Mehr Freiheit, mehr Vorsicht?
Die Schweiz lockert in Siebenmeilenschritten. Aber weniger Regulierung führt in der Regel nicht zu mehr Disziplin.
Von Daniel Binswanger, 30.05.2020
Es kommt zum Glück nicht alle Tage vor, aber ich muss diese Kolumne mit einer selbstkritischen Richtigstellung beginnen. Mea culpa! Erst vor einer Woche habe ich behauptet: «Wir werden die Schweden Zentraleuropas», aber diese Aussage ist offensichtlich nicht haltbar. Wir werden nicht die Schweden, wir werden die Überschweden. Die Schweden Faktor 6. Der neue Schweizer Lockerungsfuror legt ein Tempo an den Tag, das sich von den Skandinaviern schon ab nächstem Wochenende nichts mehr vormachen lässt. Unser Sonderweg ist unser Sonderweg.
In Schweden sind Bordelle auch ohne Covid illegal – bei uns öffnen sie nun mit «Schutzkonzept». In Schweden darf in Clubs nicht getanzt werden, bei uns gilt stattdessen eine 4-Quadratmeter-Regel. In Schweden dürfen bei Veranstaltungen wie Kino- oder Theatervorführungen nur 50 Menschen in einen Saal, bei uns liegt die Obergrenze neuerdings bei 300. Der Swiss Finish hat Faktor 6.
Sicherlich: Der Epidemieverlauf entwickelt sich vorderhand äusserst positiv in der Schweiz, die Fallzahlen sind inzwischen sehr tief – auch wenn die 32 Neuinfektionen von gestern Freitag ein erstes leises Fragezeichen setzen hinter die Dauerhaftigkeit dieses Zustands. Dass der Bundesrat die Lage momentan optimistisch beurteilt und den gewonnenen Spielraum jetzt für weitere Lockerungen ausnutzen will, dürfte dennoch im Grundsatz richtig sein.
Allerdings scheint nun alles immer noch schneller gehen zu müssen. Trotz der generellen Entspanntheit der Lage entsteht der Eindruck von Chaos und Widersprüchlichkeit. Was gilt nun wirklich? Was ist das Fundament der heutigen Eindämmungsstrategie? Viele Fragen machen die Situation noch verworrener.
Es beginnt damit, dass man auch beim BAG eigentlich nicht damit gerechnet hat, dass die Fallzahlen so schnell so tief absinken würden. Der ursprüngliche Plan war ja, die Neuansteckungen auf unter 100 pro Tag zu drücken und die kantonalen Tracing-Kapazitäten so weit auszubauen, dass bis zu einer Höhe von täglich 100 neuen Fällen die Behörden imstande bleiben würden, alle Kontakte zu identifizieren und die Ansteckungsketten weitgehend zu kappen. Über die letzte Woche haben sich die täglich gemeldeten Neuansteckungen jedoch im Durchschnitt bei rund 15 Fällen stabilisiert – die Kantone werden bei den Contact-Tracing-Kapazitäten noch erfreulich hohe Reserven haben.
Das Contact-Tracing selber leistet sicherlich einen Beitrag zum Rückgang der Ansteckungen – wie hoch er allerdings genau ist, wird weiterhin im Dunkeln bleiben, weil ein guter Teil der Infektionen auch heute nicht erfasst werden dürfte. Daniel Koch hat am letzten Montag noch einen anderen potenziellen Faktor ins Spiel gebracht, der erklären könnte, weshalb die Fallzahlen so erfreulich rasch gesunken sind: die sogenannte Saisonalität. Sollten tatsächlich die steigenden sommerlichen Temperaturen für eine Verlangsamung der Covid-Ausbreitung verantwortlich sein – was plausibel, aber vorderhand nicht erwiesen ist –, wäre das für die kommenden Wochen eine grossartige Nachricht: ein spontaner weiterer Rückgang der Epidemie wäre vorprogrammiert. In quasi symmetrischer Manier wäre es jedoch eine schlechte Nachricht für den kommenden Herbst. Das Terrain, das wir heute gewinnen, drohte bei sinkenden Temperaturen wieder verloren zu gehen und die Gefahr einer zweiten Welle entsprechend zu wachsen.
Widergespiegelt wird die Ambivalenz der Lage auch durch den sich ganz und gar nicht beruhigenden Experten-Widerstreit. Auf karikaturale Weise machte er sich bemerkbar, als am Mittwoch auf dem Onlineportal des «Tages-Anzeigers» sowohl ein Artikel mit dem Titel «Zweite Welle könnte bis zu 5000 Todesopfer fordern» als auch einer mit der Überschrift «Es wird keine zweite, flächendeckende Welle mehr geben» erschien. Ersterer beruht auf einem Szenario, das von ETH-Maschinenbauern modelliert worden ist – und das die Schweizer Epidemiologen als eher erratischen Beitrag zur Debatte betrachten.
Der zweite Beitrag ist ein Interview mit dem ausgewiesenen Public-Health-Experten Marcel Tanner. Zu Recht wies Tanner darauf hin, dass Hygienemassnahmen weiterhin strikt eingehalten werden müssen und dass es auf dieser Basis gelingen sollte, aufflammende Infektionsherde mit lokalen Gegenmassnahmen in den Griff zu bekommen. Einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Hygienedisziplin hat Tanner vermutlich aber nicht geleistet, indem er die Möglichkeit einer zweiten Welle völlig apodiktisch auszuschliessen schien.
Genau hier liegt das Grundproblem der neuen Lockerungsschritte: Der Bundesrat prescht jetzt mit Vollgas vor, um Kulturveranstaltungen, Clubs, Erotikdienstleistungen, demnächst vielleicht sogar Fussballstadien dem breiten Publikum wieder zugänglich zu machen. Ermöglicht werden sollen diese Öffnungsmassnahmen jedoch durch die möglichst strikte Einhaltung der Abstandsregeln. Je liberaler das Regime, desto wichtiger die Hygienedisziplin. Das ist theoretisch nachvollziehbar, in der Praxis aber ein fundamentaler Widerspruch: Die Lockerung der Veranstaltungsverbote wird kaum zu stärkerem Social Distancing führen. Die verblüffende Schweizer Maskenabstinenz demonstriert eindrücklich, dass grössere Eigenverantwortung ganz und gar nicht mit grösserer Disziplin einhergehen muss. Wahrscheinlicher erscheint die gegenteilige Entwicklung: Wenn fast alles wieder erlaubt ist, dürften sich die Leute auch wieder fast normal verhalten.
Bis in die Covid-Verordnung hinein zieht sich dieses Paradox: ein rekordverdächtig unklarer Gesetzestext. Man nehme die Regulierung für Clubs. Einerseits müssen die Abstandsregeln eingehalten werden, andererseits kann man, wenn für ein allfälliges Contact-Tracing die Identität aller Besucher aufgenommen wird, auch Ausnahmen machen. Aber Achtung! Identitätsaufnahme darf die Abstandsregeln nicht ersetzen, und im Zweifelsfall können Clubbetreiber haftbar gemacht werden. Schutzkonzepte müssen zudem nicht bewilligt werden, aufgrund mangelnder Schutzkonzepte können Clubs jedoch geschlossen werden. Als neue Social-Distancing-Maxime scheint zu gelten: Ausnahmen sind grundsätzlich völlig zulässig und grundsätzlich absolut unerwünscht.
Der Bundesrat hat offiziell angekündigt, dass er sich aus dem «Mikromanagement» der Schutzkonzepte zurückziehen will. Man kann gut nachvollziehen, dass er keine Lust hat, sich mit diesen Widersprüchen herumzuschlagen. Generell dürfte es politisch die Strategie sein, die Verantwortung immer mehr an die Kantone zu delegieren, auch deshalb, weil künftige Infektionsherde ja primär lokal eingedämmt werden sollen.
Man hätte sich auch eine Landesregierung vorstellen können, die glasklare Rahmenbedingungen setzt und dadurch das Aufrechterhalten von Hygienestandards begünstigt. In der Schweiz scheint dieser Weg jedoch nicht gangbar zu sein. Wir werden also normalisieren. Mit extremem Tempo, mit diffusen Zuständigkeiten, in juristischen Grauzonen. Solange jedenfalls, bis die Fallzahlen wieder steigen.