Ab wann ist ein Anstieg der Covid-Infektionen eine «zweite Welle»?
Die Fallzahlen steigen seit einigen Wochen. War das zu erwarten, oder ist es Grund zur Sorge? Fünf Grafiken zeigen, wie sich epidemiologische Trends erkennen lassen.
Von Marie-José Kolly, 13.07.2020
Mit dem Coronavirus ist es so eine Sache: Man weiss lange nicht so recht, woran man ist – und wenn man es sicher weiss, ist es schon zu spät.
Vor einer Woche, als wir die Fragestellung für diesen Beitrag festlegten, fragten wir uns: Bleiben wohl die Infektionen bis zum Publikationszeitpunkt einigermassen konstant? Werden sie variieren, mal höher, mal niedriger ausfallen? Oder verdoppeln sie sich nun stetig rund jede Woche?
Inzwischen sind wir zwar noch nicht wahnsinnig viel schlauer. Aber wir haben immerhin eine klare Vorstellung davon, welche Statistik für welches Szenario spricht: welche für das kurze Aufflackern – und welche für den Beginn eines Flächenbrands.
Die Fallzahlen
Vorweg: Das Bundesamt für Gesundheit schreibt sinngemäss, der Übergang zwischen Aufflackern und Flächenbrand sei fliessend. Und auch die Epidemiologin Emma Hodcroft von der Universität Basel sagt zur Republik: «Es gibt keine formale Definition dessen, was genau eine ‹zweite Welle› ist.»
Wir müssen uns anhand verschiedener Kriterien an die Frage herantasten. Also haben wir Epidemiologinnen gefragt, wie sie denn vorgehen, wenn sie sich fragen: Müssen wir uns Sorgen machen?
Für eine ganz grundlegende Lagebeurteilung schauen wir zunächst auf die rohen Fallzahlen. Das heisst: die Zahl der Personen, die an einem bestimmten Tag positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden.
Für die vergangenen Wochen zeigt die Grafik einen erneuten Anstieg der Neuinfektionen. «Ich bin seit Anfang Juni beunruhigt», sagt Epidemiologe Christian Althaus von der Universität Bern zur Republik.
Er sagt aber auch, man müsse den Anstieg vorsichtig interpretieren.
Manche der methodischen Disclaimer zu solchen Grafiken kennen Sie mittlerweile vermutlich (und wenn Sie sich näher dafür interessieren, empfehlen wir Ihnen diesen Artikel):
Die Daten unterschätzen die tatsächliche Verbreitung der Epidemie: Viele infizierte Personen werden gar nie getestet.*
Diese rohen Daten sind verzerrt, denn sie variieren zusammen mit der Testhäufigkeit: Erstens werden etwa am Wochenende weniger Tests durchgeführt (aber nicht unbedingt weniger Menschen krank). Und zweitens sind seit der zweiten Juniwoche mehr Tests durchgeführt worden. In einer grösseren Stichprobe findet man tendenziell auch mehr Fälle. Hierzu gleich mehr.
Die Daten variieren auch wegen des Contact-Tracing: Durch die vermehrte Nachverfolgung lassen sich an manchen Tagen grössere Teile von Infektionsketten ausfindig machen. So können die Werte kurz hochschnellen und dann wieder fallen.
* Dem könnte man etwas entgegenwirken, indem die Entwicklung der Todesfälle betrachtet wird. Da sie den Neuinfektionen zeitlich aber naturgemäss hinterherhinkt, eignet sie sich nicht zur frühen Einschätzung von allfälligen Trends.
Die Positivitätsrate
Das Problem mit der Testhäufigkeit kann man angehen, indem die positiven Testresultate als Anteil aller durchgeführten Tests dargestellt werden. Die sogenannte Positivitätsrate zeigt: Die Infektionen steigen – zwar bisher nur leicht, dafür aber ziemlich gleichmässig.
Die Positivitätsrate hat ebenfalls Makel: Manche Personen werden mehrfach getestet, sie erscheinen in den Daten also mehrmals.
Dennoch deute die Gleichmässigkeit auf einen epidemiologischen Trend hin, sagt Althaus. Also darauf, dass es tatsächlich mehr Infizierte gibt – und man nicht lediglich mehr von ihnen findet, weil man mehr testet. Andernfalls würden Epidemiologen in den Daten viel mehr Variation, also mehr Auf und Ab erwarten. Auch Hodcroft sagt: «Fallzahlen, die jeden Tag höher ausfallen, sind eines der Anzeichen für einen weiteren grossen Ausbruch.»
Das wieder aufgenommene Contact-Tracing führt auch dazu, dass nun gezielter getestet werden kann, weil man Hinweise auf mögliche Infektionsketten erhält. Kommt dadurch also lediglich ein grösserer Teil der Dunkelziffer ans Licht? Steigt die Positivitätsrate, weil wir präziser hinschauen können?
Die Hospitalisierungen
Wenn dem so wäre, so würde man lediglich einen grösseren Anteil der milden Fälle entdecken. Und so müsste die Zahl der Spitaleinweisungen konstant bleiben. Aber auch sie hat wieder zugenommen: Das passt zur Trendwende.
Die Zunahme ist aber gering. In den ersten zehn Julitagen mussten bisher nur 26 Personen wegen Covid-19 ins Spital. Zum Vergleich: Beim Höhepunkt der ersten Welle waren es an einem Tag über 200. Wir sind von den damaligen Verhältnissen also noch weit entfernt.
Aber die Zahl der Spitaleinweisungen wird vermutlich noch steigen, denn sie hinkt den Infektionszahlen immer etwas hinterher: Zwischen den ersten Symptomen und dem Zeitpunkt, wo jemand so krank wird, dass sie ins Spital muss, vergeht etwas Zeit. Bei der ersten Welle lagen die Höchstwerte der Spitaleinweisungen eine knappe Woche hinter den Höchstwerten bei den Neuinfektionen.
In das Bild einer Trendwende passt ebenfalls, dass der Reproduktionswert Rt, den die ETH aufgrund der Infektionszahlen modelliert, wieder gestiegen ist.
Eine Person steckt also wieder deutlich mehr als eine weitere an. Und 100 Personen stecken mehr als 100 Personen an: Ende Juni steckten 100 infizierte Personen zwischen rund 138 und 167 Mitmenschen an. Und diese ihrerseits wieder so viele. Je höher Rt, desto schneller wächst die Epidemie. Ein Wert von Rt über 1 bedeutet, dass sich die Epidemie exponentiell ausbreitet.
Der Reproduktionswert Rt verändert sich mit dem Verhalten der Gesellschaft: Er kann kurzfristig hochschnellen, wenn sich zum Beispiel in einem Nachtclub viele Personen gleichzeitig anstecken. Und er kann sinken, wenn diese Personen in Quarantäne bleiben, damit sie keine weiteren anstecken.
Wo Rt heute steht, wissen wir noch nicht. Klar ist aber: Will die Schweiz diese Epidemie unter Kontrolle halten, muss der Wert wieder unter 1 fallen.
Die Streuung
Für eine drohende breitere Welle spricht, dass die zunehmenden Fallzahlen nicht lediglich auf Hotspots in einigen wenigen Kantonen zurückgehen. In den zwei vergangenen Wochen gab es in jedem Kanton ausser Appenzell Innerrhoden mindestens eine neue bestätigte Ansteckung, meist neue Fallzahlen im zweistelligen Bereich. Und:
Die breite Streuung ist problematisch. «In vielen Regionen sehen wir neue Übertragungsherde», schreibt so die wissenschaftliche Taskforce des Bundes. «Insbesondere in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte nehmen die Fallzahlen exponentiell und mit hoher Geschwindigkeit zu.»
Es sei eindeutig etwas anderes, ob man viele neue Fälle in einer bestimmten Fabrik oder einer bestimmten Siedlung beobachte oder über das ganze Land verteilt, sagt auch Emma Hodcroft. «500 neue Fälle in einer Fabrik sind bad news», sagt sie. Aber in so einer Situation sei es einfacher, die betroffenen Personen zu finden und in Quarantäne zu schicken.
Etwas salopp ausgedrückt: 500 Fälle in einer Fabrik heisst, dass man diese Fabrik schliesst. 500 Fälle über die Schweiz verteilt wären viel schwieriger einzudämmen und würden dazu führen, dass wieder breitere Massnahmen infrage kommen.
Was nun – Welle oder keine Welle?
Vermutlich fragen wir alle uns nicht zum letzten Mal, ob uns angesichts von zunehmenden Neuinfektionen ein Flächenbrand wie in Israel bevorsteht. Oder ob diese Infektionen lediglich zu einem kurzfristigen Aufflackern gehören. Einem Aufflackern, das die Strategie TTIQ – Testen, Contact-Tracing, Isolation und Quarantäne – kontrollieren kann. Südkorea bringt lokale Hotspots mit dieser Methode jeweils rasch wieder unter Kontrolle.
Die Science-Taskforce des Bundesrats warnt: «Sars-CoV-2-Infektionen nehmen derzeit in der Schweiz mit alarmierender Geschwindigkeit zu», schreibt sie in ihrem Briefing vom 3. Juli. Mit «Type of document: Alert» ist es überschrieben. Die Autoren nehmen darin ebenfalls Bezug auf die Zunahme der bestätigten Infektionen, die Zunahme der Spitaleinweisungen, die hohen Reproduktionszahlen und die regionale Streuung.
Auch Christian Althaus ist alarmiert. «Es passt alles ins Schema», sagt er. Und es sei auch nicht erstaunlich: Kaum ein Land habe so schnell und mit so wenigen Zusatzmassnahmen gelockert wie die Schweiz. Emma Hodcroft ist froh, dass die Fallzahlen in den letzten paar Tagen nicht erneut stark angestiegen sind. Und sie sagt: «Eine zweite Welle ist nicht unvermeidlich. Wir können auf dieses Aufflammen der Epidemie reagieren und dafür sorgen, dass es bei lokalen Ausbrüchen bleibt.»
Beide Wissenschaftler sagen aber: Schwer zu sagen, wie sich die Lage weiter entwickeln wird. Für ein definitives Fazit müssen wir also abwarten. Das sieht übrigens auch das Bundesamt für Gesundheit so: Oft könne man erst nachträglich beurteilen, ob ein Fallzahlenanstieg vorübergehend sei oder Vorbote einer neuen Pandemiewelle über eine längere Zeitspanne.
Was wir in der Zwischenzeit tun können: TTIQ so gut wie möglich umsetzen. Davon wird abhängen, ob es einen Flächenbrand gibt – oder doch nicht.