Cop Culture
Die Polizei greift ein – und andere kommen zu Schaden, werden verletzt oder sterben sogar. Wer untersucht, ob die Beamtinnen korrekt gehandelt haben? Und warum kommt es so selten zu Prozessen gegen Polizisten?
Von Brigitte Hürlimann (Text) und Andrey Kasay (Illustration), 03.12.2020
Das ist die Geschichte von drei Männern, die sich nicht kannten und deren Wege sich nie gekreuzt haben. Die drei verbindet eine tragische Gemeinsamkeit: Sie alle befanden sich in den Händen der Polizei, als das Schlimmste geschah.
Zwei der Männer starben in Polizeihaft, der dritte überlebte einen Polizeieinsatz nur knapp. Er wurde schwer verletzt, ist seither physisch und psychisch gezeichnet – «ein Wrack», wie er selber sagt. Dieser dritte Mann heisst Omar Mussa Ali. Dreizehnmal schossen zwei Stadtpolizisten auf ihn, als er an Weihnachten 2015 in einem psychotischen Schub mit einem Küchenmesser in der Hand durch die Strassen Zürichs irrte.
Er hatte niemanden verletzt, niemanden bedroht, wirkte apathisch und abwesend. Dann wurde er in den frühen Morgenstunden von fünf Polizisten in schusssicheren Westen angehalten. Der letzte Funkspruch vor der Schiesserei lautete: «Der Neger hat ein Messer in der Hand.»
Die Staatsanwaltschaft will nicht untersuchen
Die drei Fälle haben noch eine weitere, irritierende Gemeinsamkeit: Die zuständigen Staatsanwaltschaften wollten keine ordentliche Untersuchung anhand nehmen.
Im Fall der dreizehn Schüsse gegen Herrn Ali war es das Bundesgericht, das die Zürcher Staatsanwaltschaft aufforderte, gegen einen der Schützen zu untersuchen – jenen Polizisten, der elfmal abgefeuert hatte. Alis Verteidiger, Torsten Kahlhöfer, hatte die Einstellungsverfügung zuvor bis ans höchste Schweizer Gericht ziehen müssen.
Gleiches geschieht, nachdem ein Zwanzigjähriger stirbt, der in den Medien Kilian S. genannt wird und der 2018 nach einer Partynacht, vollgepumpt mit allen möglichen Stoffen, auf einer Berner Polizeiwache landet. Die Staatsanwaltschaft will nicht untersuchen und hat eine Einstellungsverfügung erlassen. Diese wird vom Obergericht des Kantons Bern im Juni für rechtens erklärt. Der Fall ist nun vor Bundesgericht hängig. Und neu in den Händen des Zürcher Rechtsanwalts und Menschenrechtsexperten Philip Stolkin. Er ist gewillt, notfalls bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zu gelangen.
Stolkin hatte auch den Fall des zweiten verstorbenen Mannes betreut. Es handelt sich um einen Vierzigjährigen, der sich nach einem Verkehrsunfall auf einem Polizeiposten in Urdorf in der Zürcher Agglomeration das Leben nahm. Die Staatsanwaltschaft wollte den Suizid in der Polizeihaft nicht untersuchen und wurde in diesem Entscheid sowohl vom Obergericht als auch vom Bundesgericht gestützt. Stolkin zog den Fall nach Strassburg – und erstritt einen bemerkenswerten Entscheid. In seinem Urteil rügt der Gerichtshof die Schweiz gleich zweifach. Erstens hätte die Polizei die Suizidgefahr und die besondere Verletzlichkeit des inhaftierten Mannes erkennen und dementsprechend handeln müssen. Und zweitens hätte der Vorfall ordentlich untersucht werden müssen: von einer «ausreichend unabhängigen» Stelle.
Das ist eine Formulierung, die aufhorchen lässt.
Drei Fälle, fünf Fragen
Die Kritik aus Strassburg und überhaupt der Umgang mit den drei eingangs geschilderten Fällen zeigen auf, wie schwer man sich in der Schweiz tut, wenn Polizeiarbeit überprüft werden soll. Exemplarisch ist auch der Fall Basel, über den die Republik vergangene Woche berichtete. Dort forderte die Staatsanwaltschaft absurd hohe Strafen für Teilnehmer einer antirassistischen Demonstration – und kommt damit durch. Die Rolle der Polizei, die zur Eskalation mindestens entscheidend beigetragen hat, wird dagegen kaum hinterfragt.
Schwer tut man sich hierzulande sogar dann, wenn es um mutmassliche Polizeigewalt, mutmassliche Übergriffe, um Tote oder Verletzte geht. Also um Fälle, bei denen der Rechtsstaat jedes Interesse daran haben sollte, alles lupenrein abklären zu lassen. Sei es, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, Verbesserungen und Änderungen zu bewirken. Oder sei es, um jeglichen Verdacht auszuräumen und damit das Vertrauen in die Polizeiarbeit zu stärken.
Das geschieht nicht oder jedenfalls nicht konsequent. Und es stellen sich deshalb fünf unangenehme Fragen:
Ist die Staatsanwaltschaft unabhängig genug von der Polizei? Sie ist es, die polizeiliche Übergriffe zu untersuchen hat – doch beide gehören der Strafverfolgungsbehörde und damit der Exekutive an. Sie bekämpfen Schulter an Schulter die Kriminalität, sind aufeinander angewiesen. Und mutieren nun plötzlich zu gegnerischen Parteien.
Wie lässt sich die Pflicht, heikles staatliches Handeln zu untersuchen, mit dem Ermächtigungsverfahren vereinbaren? In den Kantonen Zürich, St. Gallen und Appenzell Innerrhoden gibt es das sogenannte Ermächtigungsverfahren. Untersuchungen gegen Beamtinnen – und damit auch gegen Polizisten – dürfen erst eröffnet werden, wenn dies von einem Gericht erlaubt wird. Gleichzeitig verlangt die Europäische Menschenrechtskonvention, dass staatliches Handeln, das zu einer Gefährdung des Lebens führt, untersucht wird. Die Untersuchungspflicht gilt erst recht, wenn es zu Todesfällen kommt oder Schwerverletzte gibt.
Wie kann sichergestellt werden, dass Untersuchungen durch Staatsanwältinnen engagiert und unvoreingenommen sind? In der Schweiz bleibt in der Regel der gleiche Staatsanwalt für einen Fall zuständig, auch wenn er ihn einstellen wollte und erst vom Gericht eines anderen belehrt wird.
Wenn in Fällen von mutmasslicher Polizeigewalt Aussage gegen Aussage steht – wem glauben die Staatsanwältinnen und danach die Richter eher? Den Polizistinnen, die eisern zusammenhalten, oder den anderen Beteiligten, die keine Staatsmacht repräsentieren?
Ist die Schweiz gewillt, die Polizeiarbeit auch unter einem menschenrechtlichen Blickwinkel zu würdigen? Was umfassendere Untersuchungen bedingen würde als rein strafrechtliche.
Beleuchten wir also diese Fragen der Reihe nach.
1. Eine genügend unabhängige Stelle
Es ist der Fall des vierzigjährigen Mannes, der sich in Polizeihaft das Leben nahm, der exemplarisch aufzeigt, wie nahe sich die Polizei und die Staatsanwaltschaft stehen – räumlich und systemisch.
In jener Septembernacht 2014 in der Agglomeration Zürich geschah Folgendes: Der Vierzigjährige war mit dem Auto seines Arbeitgebers unterwegs, war alkoholisiert und stand unter dem Einfluss von Medikamenten. Er verursachte einen Selbstunfall, bei dem weder er noch Dritte verletzt wurden. Zwei Polizisten nahmen das Unfallprotokoll auf. Sie merkten rasch, dass der Autolenker betrunken war, was ein Test vor Ort bestätigte. Der Mann benahm sich unkontrolliert und zeitweise wenig kooperativ. Er rief seine Mutter an, bat sie, herzukommen, und sagte ihr am Unfallort: «Mama, sei nicht traurig, wenn ich hier sterbe.»
Mehrfach äusserte er in der Unfallnacht Suizidabsichten und wurde trotzdem von der Polizei in eine unüberwachte Abstandszelle im Untergeschoss des Stützpunktes verbracht: nach einer Urin- und Blutuntersuchung im Spital und nach einer entwürdigenden Leibesvisitation, die vor dem Einschliessen stattfand. Vierzig Minuten lang befand sich der sichtlich aufgewühlte und psychisch angeschlagene Mann unbeaufsichtigt in der Zelle. Zwei Polizisten hatten Feierabend, zwei gingen essen, der fünfte blieb allein im Stützpunkt und wartete auf das Eintreffen eines Arztes. Erst als dieser eintraf und wieder genügend Polizisten auf dem Posten waren, ging man nach unten ins Erdgeschoss. Und fand den Inhaftierten tot in der Zelle vor. Er hatte sich mit seiner Jeans am Lüftungsgitter erhängt.
Dieser Todesfall in Polizeigewahrsam hätte verhindert werden können, schreibt der Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil. Es habe klare, ausdrückliche und wiederholte Hinweise auf einen möglichen Suizid gegeben. Der Mann hätte problemlos und ohne unzumutbaren Aufwand überwacht werden können. Der Gerichtshof betont die besondere Fürsorgepflicht eines Staats den Inhaftierten gegenüber – und in diesem Fall die Verletzlichkeit des betroffenen Mannes. Die Behörden hätten wissen müssen, dass eine konkrete und unmittelbare Gefahr für sein Leben bestanden habe. Sie hätten nicht einfach das übliche Prozedere anwenden dürfen.
Die Strassburger Instanz stellt in einem zweiten Schritt fest, dass die Schweiz die Menschenrechtskonvention auch deshalb verletzte, weil der Fall nicht untersucht wurde – und zwar eben von einer «ausreichend unabhängigen» Behörde. Die Weigerung der Schweiz, diesen ungewöhnlichen Todesfall zu untersuchen, sei «weder angemessen noch vernünftig».
Der Gerichtshof verlangt übrigens irgendeine wirksame Untersuchung, ein wirksames Justizsystem – es muss nicht zwingend ein Strafverfahren sein. Die Behörde soll in die Lage versetzt werden, die Todesursache festzustellen, allfällige Verantwortliche zu identifizieren und zu bestrafen.
Der einstimmige Entscheid der sieben Strassburger Richterinnen wurde Ende September rechtskräftig. Das Bundesamt für Justiz – Philip Stolkins Gegenpartei – hat keinen Antrag auf Neubeurteilung durch die grosse Kammer gestellt; wäre der Antrag gutgeheissen worden, hätten sich fünfzehn Richter über den Fall gebeugt.
«Die Überwachung des Urteils ist Sache des Ministerkomitees», schreibt Ingrid Ryser vom Bundesamt für Justiz auf Anfrage der Republik. Man werde dem Komitee innert sechs Monaten Bericht erstatten. Bereits in einer früheren Mail hatte Ryser klargemacht: Das Urteil enthalte «keine Aussage über die Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei Verfahren gegen Polizeibeamte».
Wirklich nicht?
Rechtsanwalt Stolkin liest den Entscheid aus Strassburg anders. In der Schweiz, sagt er, fehle es an der geforderten unabhängigen Stelle: «Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten Hand in Hand, oft sogar unter dem gleichen Dach. Und nun muss der Staatsanwalt plötzlich gegen Polizisten ermitteln, gegen seine Partner in der Kriminalitätsbekämpfung. Beim Suizid in der Urdorfer Polizeihaft war es sogar die Staatsanwaltschaft des gleichen Bezirks, die den Fall übernahm. Nur schon diese räumliche Nähe ist inakzeptabel. Es ist zu keinem wirksamen, effektiven Strafverfahren gekommen.»
Stolkin schlägt die Schaffung einer unabhängigen Behörde auf Bundesebene vor, die in Fällen von mutmasslichen Polizeiübergriffen eingeschaltet wird. Die sowohl ermittelt als auch untersucht – also die klassische Polizeiarbeit wie auch die Rolle der Staatsanwaltschaft übernimmt. «Die Polizei ist Teil der Exekutive, sie übt das staatliche Gewaltmonopol aus», betont Stolkin. «Das ist eine organisierte Gewalt, und wenn diese nicht kontrolliert wird, sind wir nahe an einem totalitären Regime. Deshalb muss die Polizei unbedingt von einer unabhängigen Stelle kontrolliert werden.»
Diese unabhängige Kontrolle, sagt der Zürcher Rechtsanwalt, sei die Quintessenz des Rechtsstaats. In der Schweiz sei die Kontrolle besonders wichtig, denn: «Wir haben kein Bundesverfassungsgericht. Dabei ist gerade das polizeiliche Gewaltmonopol eng an verfassungsmässige Rechte und Pflichten gebunden. Das wird von den Gerichtsinstanzen zu wenig berücksichtigt. Genauso wenig wie die Menschenrechte.»
2. Das Ermächtigungsverfahren
Bei der Frage, ob gegen Polizistinnen untersucht werden soll, kam im Fall des Urdorfer Suizids eine Besonderheit hinzu: das Ermächtigungsverfahren, das neben dem Kanton Zürich nur noch St. Gallen und Appenzell Innerrhoden kennen. Es hat zur Folge, dass der Staatsanwalt zuerst beim Gericht die Ermächtigung holen muss, will er gegen einen Beamten untersuchen.
Die Idee dahinter ist, dass der Staat nicht durch querulatorische Anzeigen lahmgelegt wird. Allerdings liesse sich diese Gefahr leicht beheben, indem die Staatsanwältinnen solche Anzeigen mit einer Nichtanhandnahmeverfügung erledigen – so, wie das in der überwiegenden Mehrheit der Kantone geschieht.
Die Suiziduntersuchung endete bereits beim Ermächtigungsverfahren. Der Staatsanwalt hatte zwar beim Zürcher Obergericht ein entsprechendes Gesuch eingereicht, verlangte jedoch, die Ermächtigung sei nicht zu erteilen. Was dann auch geschah und was das Bundesgericht guthiess. Der Rüffel kam erst vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser betont in seinem Urteil, wie tief die Schwelle beim Ermächtigungsentscheid liegt – noch tiefer als bei der Frage, ob untersucht werden soll oder nicht. Dies gelte erst recht, wenn es um einen Todesfall gehe. Beim Suizid im Urdorfer Polizeiposten könne nicht gesagt werden, es habe kein «Minimum an Beweisen» für ein strafbares Verhalten gegeben.
Beat Oppliger, Leitender Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, sieht die Sache zwar anders, nimmt die Rüge aus Strassburg aber trotzdem ernst. «Wir befinden uns hier in einem doppelt sensitiven Bereich, wenn es um die Themen Gewahrsam und Suizid geht», sagt er. «Wir haben eine Garantenstellung für die Leute, die in Haft kommen.»
Was den Urdorfer Fall betrifft, ist er der Meinung, der Staatsanwalt habe eine genügend sorgfältige und detaillierte Voruntersuchung getätigt, bevor er den Antrag auf Nichtermächtigung gestellt habe: «Diese Auffassung wurde ja vom Obergericht und vom Bundesgericht gestützt.» Alle Beteiligten seien befragt und der Sachverhalt geklärt worden: «Die Fakten lagen auf dem Tisch.»
Der Leitende Oberstaatsanwalt und ehemalige Polizeioffizier findet, das Ermächtigungsverfahren habe durchaus Vorteile: «Jede Anzeige wird von einer gerichtlichen Stelle geprüft – und zwar von Amtes wegen, ohne dass die Anzeigeerstatter tätig werden müssen. Im anderen Fall, wenn die Staatsanwaltschaft direkt entscheidet, müssen die Geschädigten selber das Gericht anrufen, falls sie eine Nichtanhandnahme anfechten wollen. Das eine oder das andere Verfahren mündet an der gleichen Stelle: beim Gericht.»
Der Gerichtshof für Menschenrechte habe das Ermächtigungsverfahren nicht beanstandet, betont Oppliger. «Stimmt, leider nicht. Das war eine verpasste Chance», sagt Evelyne Sturm, Geschäftsleiterin des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte an der Uni Bern. «Ich bin der Auffassung, dass sich das Ermächtigungsverfahren nicht mit der Menschenrechtskonvention vereinbaren lässt: Weil bei ungewöhnlichen Todesfällen oder schweren Verletzungen zwingend untersucht werden muss.»
Die promovierte Juristin hat ihre Doktorarbeit zum Thema «Untersuchung von polizeilicher Gewaltanwendung» verfasst. Sie nennt darin fünf Kriterien für eine wirksame, menschenrechtskonforme Untersuchung – die vom Gerichtshof auch im neusten Entscheid gegen die Schweiz aufgezählt werden.
Einleitung von Amtes wegen
Unverzüglichkeit
Unabhängigkeit
Angemessenheit und Ernsthaftigkeit
Öffentliche Überprüfbarkeit und Einbezug der Opfer und Angehörigen
Bei Herrn Ali, Kilian S. und dem vierzigjährigen Mann, der Suizid beging, wollten die Staatsanwaltschaften nicht genau hinschauen. Sie begründeten dies damit, dass es nur schon an minimalen Hinweisen auf ein strafrechtlich relevantes Handeln fehle. Und dies, obwohl in der Schweiz der Grundsatz gilt, dass im Zweifelsfall anzuklagen ist.
Denn es liegt später an den Gerichten, einen Beschuldigten im Zweifelsfall freizusprechen: in dubio pro reo. So will es die Aufgabenteilung zwischen den beiden Staatsgewalten, der Exekutive und der Judikative.
3. Der Staatsanwalt muss «contre cœur» anklagen
Im Fall von Omar Mussa Ali musste der zuständige Staatsanwalt erst auf Geheiss des Bundesgerichts eine ordentliche Untersuchung durchführen – er hatte sie einstellen wollen. Er erhob daraufhin Anklage gegen einen der Polizisten, forderte jedoch einen Freispruch. Das Bezirksgericht Zürich folgte Ende Juni diesem Antrag und sprach den Polizisten, der elfmal auf Herrn Ali geschossen hatte, frei: ohne Wenn und Aber. Der Fall ist nun vor Obergericht hängig.
Im Kanton Zürich entspricht es dem Normalfall, dass die gleiche Staatsanwältin für einen Fall zuständig bleibt, auch wenn sie diesen zuvor einstellen wollte. «Es gehört zum Berufsverständnis und zur Grundhaltung der Staatsanwälte, dass sie mit anderen gerichtlichen Auffassungen umgehen können und dies nicht als Niederlage empfinden. Im Gegenteil, das ist unser tägliches Brot», sagt der Leitende Oberstaatsanwalt Beat Oppliger. «Es geht natürlich auch um die Ressourcen. Es dauert viel zu lange, bis sich ein neuer Staatsanwalt in den Fall eingearbeitet hat. Das System würde ad absurdum geführt.»
Von den Ideen, eine unabhängige Behörde auf Bundesebene oder einen ausserkantonalen Staatsanwalt einzusetzen, hält Oppliger wenig. Es würde zu viel Zeit verstreichen, bis diese Leute vor Ort einträfen, sagt er. Und sie hätten auch viel mehr Mühe, sich mit den örtlichen Gegebenheiten und Institutionen zurechtzufinden, als ein Staatsanwalt aus dem gleichen Kanton.
Eine Konsequenz hat Oppliger allerdings gezogen, schon vor dem Entscheid aus Strassburg: Bei Untersuchungen gegen Mitglieder der Strafverfolgungsbehörde entscheidet seit einigen Monaten immer die Oberstaatsanwaltschaft, wer mit dem Fall betraut werden soll. Einzige Ausnahme: Es handelt sich um einen Piketteinsatz, wenn also die Staatsanwältinnen rasch und ungeplant ausrücken müssen. Wie das beim Suizid auf dem Urdorfer Stützpunkt der Fall war, der spätnachts geschah. Und wo der Staatsanwalt des gleichen Bezirks die Untersuchung aufnahm.
Der Basler Strafrechtsprofessor, Rechtsanwalt und Kantonsrichter Niklaus Ruckstuhl spricht von «Zwangsanklagen», wenn der gleiche Staatsanwalt zuständig bleibt, der einen Fall zuvor einstellen wollte: «Er hat sich schon eine Meinung gebildet und muss contre cœur doch noch anklagen. Das führt kaum zu befriedigenden Ergebnissen, und das hinterlässt in der Öffentlichkeit einen schalen Nachgeschmack.»
Darauf, sagt Ruckstuhl, müsse viel mehr geachtet werden: Ob in der Aussenwahrnehmung zumindest der Anschein einer seriösen, unabhängigen Untersuchung gewahrt werde. «Natürlich gibt es das Gebot von Effizienz und Beschleunigung. Doch wenn die Strafverfolgung glaubwürdig sein will, darf man auf die Aussenwirkung nicht verzichten. Das kostet Zeit und Geld. Aber der Aufwand lohnt sich, wenn die Untersuchung dadurch in der Öffentlichkeit als glaubwürdig wahrgenommen wird. Das stützt das Vertrauen in die Justiz.»
4. Mehr Verständnis für die Polizei?
Warum also tun sich die Staatsanwaltschaften so schwer, wenn sie gegen Polizistinnen untersuchen sollen? Sogar dann, wenn es um Tote und Schwerverletzte geht? Und obwohl ein Minimum an Verdacht genügt?
Evelyne Sturm, die Geschäftsleiterin des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte an der Universität Bern, und Jörg Künzli, Direktor des Kompetenzzentrums und Staats- und Völkerrechtsprofessor, nennen ein weiteres wichtiges Stichwort: das Vorverständnis. Es bedeutet, dass die Staatsanwälte allenfalls mehr Verständnis für die Situation der Polizistinnen haben als für die Situation anderer Beteiligter – weil man im Alltag eng zusammenarbeitet und aufeinander angewiesen ist.
Das Vorverständnis könnte auch dazu führen, dass Aussagen von Polizisten anders gewertet werden – dass sie von vornherein glaubwürdiger erscheinen. Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Randständige beschwert sich wegen Übergriffen durch die Polizei oder wegen einer demütigenden Behandlung. Sämtliche am Einsatz beteiligten Polizisten versichern einhellig, es sei korrekt zu- und hergegangen. Weitere Augenzeuginnen gibt es keine.
Wem glaubt man eher?
Ein zweites Beispiel: Eine stadtbekannte, notorische Kleinkriminelle sagt, sie sei während der polizeilichen Befragung geohrfeigt, unter Druck gesetzt oder beschimpft worden. Videoaufnahmen von den Einvernahmen existieren nicht – das ist in der Schweiz nicht üblich, anders als in vielen anderen Staaten: ein Mangel, der einfach zu beheben wäre und viel bewirken würde. Und nun steht Aussage gegen Aussage. Staatsanwälte und später die Richterinnen – falls es zu einem Prozess kommt – würdigen die Einvernahmen. Die Kleinkriminelle oder die Randständige gegen mehrere Polizisten. Die sich gegenseitig decken.
Denn: Wenn es um die Untersuchung mutmasslicher Polizeiübergriffe geht, spielt der code of silence. Der Korpsgeist. Die cop culture. Man hält zusammen. Man hat nichts gesehen, nichts gehört. Wer einen anderen verpfeift, ist ein Kameradenschwein. Kaum je wagen es Polizistinnen, Anzeige gegen Kollegen zu erstatten, die sich unkorrekt verhalten haben – obwohl das gemäss Strafprozessordnung sogar vorgeschrieben wäre: «Die Strafbehörden sind verpflichtet, alle Straftaten, die sie bei ihrer amtlichen Tätigkeit festgestellt haben oder die ihnen gemeldet worden sind, der zuständigen Behörde anzuzeigen (…).»
Wie oft sich in der Schweiz Polizistinnen wegen Gewaltanwendung vor Gericht verantworten müssen, ist völlig unklar – es gibt keine statistischen Erhebungen, weder auf Bundesebene noch in den Kantonen. Praktiker gingen davon aus, sagt Evelyne Sturm, dass es zu sehr wenigen Verfahren und noch weniger Verurteilungen komme.
In Deutschland hingegen werde der Tatbestand der «Körperverletzung im Amt» separat aufgeführt. Die Statistiken zeigten, schreibt Sturm in ihrer Dissertation, dass bei diesem Delikt die Einstellungsquote deutlich höher sei als beim allgemeinen Körperverletzungsdelikt: «Untersuchungen zur Situation in Deutschland gehen davon aus, dass bei mehr als 90 Prozent der Anzeigen wegen Polizeigewalt ein hinreichender Tatverdacht verneint und das Verfahren eingestellt wird.»
Nach der Schussabgabe gegen den psychisch verwirrten Omar Mussa Ali wurden die beteiligten Polizisten übrigens nicht separiert, bevor der Staatsanwalt eintraf – obwohl dies vom Gerichtshof für Menschenrechte verlangt wird. Sie hatten genügend Zeit, sich abzusprechen, und wurden von ihren Vorgesetzten auf dem Posten betreut. Jede andere Person, die auf einen Menschen schiesst, wäre umgehend in einer Zelle gelandet. Mindestens so lange, bis sie ein erstes Mal befragt werden konnte.
«Bei einer polizeilichen Schussabgabe geht man grundsätzlich davon aus, dass diese berechtigt war – bei einer Zivilperson, die schiesst, wird das Gegenteil vermutet. Da steht der Verdacht auf ein Delikt im Vordergrund», sagt der Basler Kantonsrichter Niklaus Ruckstuhl. «Es ist ziemlich schräg, dass man Schussabgaben derart unterschiedlich behandelt, je nachdem, wer Schütze war. Das ist nicht gerechtfertigt.»
Auch für Ruckstuhl stellt es eine Minimalforderung dar, dass bei Todesfällen im Zusammenhang mit der Polizei ein ausserkantonaler Staatsanwalt untersucht – am besten werde gleich das ganze Verfahren an einen anderen Kanton abgetreten, bis und mit Prozess: «Es braucht eine deutliche Distanz.»
Geht es nach dem Willen der Berner Staatsanwaltschaft und des Obergerichts des Kantons Bern, soll auch der Tod von Kilian S. nicht untersucht werden. Der Zwanzigjährige war den örtlichen Behörden bestens bekannt: als troublemaker.
An Weihnachten 2018 hatte Kilian S. eine Party besucht, hatte Medikamente und Partydrogen konsumiert und verhielt sich auffallend unkontrolliert. Ein Sicherheitsmann rief die Polizei. Diese steckte den Mann, der sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, in eine Zelle. Ein von der Polizei aufgebotener Arzt hatte Kilian S. attestiert, dass er hafterstehungsfähig ist: Obwohl ein Drogenschnelltest auf diverse lebensgefährliche Substanzen positive Resultate ergab. Doch der Arzt entschied, der Festgenommene müsse nicht ins Spital eingeliefert werden – nicht zuletzt aus Ressourcengründen und der Kosten wegen. Er solle in der Zelle bleiben und von der Polizei alle zwei Stunden kontrolliert werden. Bei der fünften Sichtkontrolle lag Kilian S. tot im Bett.
«Was nützt eine Kontrolle alle zwei Stunden, wenn die Atmung aussetzt oder wenn es zu einem Herzstillstand kommt?», fragt Rechtsanwalt Philip Stolkin.
Eine Ungereimtheit. Eine von mehreren.
Doch die Berner Staatsanwaltschaft will keine Untersuchung führen. Sie stellte das Verfahren gegen den Arzt Anfang April ein, was vom Obergericht des Kantons Bern zweieinhalb Monate später gestützt wird. Die Mutter des Verstorbenen akzeptiert den gerichtlichen Beschluss nicht. Sie will wissen, ob der Tod ihres Sohns hätte verhindert werden können – mit einer Einweisung ins Spital. Ihr Anwalt, Philip Stolkin, ist auf mehreren Ebenen tätig. Er hat beim Obergericht ein Revisionsgesuch gestellt und zuvor schon eine Beschwerde ans Bundesgericht abgeschickt.
Das Revisionsgesuch hat folgenden Grund: Beim Aktenstudium ist dem Anwalt aufgefallen, dass an der Einstellung der Strafuntersuchung ausgerechnet jene Staatsanwältin beteiligt war, die schon mehrfach gegen Kilian S. ermittelt und dessen Bestrafung verlangt hatte. Sie kannte ihn – als Verdächtigten, als Beschuldigten. Und findet nun, sein Tod in der Polizeizelle müsse nicht näher untersucht, nicht an einem ordentlichen Strafprozess beurteilt werden.
5. Die Menschenrechte bleiben auf der Strecke
Bleibt noch die letzte unangenehme Frage. Sie betrifft unsere grundlegendsten Rechte – das Zentrum der Rechtsstaatlichkeit.
Die Aufarbeitung von polizeilichen Vorfällen sei ein Paradebeispiel dafür, wie man mit den Mitteln des Strafrechts an Grenzen stosse, sagt der Berner Professor Jörg Künzli. «Beim Strafrecht geht es immer um die Frage, ob einer bestimmten Person eine Schuld nachgewiesen werden kann. Bei den Menschenrechten hingegen geht es um die Verantwortung des Staats. Und die kann vorliegen, auch wenn es zu keiner strafrechtlichen Verurteilung kommt.»
Als Beispiel dafür nennt Künzli Demonstrationen, bei denen Gummigeschosse zum Einsatz kommen. Eine Teilnehmerin wird verletzt, sie verliert ein Auge. Doch es ist nicht nachweisbar, welcher Polizist geschossen hat. Damit endet das strafrechtliche Verfahren – niemandem kann eine Schuld nachgewiesen werden. Die Beweislage ist schlecht. Wie so oft, wenn es um Polizeigewalt geht.
In solchen Fällen, sagt Künzli, könnte der Staat eine verwaltungsrechtliche Untersuchung einleiten, die zu klären hätte, ob er – der Staat – infolge menschenrechtswidriger Handlungen seiner Polizeiorgane verantwortlich ist. «Das würde dazu beitragen, dass den Menschenrechten insgesamt mehr Beachtung geschenkt wird – und speziell im Bereich der Institution Polizei.» Diese Haltung sei in der Schweiz aber kaum verbreitet. Obwohl die rechtsstaatliche Funktion der Menschenrechte darin bestünde, der staatlichen Allmacht Grenzen aufzuerlegen.
«Der Vorschlag ist kein Misstrauensvotum an die Polizei», betont Künzli. Es gehe um den fundamentalen Grundsatz, dass die Trägerin des Gewaltmonopols einer Kontrolle zu unterliegen habe, «die das Vertrauen in ihre Arbeit fördert».
Und zwar das Vertrauen darin, dass diese Arbeit rechtskonform ausgeübt wird. Nicht mehr und nicht weniger.