Die Covid-Fallzahlen steigen wieder an – verspielen wir gerade, was wir erreicht haben?
Die Freude über die Lockerungen weicht der Furcht vor einer zweiten Welle. Ist das Panik oder berechtigte Sorge? Haben wir etwas gelernt aus dem Lockdown – oder sind wir zu nachlässig?
30.06.2020, Update: 02.07.2020
Die Gastronomie machte Druck, die Tourismusbranche machte Druck, grosse Medien machten Druck: Es konnte nicht schnell genug gehen mit dem Ende des «Lockdown light». Und irgendwann schwenkte auch der Bundesrat in rasantem Tempo auf Öffnungskurs um. «Wir haben Lust auf einen schönen Sommer», sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga – und erfasste damit die allgemeine Stimmungslage ziemlich gut. Aber auch richtig?
«Weniger Regulierung führt in der Regel nicht zu mehr Disziplin», warnte unser Kolumnist Daniel Binswanger Ende Mai. Doch da war die Öffnungseuphorie schon nicht mehr zu bremsen.
Und jetzt?
Keine Überraschung: Die Fallzahlen steigen wieder. Das haben die Experten nach den Lockerungen erwartet. Steigen sie zu schnell zu stark? Um dazu ein abschliessendes Urteil zu fällen, ist es noch zu früh. Gestern waren es 137 – so viele wie seit dem April nicht mehr.
Der Bundesrat scheint jedenfalls bereits beunruhigt – und führt eine landesweite Maskenpflicht im ÖV ein. Ausserdem müssen gewisse Einreisende zwingend in Quarantäne. Die Details lesen Sie im aktuellen Briefing aus Bern.
Eher überraschend: Die Kantone sind schlecht vorbereitet, obwohl ihnen die Aufgabe zukommt, das Krisenmanagement bei einer zweiten Welle mit lokalen Ausbrüchen zu übernehmen. Recherchen des «SonntagsBlick» zeigten: Vielen Kantonen fehlt noch immer ein kohärentes Konzept.
Mitte April schrieben wir nach vielen Gesprächen mit vielen Expertinnen:
Der Ausstieg ist kein Sprint, sondern ein Marathon.
Der Ausstieg muss behutsam passieren.
Der Ausstieg ist ein Trial-and-Error-Prozess.
Kurz darauf ging die Regierung in den Sprint über. Lockerte schneller und massiver als erwartet. Und beim Trial-and-Error-Prozess zeigen sich eher erstaunliche «Errors»: So verfügten die Zürcher Gesundheitsbehörden beim Superspreader-Vorfall in einem Club nicht einmal über den Kontakt zu den Verantwortlichen – das abgenommene Schutzkonzept sah das nicht vor.
Immerhin: Die App wird wie wild heruntergeladen. Irgendwann im Verlauf der nächsten Tage wird sie wohl bereits auf einer Million Smartphones still und leise protokollieren, wer da wem länger nahe kam.
Doch die App allein löst noch kein Problem, wie unsere Autorin Katharin Tai vor genau einem Monat mit Blick nach Asien ausführte. Ihr Fazit: «Erfolgreiches Contact-Tracing braucht Strategien, die in der Schweiz bisher noch nicht einmal diskutiert werden.» Zum Beispiel stellt sich die Frage: Funktioniert das freiwillige Hinterlassen von Kontaktdaten nach einem Restaurant- oder Clubbesuch? Oder: Reicht freiwillige Selbstisolation aus? Und wie umgehen mit Personen, die eine Quarantäne ablehnen? Alles wichtige Fragen, die weitgehend ungeklärt sind.
Verspielen wir gerade, was wir erreicht haben?
Ist das Konzept der Freiwilligkeit und der Eigenverantwortung gescheitert? Geht es wirklich nur mit Zwang? Was erhoffen Sie sich von den neuen Massnahmen – namentlich der Maskenpflicht?
Oder ist alles halb so schlimm und alles im Griff?
Ihre Meinung interessiert uns: Debattieren Sie mit Ihren Mitverlegerinnen und der Redaktion.