Briefing aus Bern

Maskenpflicht kommt, noch ein Tiefschlag für Lauber – und der 1. August wird … na ja

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (108).

Von Philipp Albrecht, Dennis Bühler, Bettina Hamilton-Irvine und Carlos Hanimann, 02.07.2020

Nun also doch: Der Bundesrat erlässt eine Masken­pflicht für den öffentlichen Verkehr. Sie gilt ab kommendem Montag und für alle Passagiere ab 12 Jahren, die in Zügen, Trams, Bussen, Bergbahnen, Seilbahnen und auf Schiffen reisen. Der Bundesrat reagiert damit auf die Beobachtung, dass sich nur wenige Personen an die «dringende Empfehlung» gehalten haben, eine Maske zu tragen, wann immer der empfohlene Abstand von eineinhalb Metern nicht eingehalten werden kann.

«Geht doch», twittert Epidemiologe Christian Althaus gestern Nachmittag, kaum hat der Bundesrat seinen Beschluss verkündet. Und versieht seinen Tweet mit einem Hashtag in Mundart: #eifachallesesbitzelispoht

Tatsächlich haben die meisten Expertinnen aus der Wissenschaft schon seit Wochen eine Masken­pflicht gefordert (zumal Masken gemäss neueren Studien nicht nur andere, sondern auch den Träger schützen). In den letzten Tagen formulierten sie ihre Forderung zunehmend ultimativer. Kein Wunder: Die Fallzahlen steigen, seit der Bundesrat vor knapp zwei Wochen die ausser­ordentliche Lage aufgehoben und die Mehrzahl der Corona-Einschränkungen gelockert hat. Steckten sich am Montag gemäss dem Bundesamt für Gesundheit in der Schweiz und in Liechtenstein noch 35 Personen mit dem Coronavirus an, wurden am Dienstag 62 und gestern 137 Neuinfektionen gemeldet. Bereits in der vergangenen Woche hatte die Zahl der bestätigten Erkrankungen von Tag zu Tag zugenommen.

Noch am Montag deutete dennoch wenig auf ein Umdenken der Landes­regierung hin: Nach einem Treffen mit kantonalen Gesundheits­direktoren schien sich Bundesrat Alain Berset eher aus der Verantwortung stehlen zu wollen – worauf Epidemiologe Althaus auf Twitter heftige Kritik übte: «Ich befürchte dieser Tag wird uns als derjenige in Erinnerung bleiben, an dem wir es verpasst haben den derzeitigen Verlauf der Epidemie frühzeitig abzuwenden.»

Die drei wichtigsten Fragen zur gestern beschlossenen Maskenpflicht:

  1. Warum besteht sie erst ab Montag? Weil die Mühlen der Politik langsam mahlen – erst mal wird nun heute Donnerstag eine Verordnung ausgearbeitet. Das gemächliche Tempo ruft Kritiker auf den Plan. «Ab dem 6. Juli … Warum nicht jetzt?», fragt via Twitter etwa Matthias Egger, Leiter der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes.

  2. Werden Passagiere ohne Masken gebüsst? Nein – trotz Masken­pflicht setzt der Bundesrat weiterhin auf Eigen­verantwortung (und sozialen Druck). Falls Billett­kontrolleure oder das Sicherheits­personal einem Passagier ohne Maske begegnen, werden sie ihn anweisen, das Verkehrsmittel zu verlassen. Nur wer sich dieser Aufforderung widersetzt, kann allenfalls gebüsst werden.

  3. Was sagen die Kantone? Föderalismus hin, Föderalismus her – die Kantone sind froh, übernimmt der Bundesrat das Zepter wieder. Die Massnahme auf nationaler Ebene sei «sinnvoll», teilten die Gesundheitsdirektoren gestern mit. Die NZZ, Banner­trägerin eines schlanken Zentral­staats, tadelte sie umgehend für ihre fehlende Courage.

Der Bundesrat hat gestern weitere Corona-Entscheidungen gefällt. Die wichtigsten im Überblick:

  • Quarantäne: Personen, die aus Risiko­ländern und -gebieten in die Schweiz einreisen, müssen für 10 Tage in Quarantäne (wobei auch da an die Eigen­verantwortung appelliert wird). Das BAG wird eine entsprechende Liste erstellen und wohl noch heute präsentieren. Bereits scheint klar, dass unter anderem Schweden, Serbien und Kosovo darauf stehen werden.

  • Kurzarbeitsentschädigung: Firmen sollen sie länger beziehen können als bisher – die Höchstbezugs­dauer wird von 12 auf 18 Monate verlängert. Damit will der Bundesrat einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit entgegenwirken.

  • Öffentlicher Verkehr: Der Bundesrat schlägt vor, die Verluste im Personen- und Schienen­güterverkehr mit 800 Millionen Franken abzufedern. Zudem hat er die Darlehens­obergrenze für die SBB um mehr als eine halbe Milliarde Franken erhöht. In finanzieller Schieflage befänden sich die Bundes­bahnen aber nicht. «Kein Problem», sagte Finanz­minister Ueli Maurer an der Medienkonferenz.

  • Bars und Clubs: Hier wird der Bundesrat nicht aktiv. Laut Bundes­präsidentin Simonetta Sommaruga sind bei dem Thema die Kantone in der Pflicht. Zürich hat bereits reagiert und die Zutritts­regeln verschärft: Besucherinnen und Besucher müssen neu einen Ausweis vorzeigen und ihre Handynummer überprüfen lassen. Fragt sich, weshalb dies nicht von Anfang an Pflicht war. Der Bund nämlich wusste seit Wochen um die Gefährlichkeit von Clubs, wie am Wochenende publik wurde. Distanz­regeln sowie Schutz­ausrüstung seien in Diskotheken «nicht anwendbar», heisst es in einer BAG-Analyse.

Übrigens: Der Bundesrat verabschiedet sich nun in die Sommerferien – zu seiner nächsten ordentlichen Sitzung trifft er sich erst am 12. August. Selbst­verständlich bleibe die Regierung in den nächsten sechs Wochen dennoch handlungsfähig und könne bei Bedarf in kürzester Zeit versammelt werden, versicherte Sommaruga gestern. Denn: «Wir wissen, dass Ferien in diesem Jahr für uns höchstens in der Schweiz möglich sind.»

Tatsächlich dürfte Corona das traditionelle «Sommerloch» – die nachrichten­arme Zeit von Anfang Juli bis Mitte August – heuer mehr als ausfüllen. Und auch der danach folgende Politherbst verspricht heiss zu werden. Seit längerem ist bekannt, dass die Schweiz am 27. September gleich über fünf Vorlagen abstimmt. Gestern nun hat der Bundesrat festgelegt, worüber die Stimm­bürgerinnen am 29. November zu entscheiden haben – mit der Konzern­verantwortungs­initiative und der Volks­initiative «Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterial­produzenten» kommen zwei sehr umstrittene Begehren an die Urne.

Damit zum Briefing aus Bern.

KMU und Selbstständige: Nun hilft der Bundesrat doch

Worum es geht: Nach wochen­langem politischem Ringen ist der Bundesrat gestern den direkt oder indirekt von den Pandemie-Bekämpfungs-Massnahmen betroffenen Selbstständig­erwerbenden entgegen­gekommen. Ihr Anspruch auf Corona-Erwerbs­ausfall­entschädigung war Ende Mai ausgelaufen – nun hat ihn der Bundesrat rückwirkend und bis zum 16. September verlängert. Neu können zudem in ihrer eigenen Firma angestellte Personen im Veranstaltungs­bereich, die sich in einer Härtefall­situation befinden, ebenfalls Corona-Erwerbs­ersatz beanspruchen

Warum Sie das wissen müssen: Gewerkschaften und linke Parteien hatten im vergangenen Monat lautstark gefordert, dass auch Selbstständige und KMU weiterhin vom Bund unterstützt werden. Zuletzt hatten sie deshalb gar eine ausser­ordentliche Parlaments­session noch vor der Sommer­pause gefordert: Am vergangenen Donnerstag lehnten die Büros von National- und Ständerat einen entsprechenden Antrag von 64 Nationalrätinnen von SP, Grünen und GLP jedoch ab. Den Druck auf den Bundesrat erhöhte zudem die Wirtschafts­kommission des Nationalrats, die in einem Brief eine Weiter­führung der Finanz­hilfen für KMU und Selbst­ständige forderte, bis die Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens aufgehoben würden. Gestern nun lenkte die Regierung doch noch ein.

Wie es weitergeht: Die Not der Selbstständig­erwerbenden wird durch den Bundesrats­beschluss gelindert. Und die Parlamentarier können in die Sommer­ferien verreisen. Eine ausser­ordentliche Session aber wird es dieses Jahr zumindest für die National­räte doch noch geben: Ende Oktober versuchen sie damit, den mehrtägigen Rückstand auf den Ständerat aufzuholen, den sie sich in der noch nicht einmal ein Jahr alten Legislatur bereits eingehandelt haben.

Bundesanwalt erhält ein weiteres vernichtendes Zeugnis

Worum es geht: Die Geschäfts­prüfungs­kommissionen (GPK) von National- und Ständerat haben ihre Untersuchung zum Verhältnis zwischen der Bundesanwaltschaft und ihrer Aufsichtsbehörde abgeschlossen. Der 65-seitige Zwischen­bericht in einem Satz: «Das Verhältnis zwischen diesen beiden Behörden ist stark gestört.»

Warum Sie das wissen müssen: Bundesanwalt Michael Lauber war einst der Star der Schweizer Strafjustiz, seit einiger Zeit ist er ihr Prügelknabe: weil er sich im Zusammen­hang mit Korruptions­ermittlungen im Fussball informell mit dem Fifa-Präsidenten traf, weil er weitere Treffen verschwieg, weil er sich mit der Aufsichtsbehörde überwarf. Eine Disziplinaruntersuchung der Aufsichtsbehörde stellte Lauber ein desolates Zeugnis aus (das er vor Bundes­verwaltungs­gericht anficht), die Gerichts­kommission der beiden Räte führt derzeit ein Amtsenthebungsverfahren, und nun haben auch noch die Geschäfts­prüfungs­kommissionen der beiden Räte ihren Bericht vorgelegt – der Lauber weiter schwächt. Sie kommen zum Schluss, dass viele Vorwürfe der Aufsichts­behörde zutreffen; die meisten Vorwürfe Laubers an die Aufseher hingegen nicht. Die Kommissionen prüften auch, ob das Vertrauen zwischen den beiden Behörden wieder­hergestellt werden kann. Ihr Fazit: Es kann nicht. «Der Versuch, das Verhältnis zu verbessern, muss als gescheitert betrachtet werden.»

Wie es weitergeht: Bundes­anwaltschaft und Aufsicht können bis im September Stellung zum Bericht nehmen. Die Geschäfts­prüfungs­kommissionen haben derweil Aufträge an externe Experten erteilt, die eine rechtliche Einordnung vornehmen und Verbesserungs­vorschläge für Bundes­anwaltschaft und Aufsichts­behörde machen sollen. Dann wollen die Kommissionen einen Schluss­bericht vorlegen.

Bund zur Personenfreizügigkeit: Schweizer Arbeitsmarkt profitiert

Worum es geht: Zugewanderte Arbeits­kräfte aus der EU machen den Arbeits­markt flexibler und stützen die AHV. Zu diesem Schluss kommt der Bund in seinem jährlichen Bericht zu den Auswirkungen des Freizügigkeits­abkommens zwischen der Schweiz und der EU.

Warum Sie das wissen müssen: Am 27. September stimmt die Schweiz über die sogenannte Begrenzungsinitiative der SVP ab. Gemäss den Initianten hat die Personen­freizügigkeit dazu geführt, dass ausländische Arbeits­kräfte die Löhne drücken und Einheimischen die Jobs wegnehmen. Beides widerlegt die Studie des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco). Zwischen 2008 und 2018 ist laut Seco das Lohnniveau sowohl von Schweizer Angestellten als auch von ausländischen Erwerbs­tätigen mit L- und C-Bewilligung gestiegen. Positiv hat sich die Zuwanderung auch auf die Arbeits­markt­flexibilität ausgewirkt. Arbeitskräfte aus der EU nehmen häufiger befristete Stellen an, leisten mehr Abend- oder Nachtarbeit und sind häufiger bei Firmen mit saisonal schwankender Nachfrage angestellt. Dort decken sie zunehmend die Löcher, die entstanden sind, weil sich viele Schweizerinnen auf Stellen konzentrieren, die höhere berufliche Qualifikationen verlangen. Nicht zuletzt stützt die Zuwanderung die AHV- und die IV-Renten: Laut Seco-Studie tragen die «ausländischen Staats­angehörigen massgeblich zur Finanzierung und Sicherung dieser Sozialwerke» bei.

Wie es weitergeht: Die Seco-Studie entkräftet einige Argumente der Befürworter der SVP-Initiative. Doch so oder so müssen sich diese in den letzten drei Monaten bis zur Abstimmung noch etwas einfallen lassen: Wie eine erste grosse repräsentative Umfrage zeigt, würden aktuell nur 29 Prozent der Stimmberechtigten Ja sagen.

Neues Tarifmodell: Ärzte und Kassen einigen sich nach langem Streit

Worum es geht: Schon lange ist unstrittig, dass Tarmed, der Tarif, mit dem Ärzte in Spitälern und Praxen ihre ambulanten Leistungen bei den Kranken­kassen abrechnen, überholt ist. Aber weil seit bald zehn Jahren erfolglos darüber gestritten wird, wie eine Nachfolge­regelung aussehen soll, ist das Tarifwerk immer noch in Kraft. Doch nun endlich haben sich der Kranken­kassen­verband Curafutura und die Ärzte­vereinigung FMH geeinigt, wie die NZZ schreibt.

Warum Sie das wissen müssen: Der Tarif ist wichtig, weil darüber jährlich Leistungen von 12 Milliarden Franken abgerechnet werden – das ist rund ein Drittel der Gesamt­kosten der Grund­versicherung. Somit hat der Tarif auch einen beträchtlichen Einfluss auf die Höhe der Kranken­kassen­prämien. Da das aktuelle Modell schon 16 Jahre lang gilt, ist unbestritten, dass es angepasst werden muss. Dass sich Ärzte und Kranken­kassen bisher nicht auf ein neues Modell einigen konnten, hat vor allem damit zu tun, dass gemäss Bundes­verordnung festgelegt ist, dass ein Wechsel nicht zu einem Kostensprung führen darf – was gar nicht so einfach ist. Mit dem neuen Modell, das sich Tardoc nennt, ist es nun aber offenbar zu verhindern gelungen, dass die Gesundheits­kosten steigen.

Wie es weitergeht: Der Krankenkassen­verband und die Ärzte­vereinigung gehen davon aus, dass der Bundesrat den Tarif noch dieses Jahr genehmigt. Sie wünschen sich aber, dass er erst 2022 in Kraft tritt, damit genug Zeit bleibt, die Systeme anzupassen.

Feier der Woche

Das Coronavirus hat uns in den letzten Monaten vieles weggenommen: Grosi-Ferien, Sommer­festivals, Partys, Umarmungen, Kurztrips über die Grenze – und manchmal auch unsere Gelassenheit. Damit haben wir uns weitgehend arrangiert. Was aber definitiv zu weit geht, ist die Tatsache, dass sie uns nun auch noch unsere 1.-August-Feiern wegnehmen wollen. Das zumindest findet die SVP, die sich nicht damit abfinden will, dass viele Gemeinden ihre Feiern abgesagt haben. Und die ihre Ortsparteien nun dazu aufruft, ein Ersatz­programm für die Bevölkerung zu organisieren. Denn: «Der 1. August ist der National­feiertag der Schweiz und soll trotz Corona gefeiert werden», findet SVP-General­sekretär Emanuel Waeber. Wäre ja gelacht.

Apropos gelacht: Auch unser Aussen­departement EDA organisiert offensichtlich ein Alternativ­programm für den 1. August, wie die «NZZ am Sonntag» berichtet. Statt der traditionellen Botschafts­empfänge für Ausland­schweizer mit Weisswein und Raclette soll es einen digitalen Austausch geben. Dabei kann man auf einer interaktiven Plattform zum Beispiel Rezepte für Wurst-Käse-Salat austauschen oder eine Anleitung zum Lampion­basteln herunter­laden. Das ist sicher gut gemeint, lässt uns aber trotzdem leicht deprimiert zurück.

Illustration: Till Lauer

In einer früheren Version fehlte noch der Hinweis, dass der Bund schon seit Wochen um die Gefährlichkeit von Clubs wusste.