Sie provozieren immer wieder Streit, diese Covid-Zahlen. Was sagen sie uns – jetzt?
Mit Statistiken zu beurteilen, wo wir in der Pandemie gerade stehen, ist nicht trivial. Manchmal sieht es gar so aus, als würde eine Datenreihe der anderen widersprechen. Zwei Wissenschaftlerinnen zum aktuellen Stand der Dinge.
Von Marie-José Kolly, 21.09.2020
«BAG meldet XXX neue Fälle.» Jeden Tag trifft die Kurzmeldung ein, XXX steht inzwischen für Zahlen im mittleren dreistelligen Bereich. Ist das jetzt die «zweite Welle»? Das fragten wir uns an dieser Stelle schon Mitte Juli.
Die Antwort, damals: Eine solche «Welle» ist nicht formal definiert, der Übergang zwischen einem kurzen Aufflackern der Neuinfektionen und dem Beginn eines Flächenbrands ist fliessend. Doch es gibt Statistiken, anhand deren sich epidemiologische Trends erkennen lassen.
Die Trends, damals: Anlass genug für verschiedene Epidemiologen sowie die wissenschaftliche Taskforce des Bundes, alarmiert zu sein. Sie sagten jedoch auch: Schwer zu sagen, wie es weitergeht, rückblickend weiss man dann mehr. (Ein guter Grund übrigens, vorausschauend vorsichtig zu sein.)
Und jetzt, zwei Monate später?
Was in der Zwischenzeit passiert ist
Für eine ganz grundlegende Lagebeurteilung schauen wir erneut auf die rohen Fallzahlen: die Zahl der Personen, die an einem bestimmten Tag positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden.
Sie erinnern sich vielleicht: An dieser Stelle fügen wir jeweils eine ganze Reihe von Disclaimern an. Denn diese Daten
unterschätzen die tatsächliche Verbreitung der Epidemie, und sie
variieren mit der Testhäufigkeit,
mit der Teststrategie
sowie mit der Intensität des Contact-Tracings.
Im Detail können Sie methodische Einschränkungen hier nachlesen. Und, nach einem kurzen Blick auf die rohen Fallzahlen, für ein umfassenderes Bild zu weiteren Statistiken scrollen.
Rückblickend muss man sagen: Ein kurzes Aufflackern war das nicht, damals im Juli. In der Zwischenzeit ist die Zahl der positiv Getesteten fast jede Woche weiter gestiegen.
Das erwähnte Defizit der variierenden Testhäufigkeit kann aufgefangen werden, indem man den Anteil der positiv ausgefallenen Tests an allen durchgeführten Tests betrachtet:
Was damit nicht aufgefangen werden kann, ist das Defizit der variierenden Teststrategie: Würde sie nicht variieren und würde man zufällige 10’000 Menschen pro Tag testen, so legte die stagnierende Positivitätsrate nahe, dass auch die tatsächlichen Infektionszahlen nicht weiter ansteigen.
Aber getestet wird nicht zufällig. Getestet werden Personen mit Symptomen, die auf Covid-19 zutreffen könnten. «Und vor kurzem hat sich etwas verändert: Der September und die Schule haben begonnen», sagt Tanja Stadler, Bio-Mathematikerin an der ETH Zürich. Es ist kühler geworden – und Kinder haben wieder mehr Kontakt. Damit werden wohl besonders viele Menschen mit Symptomen getestet, die – das weiss man erst nach dem Test – lediglich von Erkältungen herrühren.
Das erhöht die Zahl der negativen Tests. Gleichzeitig hat auch die Gesamtzahl der durchgeführten Tests zugenommen. Den unabhängigen Einfluss der verschiedenen Faktoren einzuschätzen, ist also schwierig.
Worauf es wirklich ankommt
Egal, welche Statistik man betrachte, sagt Stadler, man sehe jeweils dasselbe übergeordnete Muster:
Tiefstand im Juni, Zunahme im Juli. Danach, je nach Statistik, weitere Zunahme oder Stagnation. Keine Abnahme.
Dramatisch sieht das zwar nicht aus. Aber, sagt Stadler, und das sei der wichtige Punkt: Die verschiedenen Statistiken zeigen über den Sommer hinweg eine Zunahme. Das führt dazu, dass der Reproduktionswert Rt – der angibt, wie viele weitere Personen eine Infizierte ansteckt – knapp über 1 liegt.
Ein Reproduktionswert knapp über 1 heisst: zwar langsames, aber dennoch exponentielles Wachstum. Die Fallzahlen verdoppeln sich nicht mehr innerhalb von wenigen Tagen, wie im Frühling, sondern innerhalb von einigen Wochen. «Und das ändert sich nicht, solange wir nichts dagegen tun», sagt Stadler.
Schauen wir dem Prozess lange genug zu, drohen die Infektionszahlen ausser Kontrolle zu geraten. Denn die Ressourcen für die Kontaktnachverfolgung sind endlich, und das sind auch die Spitalbetten. Schon jetzt sehen manche Kantone wieder Engpässen beim Contact-Tracing entgegen, schon jetzt werden die Spitalbetten in manchen Regionen Frankreichs wieder knapp.
«Mitte Mai hat ein Trend hin zu mehr Infektionen begonnen, und eine Kehrtwende ist nicht in Sicht», sagt Stadler am Telefon zur Republik.
Was die Spitalbetten betrifft, könnte man nun einwerfen: Die tägliche Zahl der Spitaleinweisungen von Patienten mit Covid-19 hat zwar Anfang Juli ebenfalls zugenommen, danach hat sich in der Schweiz aber nicht mehr viel bewegt. Pro Tag wurden seither im Schnitt rund sieben Personen eingeliefert.
Die Pflegekapazitäten in Spitälern sind im Moment also bei weitem noch nicht ausgelastet.
Aber erstens hinkt die Zahl der Spitaleinweisungen den Infektionszahlen etwas hinterher: Es dauert ein paar Tage, bis jemand so krank wird, dass er ins Spital muss. Zweitens können auch Patientinnen, die nie im Spital waren, unter Covid-19-Langzeitfolgen leiden – es ist also auch aus dieser Perspektive sinnvoll, Infektionen nicht nur bei Personen aus Risikogruppen zu vermeiden, sondern bei allen. Und drittens ist die Zahl der Spitaleinweisungen im Moment so niedrig, weil sich das Virus im Sommer in anderen Bevölkerungsgruppen ausgebreitet hat als im Frühling.
Anfang Jahr haben sich mehr ältere Menschen angesteckt, viele von ihnen wurden schwer krank und mussten ins Spital. In den vergangenen Monaten haben sich vor allem jüngere Menschen infiziert, die häufig mildere Krankheitsverläufe erleben.
Aber Personen aus Risikogruppen lassen sich nicht so einfach abschirmen: Inzwischen verbreitet sich Sars-CoV-2 langsam, aber sicher wieder bei älteren Menschen. Das sieht man in der folgenden Grafik daran, dass der September-Balken höhere Anteile in dunkleren Schattierungen – die für ältere Infizierte stehen – enthält als der Balken, der die im Sommer aufgetretenen Infektionen abbildet.
In mehreren Kantonen gab es in den vergangenen Wochen Todesfälle in Altersheimen, im Kanton Fribourg gleich in mehreren. Diese Entwicklung war absehbar. Schon Mitte August hatte die Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft gewarnt: «Der Anstieg der Infektionen bei jüngeren Menschen ist eine Alarmglocke, noch ohne die Tragödie von hohen Todesfallzahlen.»
Was wir daraus schliessen können
Die Situation ist von Region zu Region unterschiedlich: In manchen Kantonen blieben die Fallzahlen generell niedrig, anderswo konnten sie in jüngster Zeit wieder eingedämmt werden. Zuversicht ist durchaus angebracht, und die Strategien könnten noch effizienter eingesetzt werden.
Das Grundsatzproblem bleibt aber bestehen: Je mehr Infektionen vorliegen, desto schwieriger ist es, die Epidemie via Contact-Tracing und weiteren Massnahmen wieder einzudämmen – etwa mit einer breiter eingesetzten Maskenpflicht oder Einschränkungen bei gewissen Veranstaltungstypen.
Obwohl im Moment nur wenige Menschen in der Schweiz schwer an Covid-19 erkranken, besteht ein gewisser Handlungsbedarf. Man könnte nun:
Nichts tun. Dann steigen die Fallzahlen vermutlich weiter, die Spitäler füllen sich, mehr Menschen sterben – und irgendwann braucht es wieder grössere Einschränkungen.
Jetzt handeln. Dann wird der Aufwärtstrend gebremst. Bestenfalls stellt sich gar ein Abwärtstrend ein.
Eigentlich bräuchte es wenig, um mit Variante 2 zu einem Zwischenerfolg zu kommen: «Wir müssten lediglich 1 von 10 Infektionen verhindern, um die Reproduktionszahl auf 1 zu bringen und damit die Fallzahlen zu stabilisieren», sagt Bio-Mathematikerin Stadler. Eine kleine Anstrengung, um ein Entgleiten der Kontrolle frühzeitig zu verhindern, im Vergleich etwa zum März, wo man hierfür etwa 5 von 10 Infektionen hätte verhindern müssen.
Die Anstrengung würde sich laut Forscherinnen lohnen, denn jetzt kommt der Herbst und mit ihm kühlere, feuchtere Luft, welche die Verbreitung des Virus begünstigt. «Ich werde nervöser, je näher der Winter rückt», sagt Epidemiologin Hodcroft. Das Wetter sei im Sommer so gut gewesen: Man habe wenig Zeit in Innenräumen verbringen müssen, und wenn, dann die Fenster offen lassen können, «sogar in Grossbritannien».
Laut Hodcroft hätten die Zahlen eigentlich niedriger bleiben müssen. Sie habe gehofft, sie bekäme die Zahlen, die sie im Sommer gesehen hat, erst im Herbst zu sehen. Der Herbst-und-Winter-Effekt käme nun bald noch obendrauf. «Es wird schlechter werden, sobald es kälter wird.»
Worauf die Epidemiologin nun hofft: Dass die frühen Fallzunahmen dazu führen, dass sich Bund und Kantone nun rechtzeitig die richtigen Strategien überlegen. «Ich versuche, optimistisch zu bleiben», sagt sie.
In diesem Sinn: Werden Sie nicht panisch, aber bleiben Sie vorsichtig. Was Sie tun können, haben wir hier zusammengefasst. Die Kurzversion:
Bleiben Sie auf Abstand.
Waschen Sie sich nach wie vor häufig die Hände.
Halten Sie Ihre Maske griffbereit.
Wenn es geht: Treffen Sie Ihre Mitmenschen draussen.
Wenn nicht: Lüften Sie Innenräume regelmässig.
Helfen Sie den Contact-Tracerinnen, indem Sie die Swiss-Covid-App installieren oder Tagebuch über Ihre Kontakte führen.
Bleiben Sie gesund.