahl.
Selbstverständlich hat Neuseeland geografisch überaus Glück: Es ist viel einfacher, die Verbreitung des Virus auf einer dünn besiedelten Insel im Südpazifik zu verhindern, als in einem Grenzgängerland im Herzen Europas. Aber Premierministerin Ardern – das sagen ausnahmslos alle befragten Expertinnen – hat auch in ihrer Kommunikation sehr vieles sehr richtig gemacht.
«Our team of 5 million» (unser 5-Millionen-Team): Dieser Spruch von Ardern, die auch ausgebildete Kommunikationswissenschaftlerin ist, ging um die Welt.
Wir wollten es nun präziser wissen. Also haben wir uns angeschaut: Wie genau spricht Jacinda Ardern seit dem Ausbruch der Pandemie mit ihren Bürgern? Warum funktioniert das, was sie sagt? Was bewirkte sie damit?
Wir haben alle Reden von Jacinda Ardern analysiert, die sie seit Februar zu Covid-19 gehalten hat. Und wir haben dasselbe auch mit allen Ansprachen der Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga getan. (Die genauen Daten und Methoden erklären wir Ihnen am Ende des Artikels. Und: Gerne hätten wir uns auch die Reden von Gesundheitsminister Alain Berset angeschaut; doch, wie das Innendepartement sagte, gibt es davon keine «stabilen Versionen». Berset habe an Medienkonferenzen jeweils Notizen dabei und entwickle daraus frei, was er dann sage.)
Abschliessende Urteile erlaubt dieser linguistische Vergleich keine. Das politische System der Schweiz ist ein anderes als jenes Neuseelands. Sommaruga repräsentiert ein siebenköpfiges, gleichberechtigtes und mit unterschiedlichen politischen Richtungen besetztes Gremium in einem höchst föderalen Staat, ihre Rolle und Entscheidungsmacht lässt sich nicht mit jener der Premierministerin Neuseelands vergleichen. Ausserdem spielt selbstverständlich eine Rolle, dass Sommaruga und Ardern nicht dieselbe Sprache sprechen, in anderen kulturellen Kontexten auftreten.
Dennoch kann der Vergleich durchaus einige Hinweise liefern. Spitzenpolitikerinnen wählen ihre Worte selbst, und es sagt etwas aus, wie sie dies tun.
Wie also sprechen sie? Und vor allem: Was macht Ardern so gut?
Als erste Erkenntnis vorweg: Sie spricht besonders viel über Menschen.
Er, sie und wir
Vielleicht erinnern Sie sich kurz an Ihre Schulzeit zurück. Vorne die Wandtafel, in der Nase dieser typische Schulzimmergeruch, etwas zwischen Putzmittel und Kreide, und, irgendwann in einer Deutschstunde: Pronomen. Das sind diese Wörtchen, die für Nomen stehen können. Für Personen etwa – ich, Sie, wir. Oder für Dinge, die Personen besitzen: unser, deine, eure.
In den typischen amerikanischen Präsidenten-Ansprachen stellen diese Personal- und Possessivpronomen knapp 4 Prozent aller Wörter. In der Krisenkommunikation von Bundespräsidentin Sommaruga mehr als 5 Prozent. Und in jener von Jacinda Ardern noch einmal bedeutend mehr:
Ardern spricht nah bei den Menschen und bei dem, was sie haben und ihnen wichtig ist. Es ist einer der Gründe, weshalb ihre warmen Reden so viel Lob ernten.
Mitte Dezember erscheint auf unserem Bildschirm Suzanne Suggs. Die US-Amerikanerin ist Professorin an der Universität der italienischen Schweiz. Nach kurzem Winken fragen wir die Expertin für verhaltensverändernde Kommunikation, wie Politikerinnen sprechen können, damit die Menschen ihr günstiges Pandemie-Verhalten beibehalten.
Ihr erster Satz: «It’s pretty simple: Sie müssen mit Ihrem Publikum sprechen, nicht zu ihm. Und Sie müssen Mitgefühl ausdrücken.»
Wir werden uns noch tiefer in diese Reden graben und die wärmenden Worte suchen. Bevor wir das tun, wollen wir aber auf ganz grundlegende Prinzipien guter Krisenkommunikation eingehen. Und die schafft man auch mit kühlem Herzen.
1. Auch die beste Kommunikation kann eine löchrige Strategie nicht retten
Bevor wir zum Kern der richtigen Sprache kommen, müssen wir ganz unten anfangen: beim Fundament.
Die Schweiz und Neuseeland haben zwei komplett unterschiedliche Strategien gewählt, um ihre Länder durch die Pandemie zu bringen. Und das wirkt sich direkt darauf aus, wie sie ihre Bevölkerung informieren.
Neuseelands Regierung hat sich für ein alert system entschieden. Jacinda Ardern hat es erstmals Ende März präsentiert. Das Warnsystem funktioniert mit vier Levels: Je schwieriger es ist, die Kontrolle über das Virus zu behalten, desto höher das Warnlevel. Für jedes Level sind spezifische Massnahmen vorgesehen, die sich im Detail anpassen lassen. Damit ist die Bevölkerung schnell und einfach darüber informiert, was gerade gilt oder drohen könnte.
Die Schweizer haben auf ein solches System verzichtet. Es lagen zwar ab April verschiedene Vorschläge vor – von der Science-Taskforce, von einzelnen Kantonen, vom Vorstand der Konferenz der Gesundheitsdirektorinnen und von der Vereinigung der Kantonsärzte. Die Kantone konnten sich aber erst Ende Oktober auf ein Stufensystem einigen, das nie breit kommuniziert wurde.
Die Schweizer Regierung ihrerseits hat zwar zuerst den Menschen, dann den Kantonen gedroht, dass bei einer Verschlechterung der Lage stärkere Massnahmen folgen. Jedoch hat auch sie nie klar kommuniziert, wie schlecht die Lage sein muss und was das genau für Massnahmen sein werden.
Noch am 14. Dezember spricht sich Bundesrat Alain Berset gegen ein solches Ampelsystem aus: «Wir brauchen Flexibilität.» Und Simonetta Sommaruga spricht in Reden gerne vom «Mittelweg». Was das bedeutet, bleibt unklar.
2. Wieso das und wieso jetzt? Und wie genau?
Auf diesem Boden also steuern die beiden Länder durch die globale Krise, mit dieser Grundlage sprechen die Regierungen zu den Leuten und versuchen zu vermitteln, was sie beschlossen haben.
Es ist jedoch nur die halbe Miete, die Massnahmen blutt zu präsentieren. «Die Leute müssen das Wieso dahinter verstehen. Wieso ist es so wichtig, dass wir bestimmte Dinge tun oder nicht tun?», sagt Suzanne Suggs, die Expertin für verhaltensverändernde Kommunikation, zur Republik.
Die Menschen müssen verstehen können, wieso die Massnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll sind, damit sie sich daran halten. Das sagen auch Sozialpsychologen. Und sie müssen verstehen, auf welchen Daten oder Entscheidungen sie basieren. «Vor allem wollen sie wissen: Wie hilft das mir und meiner Familie, schneller durch diese Krise zu kommen?», sagt Suggs.
Zudem muss den Menschen klar sein, wie genau sie die Massnahmen umsetzen sollen, ganz konkret. Etwa: Kann ich überhaupt eine Maske kaufen? Wie setze ich sie korrekt auf, wenn sie zu gross ist für mein Gesicht?
Aus diesen Gründen war die BAG-Kampagne «Machs einfach!» vom Herbst so misslungen. Suzanne Suggs sagt dazu: «Die Message ist ‹Sei still und machs einfach›. Das ist sehr bevormundend.»
Die Kampagne sprach zu ihrem Publikum – und eben gerade nicht mit ihm.
In ihren Ansprachen findet die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga glücklicherweise passendere Worte:
Das Ziel dieser Massnahmen ist klar: Wenn wir weniger Kontakte haben, bringen wir die Zahl der Ansteckungen herunter. Und damit auch die Spitaleintritte. Und das ist das Ziel.
Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern erklärt die Gründe für ihre Entscheidungen häufig ganz besonders detailliert:
That, essentially, is all of the information, data, and analysis that we will provide in determining New Zealand’s next move. Now, I share this with you because we have been open and transparent throughout this fight against Covid-19, and I personally believe really strongly that it is only fair. Since we are all in this together, we need to all keep working together for success, and that means us sharing with everyone the factors we’ll be taking into consideration and the data we use.
Das sind grundsätzlich alle Informationen, Daten und Analysen, die wir zur Verfügung stellen werden, um Neuseelands nächsten Schritt zu bestimmen. Ich teile das mit Ihnen, weil wir im Kampf gegen Covid-19 offen und transparent waren und weil ich persönlich sehr stark daran glaube, dass es schlicht fair ist. Da wir gemeinsam in diesem Boot sitzen, müssen wir alle weiterhin zusammen in Richtung Erfolg arbeiten. Und das heisst, dass wir die Faktoren, die wir berücksichtigen, und die Daten, die wir verwenden, allen zugänglich machen.
Die Menschen müssen verstehen, wohin es geht und wieso. Warum die neuen Vorschriften und Empfehlungen legitim sind. Das bildet Vertrauen, das wichtigste Gut für jede Regierung in jeder Krise.
3. Die Unsicherheiten
Vertrauen holt man sich jedoch nicht nur, indem man sein Wissen darlegt. Sondern indem man auch offen und ehrlich sagt, was man nicht weiss.
Die Sache mit der Unsicherheit ist jedoch tricky. Denn zu viel davon – das Wort sagt es schon – verunsichert. Und wer sie ganz weglässt, riskiert, dass sich die Bevölkerung irgendwann belogen oder betrogen fühlt.
Anfang November, die Fallzahlen sind seit langem im einstelligen Bereich, sagt Jacinda Ardern an einer Pressekonferenz:
But there is also no fool proof, error-free way of managing a virus. It is tricky, and requires layers of back up for the occasions when it may infect those working in high-risk situations.
Aber es gibt auch keine narrensichere, fehlerfreie Art, ein Virus zu verwalten. Es ist knifflig und braucht mehrere Back-up-Ebenen für die Momente, in welchen es Menschen infizieren könnte, die in Hochrisiko-Situationen arbeiten.
Die Premierministerin gibt Unsicherheit zu und zeichnet mögliche Fehler an den Horizont. Und das, obwohl das Land zu dem Zeitpunkt nach wie vor in einer ziemlich komfortablen Situation ist.
Obwohl der Bundesrat im Frühling wiederholt auch über Ungewissheiten gesprochen hat, macht es die Schweiz kurz vor der Wiederöffnung ein wenig anders.
In der Schweiz ist die Situation Ende Mai, kurz vor den grossen Lockerungen, besonders entspannt: Die Zahlen verharren im tiefen zweistelligen Bereich. Da sagt Bundesrat Alain Berset an einer Pressekonferenz zu ebendiesen Lockerungen den verhängnisvollen Satz, auf den ihn die Medien Monate später behaften werden: «Wir können Corona.» Und er fügt an: «Aber bitte weiterhin Abstand halten und Hände waschen. Denn wir möchten nicht vor der Ziellinie noch stolpern.»
Ob er es mit Absicht tut oder nicht: Berset signalisiert damit den Menschen eine Sicherheit, die nicht gegeben ist; er deutet ein Ende der Krise an, das die Wissenschaft so bald nicht sieht.
Die Kommunikationswissenschaftlerinnen sind sich einig: Solche Widersprüchlichkeiten gilt es unbedingt zu verhindern. Was es stattdessen braucht, ist eine konsistente Message. Oder wie es die Wissenschaftlerin Suzanne Suggs ausdrückt: «Repeat, repeat, repeat!»
4. Die Konsistenz
Menschen müssen immer wieder das Gleiche hören, damit es hängen bleibt. Wir müssen immer wieder hören, dass wir Abstand halten oder zu Hause bleiben sollen. Und wir müssen immer wieder hören, warum.
Konsistenz funktioniert jedoch nicht nur über Zeit, sondern auch über Personen hinweg. Dass Bundesrat Ueli Maurer mehrfach der Message des Gesamtbundesrates widersprach, ist zur Krise in der Krisenkommunikation der Schweizer Regierung geworden.
Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern ist sich offensichtlich sehr bewusst, wie wichtig eine beständige Nachricht ist: sei es gegenüber den Spitälern, der Wirtschaft oder den Menschen. Erinnern Sie sich an «our team of 5 million», ihren Spruch, der um die Welt ging: Die Premierministerin streut ihn in verschiedensten Reden ein, seit Februar hat sie ihn Dutzende Male geäussert. Um so Sicherheiten und Halt zu geben, wo man sie geben kann.
«We go hard and we go early», wir reagieren hart und früh, das ist ein weiterer Slogan, den sie immer wieder braucht. Auch: «be strong and unite», seid stark und steht zusammen. Oder ein einfaches «be kind», seid nett.
Arderns konsistente Kommunikation zeigt sich nicht nur in eingängigen Slogans. Sie zeigt sich schon in einzelnen Worten sehr deutlich: Eines der häufigsten Wörter, die sie verwendet – nach sogenannten Funktionswörtern wie the, to, in, dem Verb will (werden) und New Zealand – ist das Wort level. Sie verortet mit diesem Wort immer wieder, in welcher Situation sich ihr Land gerade befindet und welche möglichen nächsten Schritte auf es zukommen.
Die richtige Strategie und ihre Kommunikation sind das eine. Aber eine Pandemie lässt sich nicht in den Griff bekommen, indem jeder für sich selber schaut. Das ist ein epidemiologisch gefixter Fakt. Die Menschen müssen sich als Kollektiv verstehen. Und brauchen den nötigen Willen, um entsprechend zu handeln.
5. Die Gemeinsamkeit
Als Partnerin der Bevölkerung, zu der sie sich machte, war die Kernaussage von Jacinda Ardern von Beginn an: Wir schaffen das – aber nur gemeinsam.
Und damit kehren wir zurück zu unseren Pronomen. Denn an ihnen lässt sich ablesen, wie sehr sie dieses «Wir-Gefühl» betont hat.
Oder, besser gesagt: das «Unser-Gefühl».
Jacinda Ardern und Simonetta Sommaruga sagen in ihren Reden etwa gleich häufig we, wir. Ob damit aber «wir: die Regierung» oder «wir alle» gemeint ist, lässt sich nicht ohne sehr viel Handarbeit herausfinden. Jedoch sagt Ardern ein anderes Pronomen gemessen an allen Wörtern, die sie über die Pandemie fallen liess, doppelt so häufig wie Sommaruga: our, also unser. Sie signalisiert damit: Es geht um unsere Gesundheit, unsere Wirtschaft, unsere Strategie, unsere Erholung: our health, our economy, our plan, our recovery.
Wir sind ein Team.
Bundespräsidentin Sommaruga dagegen sagt allermeistens: die Gesundheit, die Wirtschaft, die Massnahmen – und die Bevölkerung.
Im O-Ton klingt das bei Jacinda Ardern wie folgt:
The decision to move New Zealand to alert level 4 was the right one for our health and for our economy.
Die Entscheidung, Neuseeland auf die Alarmstufe 4 zu setzen, war für unsere Gesundheit und unsere Wirtschaft richtig.
Oder so:
Look what our team of 5 million achieved together in beating the virus, now what can we do together to get our economy moving again, to look after our people, and rebuild in a way that make things better than they were before?
Schauen Sie, was unser Team von 5 Millionen zusammen geschafft hat, als es um die Bekämpfung des Virus ging; was können wir nun gemeinsam tun, um unsere Wirtschaft wieder anzukurbeln, uns um unsere Bevölkerung zu kümmern und den Wiederaufbau so zu gestalten, dass die Dinge besser werden, als sie es vorher waren?
Bundesrätin Simonetta Sommaruga bleibt auch in einer kurzen Dankesrede mehrheitlich bei der, die, das:
Nicht alle Menschen können zu Hause bleiben. Wir brauchen das Gesundheitspersonal, die Pöstler, die Verkäuferinnen, die Lastwagenfahrer, Bus-Chauffeure, unsere Bäuerinnen und Bauern, die Armeeangehörigen: Sie schauen, dass die Versorgung auch weiterhin funktioniert.
Ardern drückt Gemeinschaft auch über andere Begriffe aus, etwa wenn sie sagt …
When we channel our energies into a goal collectively, we are stronger for it.
Wenn wir unsere Energien gemeinsam auf ein Ziel hin bündeln, sind wir stärker.
… oder wenn sie immer wieder den Zusammenhalt betont:
My request to you is to unite against Covid-19.
Meine Bitte an Sie ist, gegen Covid-19 zusammenzustehen.
Und natürlich, indem sie ihre 5 Millionen Partner auch als solche anspricht:
Our team of 5 million.
Unser Team von 5 Millionen.
Auch Simonetta Sommaruga hat immer wieder einmal über Zusammenhalt gesprochen – und dabei aber auch über Unterschiede:
Natürlich werden nicht alle mit jeder einzelnen Massnahme einverstanden sein. Das gehört bei uns dazu. Was uns zusammenhält, ist aber viel stärker als die Unterschiede: Wir alle möchten, dass die Schweiz diese Krise meistert, und zwar gemeinsam.
Bundespräsidentin Sommaruga sei es wichtig, «offen und transparent» über die Entscheide des Bundesrats zu informieren und «auch schwierige Aspekte anzusprechen», schreibt dazu die Kommunikationschefin des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, dem Sommaruga vorsteht. Bei einer rein quantitativen linguistischen Betrachtung würden solch wichtige Aspekte untergehen.
Jacinda Ardern wiederum habe es auf eine exzellente Art geschafft, den Willen zum Zusammenhalt bei den Neuseeländern zu wecken, findet Expertin Suzanne Suggs. «Sie löst alles ein, was man in einer Basisvorlesung zu effektiver Kommunikation auflisten würde.» Zu diesem Schluss kommt auch eine schottische Studie, die 40 Wortmeldungen von Ardern seit Ausbruch der Pandemie analysiert hat.
Gelungen ist dies Ardern dank einer ordentlichen Portion an Mitgefühl. Und, jetzt kommt der versprochene Kitsch: einem kräftigen Nachschlag an Liebe.
6. Die Liebe
Die Liebe zeigt sie mitunter dank einem simplen Trick: Sie spricht von sich selber.
I was once a checkout operator. I can tell you that it is a thankless job at the best of times. I cannot imagine what some of those individuals will have experienced in the last few weeks, but, on behalf of all New Zealand, I say thank you to them for what you’re doing for us now and what you’ll continue to do for us over the weeks ahead.
Ich war einmal Kassiererin. Ich kann Ihnen sagen, dass das auch in den besten Zeiten ein undankbarer Job ist. Ich kann mir nicht vorstellen, was einige dieser Personen in den vergangenen Wochen erlebt haben. Aber im Namen von ganz Neuseeland sage ich ihnen Danke, für das, was ihr jetzt für uns tut, und das, was ihr in den kommenden Wochen weiterhin für uns tun werdet.
Ihre Ich-Botschaften machen die Premierministerin nahbar, zum Menschen, wenn man beim Kitsch bleiben will. Sie fühlt mit. Dass sie wegen der Krise auf 20 Prozent ihres Lohnes verzichtet, verstärkt dieses Signal nochmals.
Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga hält sich im Vergleich deutlich zurück. Eine Ausnahme ist ihre 1.-August-Rede in Bern:
Sehr viele von Ihnen haben dem Bundesrat in den letzten Wochen geschrieben. […] Der Brief eines Bergbauern hat mich besonders berührt. Die Corona-Krise habe uns alle getroffen, schrieb er. Solidarität sei gefragt. Ins Couvert hatte er einen Teil seiner AHV-Rente gelegt. Das Geld ist mittlerweile bei jenen, die es nötig haben. In den schwierigen Wochen, die wir hinter uns haben, hat mir dieser Brief beispielhaft gezeigt: Die Schweiz «verhäbt»; das heisst: Sie hält stand, und sie hält zusammen.
Die Zurückhaltung, die sonst von Simonetta Sommaruga gelebt wird, kommt nicht überraschend. Die Schweizer Landesregierung ist nicht für emotionale Luftsprünge bekannt. Was aber nicht heisst, dass ein wenig mehr Gefühl der Bevölkerung in der Schweiz nicht guttun würde.
Kommunikationswissenschaftlerin Suggs antwortet auf die Frage, ob hier vielleicht auch kulturelle Unterschiede spielten – ob wir Schweizerinnen vielleicht gar nicht so viele warme Worte bräuchten: «Nein. Es gibt zwar Untersuchungen, die zeigen: Deutschschweizer sind ein bisschen zufriedener mit den reinen Fakten, in der französisch- und in der italienischsprachigen Schweiz mag man eine gemeinschaftlichere, emotionalere Kommunikation. Aber Gemeinschaft kann man auf verschiedene Arten ansprechen, für jede Zielgruppe etwas anderes. In Deutschland hat man dies etwa mit der Besondere-Helden-Kampagne hervorragend geschafft.»
Ein weiterer Beweis dafür, dass das geht, lieferte erst kürzlich die chronisch nüchterne Angela Merkel. In einer Rede im Bundestag zu den Weihnachtsmärkten ist die deutsche Bundeskanzlerin den Tränen nahe. Die Aufnahme ging in den sozialen Netzwerken viral und führte zu viel Applaus.
Merkel zeigt damit: Eure Betroffenheit macht mich betroffen. Es ist simples Mitgefühl, das so wichtig ist, wenn man nicht zu einem Satelliten, zu «denen da oben» werden will. Das betonte auch Harvard-Epidemiologin Julia Marcus in einem Gespräch mit der Republik im November: «Es hilft, wenn Politikerinnen zeigen: ‹Wir verstehen, was ihr durchmacht. Und wir sitzen alle im selben Boot.›»
Dieses Verständnis äussert Ardern immer wieder, etwa wenn sie sagt:
I know how hugely frustrating this current situation is for every single member of our team of 5 million, but if we get our immediate response right in this critical phase, we have the opportunity to lessen the time that we will have those heavier restrictions.
Ich weiss, wie enorm frustrierend die momentane Situation für jedes einzelne Mitglied unseres Teams von 5 Millionen ist. Aber wenn wir in dieser kritischen Phase unsere unmittelbare Reaktion gut hinbekommen, können wir die Zeit, während deren die schwereren Massnahmen gelten, verkürzen.
Empathie schafft Vertrauen. Sie wird immer wichtiger, je länger die Krise andauert und je belastender es für die Menschen ist, sagt Suzanne Suggs.
Damit das Gemeinschaftsgefühl nicht kippte, wurde Ardern nie müde zu mahnen, bitte nett zueinander zu sein. Eine wichtige Prophylaxe gegen Denunziantentum. Und gegen die Stigmatisierung bestimmter Gruppen:
I also want to re-emphasise the need for kindness and support for those who have had or currently have Covid-19, after hearing reports of comments online that I would say amount to bullying.
Ich will auch noch einmal betonen, wie wichtig Liebenswürdigkeit und Unterstützung ist für jene, die Covid-19 hatten oder haben – nachdem ich von Online-Kommentaren gehört habe, die – würde ich sagen – Mobbing gleichkommen.
Dazu gehört es auch, eine gute Portion Hoffnung zu vermitteln. Doch wie macht man das?
7. Der Optimismus
Nicht, indem man Fakten mit Zuckerglasur überziehe, sagt Epidemiologin Julia Marcus, die viel Erfahrung mit Kommunikation im Kontext der HIV-Krise gesammelt hat. Aber eben auch nicht, indem man auf Angstgefühle setze. «Längerfristig wirkt sich das auf die mentale Gesundheit aus, die Menschen werden erschöpft. Und erschöpfte Menschen können sich nicht allzu lange an Massnahmen halten.»
Ardern wie Sommaruga warnten zwar immer wieder davor, was passieren würde, wenn sich die Bevölkerung nicht an die Massnahmen hielte. Sie vermittelten aber auch immer wieder Mut und Zuversicht:
Stay strong. […] We are going to be okay.
Bleiben Sie stark. […] Wir werden klarkommen.
Es gibt so viele kreative, wunderbare Initiativen von jungen Menschen, von Kindern, von Älteren, um einander in dieser Situation zu unterstützen. Diese Krise braucht alle – jeden Einzelnen von uns. Jetzt braucht es einen Ruck. Dann können wir sie gemeinsam bewältigen.
Menschen bräuchten Hoffnung, um vorsichtig zu bleiben, sagt Julia Marcus: «Wenn sie kein Licht am Ende des Tunnels sehen, warum sollten sie Risiken vermeiden? Wenn die Pandemie nie enden würde, könnten sie sich gerade so gut sofort anstecken lassen.»
Wer mit bemerkenswerter Konsistenz Optimismus verbreitet, ist die Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Bern. Vor einer Woche sprachen wir mit ihr über die aktuelle Covid-Lage in der Schweiz, und sie wiederholte, was sie seit dem Frühling am Telefon mit der Republik immer wieder sagt: Unser Testing-und-Tracing-System müsse besser funktionieren, und hierfür müsse man, «you know, die Fallzahlen niedrig halten».
Ob sie nicht müde werde, das zu wiederholen?
«Well, man muss optimistisch bleiben. Es ist nie zu spät – wir können uns jederzeit dazu entscheiden, morgen besser zu werden. Die Fallzahlen hinunterzubringen und niedrig zu halten.» Schimpfen und jammern verbreite nur die Message, es lohne sich nicht, das überhaupt zu versuchen.
Nicht nur Politikerinnen, auch Wissenschaftler, Journalistinnen und jeder von uns allen kann mit seinen Worten, ja, mit seiner Haltung dazu beitragen, sein Umfeld zu ermutigen.
Haltung bewahren
Wie bei der Bevölkerung ankommt, was Politikerinnen sagen, ist das eine. Das andere ist, was das, was sie sagen, über die Sprecherin aussagt. Eine Regierungschefin transportiert mit allem, was sie zur Bevölkerung sagt, nämlich nicht nur Informationen oder Gefühle. Sie transportiert immer und allem voraus auch eine Haltung.
Wenn Jacinda Ardern von einem team spricht und von our recovery, bezieht sie die Bevölkerung nicht nur mit ein. Sie positioniert sich mit allen auf gleicher Höhe und im gleichen Boot.
Wenn Simonetta Sommaruga nun von Eigenverantwortung spricht, sagt sie zwar damit: Ich traue euch das zu. Gleichzeitig transportiert sie damit aber auch die Haltung, dass sie sich nicht wirklich als Teil des Teams versteht. Und, im schlimmsten Fall, dass dieses Team überhaupt gar nicht existiert.
Der Begriff Eigenverantwortung sei sehr schwierig, sagt auch Epidemiologin Marcus zur Republik: «Weil es scheint, dass er von Regierungen gebraucht wird, die sich ihrer Verantwortung entledigen wollen.»
Das Problem nun ist, dass uns die Epidemiologie gewisse Fakten aufzwingt. Und der wichtigste ist: Wir schaffen das nicht allein. Jeder spielt eine wichtige Rolle in diesem Krisentheater. Die Regierung, die Unternehmen, die Bevölkerung, Vreni Müller von der Schlossgasse 15.
Ohne eine Haltung, die auf Mitgefühl und Gemeinschaftssinn und Liebe fusst, kriegen wir das nicht hin.
Jedenfalls nicht in einer funktionierenden Demokratie.
Auswahl der Texte: Die Datenbasis für die Textanalyse umfasst schriftliche Fassungen der Reden und der Ansprachen bei Medienkonferenzen, welche Jacinda Ardern und Simonetta Sommaruga zu Covid-19 gehalten haben. Reden und Ansprachen, bei welchen weniger als 30 Prozent des Textes – gemessen an der Zeichenzahl – die Pandemie betreffen, haben wir von der Analyse ausgeschlossen. Wir berücksichtigen den Zeitraum zwischen dem 10. Februar und dem 10. Dezember.
Jacinda Ardern hat während dieser Zeit insgesamt 75 Reden sowie Ansprachen an Pressekonferenzen nach Kabinettssitzungen gehalten. Simonetta Sommaruga hat 18 Reden und Ansprachen an Covid-Pressekonferenzen gehalten sowie einen Brief an die Bevölkerung geschrieben. Reden und Ansprachen, die sich nicht explizit auch an die Bevölkerung richten, haben wir ausgeschlossen. Das gilt auch für Ansprachen, von welchen keine schriftliche Fassung vorliegt.
Gerne hätten wir auch Reden und Ansprachen des Gesundheitsministers Alain Berset mit aufgenommen. Leider liegen von seinen Ansprachen an Pressekonferenzen aber keine konsolidierten schriftlichen Fassungen vor – so die Pressestelle des Eidgenössischen Departements des Inneren. Berset arbeite mit Notizen, entwickle seine Ansprache dann aber darüber hinaus frei. Auch die Untertitel der SRF-Übertragungen von Pressekonferenzen entsprechen nicht Wort für Wort den Ansprachen und sind deshalb nicht geeignet.
Eine 1.-August-Rede von Bundesrätin Sommaruga sowie zwei kurze Passagen aus Ansprachen von Premierministerin Ardern haben wir automatisch aus dem Französischen respektive aus dem Maori übersetzen lassen. Eingestreute französische, italienische und rätoromanische Sätze in Ansprachen von Bundesrätin Sommaruga haben wir nicht berücksichtigt, da sie in allen Fällen direkte Übersetzungen eines zuvor geäusserten deutschen Satzes waren.
Textanalyse: Wir haben die Textsammlung auf die sogenannten Flexionsparadigmen der Personal- und Possessivpronomen durchsucht, das heisst: auf die Pronomen in den verschiedenen Personen, Kasus, Numeri und Genera. Für die erste Person Plural sind das etwa:
– Deutsch: wir, uns, unser, unserer, unseren, unserem, unsere, unseres.
– Englisch: we, us, our, ours.
Manche dieser Formen können als Pronomen und als Artikel verwendet werden, die Flexionsparadigmen überlappen also. Auch Reflexivpronomen, die in der Form mit Personalpronomen zusammenfallen, sind als «Beifang» mit drin. Etwa «uns» ist Akkusativ- und Dativform des Personalpronomens in der 1. Person Plural, aber auch die Form des Reflexivpronomens in der 1. Person Plural (zum Beispiel in «wir wünschen uns»). Damit – und weil Reflexivpronomen im Deutschen häufiger vorkommen als im Englischen – sind die Vorkommen von «uns» in den Ansprachen von Simonetta Sommaruga vermutlich überrepräsentiert. Wenn das der Fall wäre, würde es unser Fazit noch verstärken.
Das neutrale Personalpronomen «es» sowie das generalisierende Personalpronomen «man» haben wir weggelassen, weil sie nicht primär für Personen stehen, so entsprechen sie nicht dem Zweck unserer Fragestellung.
Die Pronomen wurden automatisiert gezählt und zu Kategorien summiert, dann der Anteil jeder Kategorie an der Gesamtzahl der geäusserten Wörter der Politikerin berechnet. So ergibt sich die «Dichte» einer Pronomenkategorie beziehungsweise aller Pronomen in den Ansprachen der beiden Politikerinnen – unabhängig von der Zahl oder der Länge ihrer Reden.