Wem glaubt der Staatsanwalt eher: Einem Polizisten oder einem Kriminellen?

Cop Culture

Die Polizei greift ein – und andere kommen zu Schaden, werden verletzt oder sterben sogar. Wer untersucht, ob die Beamtinnen korrekt gehandelt haben? Und warum kommt es so selten zu Prozessen gegen Polizisten?

Von Brigitte Hürlimann (Text) und Andrey Kasay (Illustration), 03.12.2020

Das ist die Geschichte von drei Männern, die sich nicht kannten und deren Wege sich nie gekreuzt haben. Die drei verbindet eine tragische Gemeinsamkeit: Sie alle befanden sich in den Händen der Polizei, als das Schlimmste geschah.

Zwei der Männer starben in Polizei­haft, der dritte überlebte einen Polizei­einsatz nur knapp. Er wurde schwer verletzt, ist seither physisch und psychisch gezeichnet – «ein Wrack», wie er selber sagt. Dieser dritte Mann heisst Omar Mussa Ali. Dreizehnmal schossen zwei Stadtpolizisten auf ihn, als er an Weihnachten 2015 in einem psychotischen Schub mit einem Küchen­messer in der Hand durch die Strassen Zürichs irrte.

Er hatte niemanden verletzt, niemanden bedroht, wirkte apathisch und abwesend. Dann wurde er in den frühen Morgen­stunden von fünf Polizisten in schuss­sicheren Westen angehalten. Der letzte Funkspruch vor der Schiesserei lautete: «Der Neger hat ein Messer in der Hand.»

Die Staatsanwaltschaft will nicht untersuchen

Die drei Fälle haben noch eine weitere, irritierende Gemeinsamkeit: Die zuständigen Staats­anwaltschaften wollten keine ordentliche Unter­suchung anhand nehmen.

  • Im Fall der dreizehn Schüsse gegen Herrn Ali war es das Bundes­gericht, das die Zürcher Staats­anwaltschaft aufforderte, gegen einen der Schützen zu untersuchen – jenen Polizisten, der elfmal abgefeuert hatte. Alis Verteidiger, Torsten Kahlhöfer, hatte die Einstellungs­verfügung zuvor bis ans höchste Schweizer Gericht ziehen müssen.

  • Gleiches geschieht, nachdem ein Zwanzig­jähriger stirbt, der in den Medien Kilian S. genannt wird und der 2018 nach einer Party­nacht, vollgepumpt mit allen möglichen Stoffen, auf einer Berner Polizei­wache landet. Die Staats­anwaltschaft will nicht untersuchen und hat eine Einstellungs­verfügung erlassen. Diese wird vom Ober­gericht des Kantons Bern im Juni für rechtens erklärt. Der Fall ist nun vor Bundes­gericht hängig. Und neu in den Händen des Zürcher Rechts­anwalts und Menschenrechts­experten Philip Stolkin. Er ist gewillt, notfalls bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte in Strassburg zu gelangen.

  • Stolkin hatte auch den Fall des zweiten verstorbenen Mannes betreut. Es handelt sich um einen Vierzig­jährigen, der sich nach einem Verkehrs­unfall auf einem Polizei­posten in Urdorf in der Zürcher Agglomeration das Leben nahm. Die Staats­anwaltschaft wollte den Suizid in der Polizei­haft nicht untersuchen und wurde in diesem Entscheid sowohl vom Obergericht als auch vom Bundes­gericht gestützt. Stolkin zog den Fall nach Strassburg – und erstritt einen bemerkens­werten Entscheid. In seinem Urteil rügt der Gerichts­hof die Schweiz gleich zweifach. Erstens hätte die Polizei die Suizid­gefahr und die besondere Verletzlichkeit des inhaftierten Mannes erkennen und dementsprechend handeln müssen. Und zweitens hätte der Vorfall ordentlich untersucht werden müssen: von einer «ausreichend unabhängigen» Stelle.

Das ist eine Formulierung, die aufhorchen lässt.

Drei Fälle, fünf Fragen

Die Kritik aus Strassburg und überhaupt der Umgang mit den drei eingangs geschilderten Fällen zeigen auf, wie schwer man sich in der Schweiz tut, wenn Polizei­arbeit überprüft werden soll. Exemplarisch ist auch der Fall Basel, über den die Republik vergangene Woche berichtete. Dort forderte die Staats­anwaltschaft absurd hohe Strafen für Teilnehmer einer antirassistischen Demonstration – und kommt damit durch. Die Rolle der Polizei, die zur Eskalation mindestens entscheidend beigetragen hat, wird dagegen kaum hinterfragt.

Schwer tut man sich hierzulande sogar dann, wenn es um mutmassliche Polizei­gewalt, mutmassliche Übergriffe, um Tote oder Verletzte geht. Also um Fälle, bei denen der Rechts­staat jedes Interesse daran haben sollte, alles lupenrein abklären zu lassen. Sei es, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, Verbesserungen und Änderungen zu bewirken. Oder sei es, um jeglichen Verdacht auszu­räumen und damit das Vertrauen in die Polizei­arbeit zu stärken.

Das geschieht nicht oder jedenfalls nicht konsequent. Und es stellen sich deshalb fünf unangenehme Fragen:

  1. Ist die Staats­anwaltschaft unabhängig genug von der Polizei? Sie ist es, die polizeiliche Übergriffe zu untersuchen hat – doch beide gehören der Strafverfolgungs­behörde und damit der Exekutive an. Sie bekämpfen Schulter an Schulter die Kriminalität, sind aufeinander angewiesen. Und mutieren nun plötzlich zu gegnerischen Parteien.

  2. Wie lässt sich die Pflicht, heikles staatliches Handeln zu untersuchen, mit dem Ermächtigungs­verfahren vereinbaren? In den Kantonen Zürich, St. Gallen und Appenzell Innerrhoden gibt es das sogenannte Ermächtigungs­verfahren. Untersuchungen gegen Beamtinnen – und damit auch gegen Polizisten – dürfen erst eröffnet werden, wenn dies von einem Gericht erlaubt wird. Gleichzeitig verlangt die Europäische Menschenrechts­konvention, dass staatliches Handeln, das zu einer Gefährdung des Lebens führt, untersucht wird. Die Untersuchungs­pflicht gilt erst recht, wenn es zu Todes­fällen kommt oder Schwer­verletzte gibt.

  3. Wie kann sichergestellt werden, dass Unter­suchungen durch Staats­anwältinnen engagiert und unvor­eingenommen sind? In der Schweiz bleibt in der Regel der gleiche Staats­anwalt für einen Fall zuständig, auch wenn er ihn einstellen wollte und erst vom Gericht eines anderen belehrt wird.

  4. Wenn in Fällen von mutmasslicher Polizei­gewalt Aussage gegen Aussage steht – wem glauben die Staats­anwältinnen und danach die Richter eher? Den Polizistinnen, die eisern zusammen­halten, oder den anderen Beteiligten, die keine Staats­macht repräsentieren?

  5. Ist die Schweiz gewillt, die Polizei­arbeit auch unter einem menschen­rechtlichen Blickwinkel zu würdigen? Was umfassendere Unter­suchungen bedingen würde als rein strafrechtliche.

Beleuchten wir also diese Fragen der Reihe nach.

1. Eine genügend unabhängige Stelle

Es ist der Fall des vierzig­jährigen Mannes, der sich in Polizei­haft das Leben nahm, der exemplarisch aufzeigt, wie nahe sich die Polizei und die Staats­anwaltschaft stehen – räumlich und systemisch.

In jener September­nacht 2014 in der Agglomeration Zürich geschah Folgendes: Der Vierzig­jährige war mit dem Auto seines Arbeit­gebers unterwegs, war alkoholisiert und stand unter dem Einfluss von Medikamenten. Er verursachte einen Selbst­unfall, bei dem weder er noch Dritte verletzt wurden. Zwei Polizisten nahmen das Unfall­protokoll auf. Sie merkten rasch, dass der Auto­lenker betrunken war, was ein Test vor Ort bestätigte. Der Mann benahm sich unkontrolliert und zeitweise wenig kooperativ. Er rief seine Mutter an, bat sie, herzukommen, und sagte ihr am Unfallort: «Mama, sei nicht traurig, wenn ich hier sterbe.»

Mehrfach äusserte er in der Unfall­nacht Suizid­absichten und wurde trotzdem von der Polizei in eine unüberwachte Abstands­zelle im Unter­geschoss des Stützpunktes verbracht: nach einer Urin- und Blut­untersuchung im Spital und nach einer entwürdigenden Leibes­visitation, die vor dem Einschliessen stattfand. Vierzig Minuten lang befand sich der sichtlich aufgewühlte und psychisch angeschlagene Mann unbeaufsichtigt in der Zelle. Zwei Polizisten hatten Feierabend, zwei gingen essen, der fünfte blieb allein im Stützpunkt und wartete auf das Eintreffen eines Arztes. Erst als dieser eintraf und wieder genügend Polizisten auf dem Posten waren, ging man nach unten ins Erdgeschoss. Und fand den Inhaftierten tot in der Zelle vor. Er hatte sich mit seiner Jeans am Lüftungsgitter erhängt.

Dieser Todesfall in Polizei­gewahrsam hätte verhindert werden können, schreibt der Gerichts­hof für Menschen­rechte in seinem Urteil. Es habe klare, ausdrückliche und wiederholte Hinweise auf einen möglichen Suizid gegeben. Der Mann hätte problemlos und ohne unzumutbaren Aufwand überwacht werden können. Der Gerichtshof betont die besondere Fürsorge­pflicht eines Staats den Inhaftierten gegenüber – und in diesem Fall die Verletzlichkeit des betroffenen Mannes. Die Behörden hätten wissen müssen, dass eine konkrete und unmittelbare Gefahr für sein Leben bestanden habe. Sie hätten nicht einfach das übliche Prozedere anwenden dürfen.

Die Strassburger Instanz stellt in einem zweiten Schritt fest, dass die Schweiz die Menschen­rechts­konvention auch deshalb verletzte, weil der Fall nicht untersucht wurde – und zwar eben von einer «ausreichend unabhängigen» Behörde. Die Weigerung der Schweiz, diesen ungewöhnlichen Todes­fall zu untersuchen, sei «weder angemessen noch vernünftig».

Der Gerichtshof verlangt übrigens irgendeine wirksame Untersuchung, ein wirksames Justiz­system – es muss nicht zwingend ein Straf­verfahren sein. Die Behörde soll in die Lage versetzt werden, die Todes­ursache festzustellen, allfällige Verantwortliche zu identifizieren und zu bestrafen.

Der einstimmige Entscheid der sieben Strassburger Richterinnen wurde Ende September rechtskräftig. Das Bundes­amt für Justiz – Philip Stolkins Gegenpartei – hat keinen Antrag auf Neubeurteilung durch die grosse Kammer gestellt; wäre der Antrag gut­geheissen worden, hätten sich fünfzehn Richter über den Fall gebeugt.

«Die Überwachung des Urteils ist Sache des Ministerkomitees», schreibt Ingrid Ryser vom Bundes­amt für Justiz auf Anfrage der Republik. Man werde dem Komitee innert sechs Monaten Bericht erstatten. Bereits in einer früheren Mail hatte Ryser klargemacht: Das Urteil enthalte «keine Aussage über die Unabhängigkeit der Straf­verfolgungs­behörden bei Verfahren gegen Polizeibeamte».

Wirklich nicht?

Rechtsanwalt Stolkin liest den Entscheid aus Strassburg anders. In der Schweiz, sagt er, fehle es an der geforderten unabhängigen Stelle: «Polizei und Staats­anwaltschaft arbeiten Hand in Hand, oft sogar unter dem gleichen Dach. Und nun muss der Staats­anwalt plötzlich gegen Polizisten ermitteln, gegen seine Partner in der Kriminalitäts­bekämpfung. Beim Suizid in der Urdorfer Polizeihaft war es sogar die Staats­anwaltschaft des gleichen Bezirks, die den Fall übernahm. Nur schon diese räumliche Nähe ist inakzeptabel. Es ist zu keinem wirksamen, effektiven Straf­verfahren gekommen.»

Stolkin schlägt die Schaffung einer unabhängigen Behörde auf Bundes­ebene vor, die in Fällen von mutmasslichen Polizei­übergriffen eingeschaltet wird. Die sowohl ermittelt als auch untersucht – also die klassische Polizei­arbeit wie auch die Rolle der Staats­anwaltschaft übernimmt. «Die Polizei ist Teil der Exekutive, sie übt das staatliche Gewalt­monopol aus», betont Stolkin. «Das ist eine organisierte Gewalt, und wenn diese nicht kontrolliert wird, sind wir nahe an einem totalitären Regime. Deshalb muss die Polizei unbedingt von einer unabhängigen Stelle kontrolliert werden.»

Diese unabhängige Kontrolle, sagt der Zürcher Rechts­anwalt, sei die Quintessenz des Rechts­staats. In der Schweiz sei die Kontrolle besonders wichtig, denn: «Wir haben kein Bundes­verfassungs­gericht. Dabei ist gerade das polizeiliche Gewalt­monopol eng an verfassungs­mässige Rechte und Pflichten gebunden. Das wird von den Gerichts­instanzen zu wenig berücksichtigt. Genauso wenig wie die Menschenrechte.»

2. Das Ermächtigungsverfahren

Bei der Frage, ob gegen Polizistinnen untersucht werden soll, kam im Fall des Urdorfer Suizids eine Besonderheit hinzu: das Ermächtigungs­verfahren, das neben dem Kanton Zürich nur noch St. Gallen und Appenzell Innerrhoden kennen. Es hat zur Folge, dass der Staats­anwalt zuerst beim Gericht die Ermächtigung holen muss, will er gegen einen Beamten untersuchen.

Die Idee dahinter ist, dass der Staat nicht durch querulatorische Anzeigen lahmgelegt wird. Allerdings liesse sich diese Gefahr leicht beheben, indem die Staats­anwältinnen solche Anzeigen mit einer Nicht­anhandnahme­verfügung erledigen – so, wie das in der überwiegenden Mehrheit der Kantone geschieht.

Die Suiziduntersuchung endete bereits beim Ermächtigungs­verfahren. Der Staats­anwalt hatte zwar beim Zürcher Obergericht ein entsprechendes Gesuch eingereicht, verlangte jedoch, die Ermächtigung sei nicht zu erteilen. Was dann auch geschah und was das Bundes­gericht guthiess. Der Rüffel kam erst vom Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte. Dieser betont in seinem Urteil, wie tief die Schwelle beim Ermächtigungs­entscheid liegt – noch tiefer als bei der Frage, ob untersucht werden soll oder nicht. Dies gelte erst recht, wenn es um einen Todes­fall gehe. Beim Suizid im Urdorfer Polizei­posten könne nicht gesagt werden, es habe kein «Minimum an Beweisen» für ein strafbares Verhalten gegeben.

Beat Oppliger, Leitender Ober­staatsanwalt des Kantons Zürich, sieht die Sache zwar anders, nimmt die Rüge aus Strassburg aber trotzdem ernst. «Wir befinden uns hier in einem doppelt sensitiven Bereich, wenn es um die Themen Gewahrsam und Suizid geht», sagt er. «Wir haben eine Garanten­stellung für die Leute, die in Haft kommen.»

Was den Urdorfer Fall betrifft, ist er der Meinung, der Staats­anwalt habe eine genügend sorgfältige und detaillierte Voruntersuchung getätigt, bevor er den Antrag auf Nicht­ermächtigung gestellt habe: «Diese Auffassung wurde ja vom Obergericht und vom Bundes­gericht gestützt.» Alle Beteiligten seien befragt und der Sachverhalt geklärt worden: «Die Fakten lagen auf dem Tisch.»

Der Leitende Oberstaatsanwalt und ehemalige Polizei­offizier findet, das Ermächtigungs­verfahren habe durchaus Vorteile: «Jede Anzeige wird von einer gerichtlichen Stelle geprüft – und zwar von Amtes wegen, ohne dass die Anzeige­erstatter tätig werden müssen. Im anderen Fall, wenn die Staats­anwaltschaft direkt entscheidet, müssen die Geschädigten selber das Gericht anrufen, falls sie eine Nicht­anhandnahme anfechten wollen. Das eine oder das andere Verfahren mündet an der gleichen Stelle: beim Gericht.»

Der Gerichtshof für Menschen­rechte habe das Ermächtigungs­verfahren nicht beanstandet, betont Oppliger. «Stimmt, leider nicht. Das war eine verpasste Chance», sagt Evelyne Sturm, Geschäfts­leiterin des Schweizerischen Kompetenz­zentrums für Menschen­rechte an der Uni Bern. «Ich bin der Auffassung, dass sich das Ermächtigungs­verfahren nicht mit der Menschen­rechts­konvention vereinbaren lässt: Weil bei ungewöhnlichen Todes­fällen oder schweren Verletzungen zwingend untersucht werden muss.»

Die promovierte Juristin hat ihre Doktor­arbeit zum Thema «Untersuchung von polizeilicher Gewalt­anwendung» verfasst. Sie nennt darin fünf Kriterien für eine wirksame, menschen­rechts­konforme Untersuchung – die vom Gerichtshof auch im neusten Entscheid gegen die Schweiz aufgezählt werden.

  • Einleitung von Amtes wegen

  • Unverzüglichkeit

  • Unabhängigkeit

  • Angemessenheit und Ernsthaftigkeit

  • Öffentliche Überprüfbarkeit und Einbezug der Opfer und Angehörigen

Bei Herrn Ali, Kilian S. und dem vierzig­jährigen Mann, der Suizid beging, wollten die Staats­anwaltschaften nicht genau hinschauen. Sie begründeten dies damit, dass es nur schon an minimalen Hinweisen auf ein strafrechtlich relevantes Handeln fehle. Und dies, obwohl in der Schweiz der Grundsatz gilt, dass im Zweifels­fall anzuklagen ist.

Denn es liegt später an den Gerichten, einen Beschuldigten im Zweifels­fall freizusprechen: in dubio pro reo. So will es die Aufgaben­teilung zwischen den beiden Staats­gewalten, der Exekutive und der Judikative.

3. Der Staatsanwalt muss «contre cœur» anklagen

Im Fall von Omar Mussa Ali musste der zuständige Staats­anwalt erst auf Geheiss des Bundes­gerichts eine ordentliche Unter­suchung durchführen – er hatte sie einstellen wollen. Er erhob daraufhin Anklage gegen einen der Polizisten, forderte jedoch einen Freispruch. Das Bezirks­gericht Zürich folgte Ende Juni diesem Antrag und sprach den Polizisten, der elfmal auf Herrn Ali geschossen hatte, frei: ohne Wenn und Aber. Der Fall ist nun vor Obergericht hängig.

Im Kanton Zürich entspricht es dem Normalfall, dass die gleiche Staats­anwältin für einen Fall zuständig bleibt, auch wenn sie diesen zuvor einstellen wollte. «Es gehört zum Berufs­verständnis und zur Grund­haltung der Staats­anwälte, dass sie mit anderen gerichtlichen Auffassungen umgehen können und dies nicht als Niederlage empfinden. Im Gegenteil, das ist unser tägliches Brot», sagt der Leitende Ober­staatsanwalt Beat Oppliger. «Es geht natürlich auch um die Ressourcen. Es dauert viel zu lange, bis sich ein neuer Staats­anwalt in den Fall eingearbeitet hat. Das System würde ad absurdum geführt.»

Von den Ideen, eine unabhängige Behörde auf Bundes­ebene oder einen ausserkantonalen Staats­anwalt einzusetzen, hält Oppliger wenig. Es würde zu viel Zeit verstreichen, bis diese Leute vor Ort einträfen, sagt er. Und sie hätten auch viel mehr Mühe, sich mit den örtlichen Gegebenheiten und Institutionen zurecht­zufinden, als ein Staats­anwalt aus dem gleichen Kanton.

Eine Konsequenz hat Oppliger allerdings gezogen, schon vor dem Entscheid aus Strassburg: Bei Unter­suchungen gegen Mitglieder der Straf­verfolgungs­behörde entscheidet seit einigen Monaten immer die Ober­staats­anwaltschaft, wer mit dem Fall betraut werden soll. Einzige Ausnahme: Es handelt sich um einen Pikett­einsatz, wenn also die Staats­anwältinnen rasch und ungeplant ausrücken müssen. Wie das beim Suizid auf dem Urdorfer Stützpunkt der Fall war, der spätnachts geschah. Und wo der Staats­anwalt des gleichen Bezirks die Untersuchung aufnahm.

Der Basler Strafrechts­professor, Rechts­anwalt und Kantons­richter Niklaus Ruckstuhl spricht von «Zwangs­anklagen», wenn der gleiche Staats­anwalt zuständig bleibt, der einen Fall zuvor einstellen wollte: «Er hat sich schon eine Meinung gebildet und muss contre cœur doch noch anklagen. Das führt kaum zu befriedigenden Ergebnissen, und das hinterlässt in der Öffentlichkeit einen schalen Nachgeschmack.»

Darauf, sagt Ruckstuhl, müsse viel mehr geachtet werden: Ob in der Aussen­wahrnehmung zumindest der Anschein einer seriösen, unabhängigen Unter­suchung gewahrt werde. «Natürlich gibt es das Gebot von Effizienz und Beschleunigung. Doch wenn die Straf­verfolgung glaubwürdig sein will, darf man auf die Aussen­wirkung nicht verzichten. Das kostet Zeit und Geld. Aber der Aufwand lohnt sich, wenn die Unter­suchung dadurch in der Öffentlichkeit als glaubwürdig wahrgenommen wird. Das stützt das Vertrauen in die Justiz.»

4. Mehr Verständnis für die Polizei?

Warum also tun sich die Staats­anwaltschaften so schwer, wenn sie gegen Polizistinnen untersuchen sollen? Sogar dann, wenn es um Tote und Schwer­verletzte geht? Und obwohl ein Minimum an Verdacht genügt?

Evelyne Sturm, die Geschäfts­leiterin des Schweizerischen Kompetenz­zentrums für Menschen­rechte an der Universität Bern, und Jörg Künzli, Direktor des Kompetenz­zentrums und Staats- und Völkerrechts­professor, nennen ein weiteres wichtiges Stichwort: das Vorverständnis. Es bedeutet, dass die Staats­anwälte allenfalls mehr Verständnis für die Situation der Polizistinnen haben als für die Situation anderer Beteiligter – weil man im Alltag eng zusammen­arbeitet und aufeinander angewiesen ist.

Das Vorverständnis könnte auch dazu führen, dass Aussagen von Polizisten anders gewertet werden – dass sie von vornherein glaub­würdiger erscheinen. Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Rand­ständige beschwert sich wegen Übergriffen durch die Polizei oder wegen einer demütigenden Behandlung. Sämtliche am Einsatz beteiligten Polizisten versichern einhellig, es sei korrekt zu- und hergegangen. Weitere Augen­zeuginnen gibt es keine.

Wem glaubt man eher?

Ein zweites Beispiel: Eine stadt­bekannte, notorische Klein­kriminelle sagt, sie sei während der polizeilichen Befragung geohrfeigt, unter Druck gesetzt oder beschimpft worden. Video­aufnahmen von den Einvernahmen existieren nicht – das ist in der Schweiz nicht üblich, anders als in vielen anderen Staaten: ein Mangel, der einfach zu beheben wäre und viel bewirken würde. Und nun steht Aussage gegen Aussage. Staatsanwälte und später die Richterinnen – falls es zu einem Prozess kommt – würdigen die Einvernahmen. Die Kleinkriminelle oder die Rand­ständige gegen mehrere Polizisten. Die sich gegenseitig decken.

Denn: Wenn es um die Unter­suchung mutmasslicher Polizei­übergriffe geht, spielt der code of silence. Der Korpsgeist. Die cop culture. Man hält zusammen. Man hat nichts gesehen, nichts gehört. Wer einen anderen verpfeift, ist ein Kameraden­schwein. Kaum je wagen es Polizistinnen, Anzeige gegen Kollegen zu erstatten, die sich unkorrekt verhalten haben – obwohl das gemäss Strafprozessordnung sogar vorgeschrieben wäre: «Die Straf­behörden sind verpflichtet, alle Straf­taten, die sie bei ihrer amtlichen Tätigkeit festgestellt haben oder die ihnen gemeldet worden sind, der zuständigen Behörde anzuzeigen (…).»

Wie oft sich in der Schweiz Polizistinnen wegen Gewalt­anwendung vor Gericht verantworten müssen, ist völlig unklar – es gibt keine statistischen Erhebungen, weder auf Bundes­ebene noch in den Kantonen. Praktiker gingen davon aus, sagt Evelyne Sturm, dass es zu sehr wenigen Verfahren und noch weniger Verurteilungen komme.

In Deutschland hingegen werde der Tatbestand der «Körper­verletzung im Amt» separat aufgeführt. Die Statistiken zeigten, schreibt Sturm in ihrer Dissertation, dass bei diesem Delikt die Einstellungs­quote deutlich höher sei als beim allgemeinen Körper­verletzungs­delikt: «Untersuchungen zur Situation in Deutschland gehen davon aus, dass bei mehr als 90 Prozent der Anzeigen wegen Polizei­gewalt ein hinreichender Tatverdacht verneint und das Verfahren eingestellt wird.»

Nach der Schuss­abgabe gegen den psychisch verwirrten Omar Mussa Ali wurden die beteiligten Polizisten übrigens nicht separiert, bevor der Staats­anwalt eintraf – obwohl dies vom Gerichts­hof für Menschen­rechte verlangt wird. Sie hatten genügend Zeit, sich abzusprechen, und wurden von ihren Vorgesetzten auf dem Posten betreut. Jede andere Person, die auf einen Menschen schiesst, wäre umgehend in einer Zelle gelandet. Mindestens so lange, bis sie ein erstes Mal befragt werden konnte.

«Bei einer polizeilichen Schuss­abgabe geht man grundsätzlich davon aus, dass diese berechtigt war – bei einer Zivil­person, die schiesst, wird das Gegenteil vermutet. Da steht der Verdacht auf ein Delikt im Vordergrund», sagt der Basler Kantons­richter Niklaus Ruckstuhl. «Es ist ziemlich schräg, dass man Schuss­abgaben derart unterschiedlich behandelt, je nachdem, wer Schütze war. Das ist nicht gerechtfertigt.»

Auch für Ruckstuhl stellt es eine Minimal­forderung dar, dass bei Todes­fällen im Zusammen­hang mit der Polizei ein ausser­kantonaler Staats­anwalt untersucht – am besten werde gleich das ganze Verfahren an einen anderen Kanton abgetreten, bis und mit Prozess: «Es braucht eine deutliche Distanz.»

Geht es nach dem Willen der Berner Staats­anwaltschaft und des Obergerichts des Kantons Bern, soll auch der Tod von Kilian S. nicht untersucht werden. Der Zwanzig­jährige war den örtlichen Behörden bestens bekannt: als troublemaker.

An Weihnachten 2018 hatte Kilian S. eine Party besucht, hatte Medikamente und Party­drogen konsumiert und verhielt sich auffallend unkontrolliert. Ein Sicherheits­mann rief die Polizei. Diese steckte den Mann, der sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, in eine Zelle. Ein von der Polizei aufgebotener Arzt hatte Kilian S. attestiert, dass er hafterstehungs­fähig ist: Obwohl ein Drogen­schnelltest auf diverse lebens­gefährliche Substanzen positive Resultate ergab. Doch der Arzt entschied, der Festgenommene müsse nicht ins Spital eingeliefert werden – nicht zuletzt aus Ressourcen­gründen und der Kosten wegen. Er solle in der Zelle bleiben und von der Polizei alle zwei Stunden kontrolliert werden. Bei der fünften Sicht­kontrolle lag Kilian S. tot im Bett.

«Was nützt eine Kontrolle alle zwei Stunden, wenn die Atmung aussetzt oder wenn es zu einem Herz­stillstand kommt?», fragt Rechts­anwalt Philip Stolkin.

Eine Ungereimtheit. Eine von mehreren.

Doch die Berner Staats­anwaltschaft will keine Unter­suchung führen. Sie stellte das Verfahren gegen den Arzt Anfang April ein, was vom Obergericht des Kantons Bern zweieinhalb Monate später gestützt wird. Die Mutter des Verstorbenen akzeptiert den gerichtlichen Beschluss nicht. Sie will wissen, ob der Tod ihres Sohns hätte verhindert werden können – mit einer Einweisung ins Spital. Ihr Anwalt, Philip Stolkin, ist auf mehreren Ebenen tätig. Er hat beim Obergericht ein Revisions­gesuch gestellt und zuvor schon eine Beschwerde ans Bundes­gericht abgeschickt.

Das Revisions­gesuch hat folgenden Grund: Beim Akten­studium ist dem Anwalt aufgefallen, dass an der Einstellung der Straf­untersuchung ausgerechnet jene Staats­anwältin beteiligt war, die schon mehrfach gegen Kilian S. ermittelt und dessen Bestrafung verlangt hatte. Sie kannte ihn – als Verdächtigten, als Beschuldigten. Und findet nun, sein Tod in der Polizei­zelle müsse nicht näher untersucht, nicht an einem ordentlichen Straf­­prozess beurteilt werden.

5. Die Menschenrechte bleiben auf der Strecke

Bleibt noch die letzte unangenehme Frage. Sie betrifft unsere grund­legendsten Rechte – das Zentrum der Rechtsstaatlichkeit.

Die Aufarbeitung von polizeilichen Vorfällen sei ein Parade­beispiel dafür, wie man mit den Mitteln des Straf­rechts an Grenzen stosse, sagt der Berner Professor Jörg Künzli. «Beim Strafrecht geht es immer um die Frage, ob einer bestimmten Person eine Schuld nachgewiesen werden kann. Bei den Menschen­rechten hingegen geht es um die Verantwortung des Staats. Und die kann vorliegen, auch wenn es zu keiner straf­rechtlichen Verurteilung kommt.»

Als Beispiel dafür nennt Künzli Demonstrationen, bei denen Gummi­geschosse zum Einsatz kommen. Eine Teilnehmerin wird verletzt, sie verliert ein Auge. Doch es ist nicht nachweisbar, welcher Polizist geschossen hat. Damit endet das straf­rechtliche Verfahren – niemandem kann eine Schuld nach­gewiesen werden. Die Beweis­lage ist schlecht. Wie so oft, wenn es um Polizei­gewalt geht.

In solchen Fällen, sagt Künzli, könnte der Staat eine verwaltungs­rechtliche Untersuchung einleiten, die zu klären hätte, ob er – der Staat – infolge menschen­rechts­widriger Handlungen seiner Polizei­organe verantwortlich ist. «Das würde dazu beitragen, dass den Menschen­rechten insgesamt mehr Beachtung geschenkt wird – und speziell im Bereich der Institution Polizei.» Diese Haltung sei in der Schweiz aber kaum verbreitet. Obwohl die rechts­staatliche Funktion der Menschen­rechte darin bestünde, der staatlichen Allmacht Grenzen aufzuerlegen.

«Der Vorschlag ist kein Misstrauens­votum an die Polizei», betont Künzli. Es gehe um den fundamentalen Grundsatz, dass die Trägerin des Gewalt­monopols einer Kontrolle zu unterliegen habe, «die das Vertrauen in ihre Arbeit fördert».

Und zwar das Vertrauen darin, dass diese Arbeit rechts­konform ausgeübt wird. Nicht mehr und nicht weniger.